Ursula Reinhold

Schwindende Gewissheiten


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Und nun zögerten die Eltern den Umzug hinaus, es fiel ihnen schwer, sich von ihrem selbstgebauten Domizil zu trennen, in dem sie drei Jahrzehnte gelebt hatten. Man freute sich zwar auf Bad und warmes Wasser, das mit einem Durchlauferhitzer erzeugt wurde. Frische Luft und Garten würden ihnen fehlen, meinte die Mutter. Niemals würde in Geld aufgewogen werden können, was sie an Mitteln und Kraft in den Bau der Laube gesteckt hatten, kommentierte der Vater die Verhandlungen mit dem Vereinsvorstand um den Verkauf. Den Schätzpreis von dreitausend Mark nannte er einen Gefälligkeitspreis für den Sohn des Vereinsvorsitzenden, der auf die Laube reflektierte. Er hatte es geahnt, man würde ihn über die Löffel barbieren, sagte er bitter. Es schien ihn in seiner Meinung über die korrupte Vereinsclique zu bestätigen.

      Endlich war der Umzugstermin festgesetzt. Gisela und Johannes nahmen die Wohnung schon einige Wochen vor den Eltern in Besitz. Von ihrem gerade verdienten Geld kaufte sie Möbel für das kleine Zimmer. Johannes begleitete sie bei diesen Erwerbungen, achtete darauf, dass die Möbel auch ihm gefielen. Er riet zu einer breiten Liege, die die ganze Stirnseite des Zimmers einnahm und den Zugang zum Fenster verstellte. Zwar hatte Gisela eher an etwas Kombiniertes zum Sitzen und Schlafen gedacht, aber sie wollte schließlich immer nur das, was er wollte. Er bewohnte das Internatszimmer nur selten, schlief mit ihr jetzt hier.

      Sie gewöhnte sich schnell an das nächtliche Beieinandersein. Still lag sie in seinen Armen, überließ sich ihm ohne eigenen Willen. Gemeinsam gingen sie früh zur Arbeit, tagsüber saß er meist in ihrem Lesesaal, las und schrieb und kam zu ihr, wenn sie sich allein wähnten, um sie zu küssen und sich zu er-kundigen, was dieser oder jener von ihr gewollt hatte. Sie fühlte sich immer etwas müde, ein leichtes Schwirren im Kopf, eine leise Benommenheit veränderten alles Wirkliche um sie herum. Sie nahm ihre Umwelt wie durch einen Schleier wahr. Aus dieser Empfindung schreckten sie Unmutsäußerungen der Eltern, bei denen sie erst gegen Mittag erschienen, um beim Umzug zu helfen. Sie hatten auf Johannes gerechnet, der beim Aufladen der Möbel helfen wollte. Jetzt hatten sie es zum großen Teil schon allein erledigt. Während Gisela die Sache peinlich war, schien Johannes nichts zu bemerken.

      Auch die Unmutsäußerungen von Giselas Kolleginnen interessierten ihn nicht. Sie schienen Anstoß daran zu nehmen, dass Johannes den ganzen Tag bei ihr im Lesesaal saß. Gisela hörte sie tuscheln, schnappte spitze Worte auch von der freundlichen Anni auf, die sie aufscheuchten. Die war jetzt viel seltener gesprächsbereit. Gisela bemerkte, dass sie sich von den Kolleginnen isolierte. Als sie mit Johannes darüber sprach, bestärkte der sie darin, dass es die anderen nichts anginge, was sie miteinander taten. Nur ihre Arbeit, die solle sie auf keinen Fall schleifen lassen, riet er ihr nachdrücklich. Ein leises Unbehagen blieb bei ihr. Aber sie wollte mit Johannes übereinstimmen, ihm nah sein und war bereit, dafür einen Preis zu zahlen.

      In der ersten Woche des neuen Jahres 1960 verbrachten sie einen kleinen Urlaub im Erzgebirge. Er wollte ihr ein weiteres Stück seiner sächsischen Heimat zeigen. Nach kurzer Station in Freital, bei seinen Eltern, fuhren sie nach Altenberg. Sie sah das erste Mal diese hügelige, weiße Landschaft und empfand die Ruhe, die sie ausstrahlte. Johannes war ihr bei den Skitouren stets um Meter voraus. Er fuhr mit eigenen Brettern, die er seit früher Jugend unter den Füßen hatte und gab Anweisungen, wie Schneepflüge und Bögen zu fahren waren. Die schnellen Abwärtsfahrten machten ihr Angst, sie lag oft im Schnee. Johannes, der zuerst das Tal erreichte, schaute ihr entgegen, kommentierte die Fehler. Er hatte als Neulehrer auch seinen Schülern die Grundlagen dieses Sports erklärt, mit Erfolg, wie er betonte. Sie sei ein ziemlich schwieriger Fall, aber es würde schon werden. Gisela litt unter ihrer Schwerfälligkeit, die sie bisher an sich nicht bemerkt hatte, spürte, wie die sich unter seinen kritischen Blicken verhedderte. Als sie ihn bat, nicht auf alles zu achten, unterließ er seine Unterweisungen. Er fuhr jetzt weit voraus, ohne sich umzuschauen.

      Zu diesem Zeitpunkt ahnte sie noch nicht, dass sie bereits in andere Umstände gekommen war. Es wurde ihr erst einige Wochen später klar, als sie schon wieder im Lesesaal arbeitete. Johannes drang auf eine schnelle, jeden Zweifel ausschließende Untersuchung. Als sich bestätigte, was sie schon wusste, sagte er kurz: „Da hab ich nicht aufgepasst!” Diese Worte lösten Er-staunen bei ihr aus, hatten sie doch mehrmals über ein Kind gesprochen. Ein solcher Wunsch war ihr ganz plötzlich gekommen. Sie wollte, dass ihre Umarmung, ihre Lust nicht ohne Folgen blieb. Sie erhoffte sich einen Anker in ihm, wenn sie etwas von ihm in sich trug. Seine Worte jetzt verrieten ihr, dass ihr Wünschen doch irgendwie verschieden war.

      Er freue sich auf die Tochter, meinte er, und nach kurzem Besinnen fügte er hinzu oder den Sohn.

      Die Mutter bekam ein stilles Lächeln um den Mund, als sie von Giselas Schwangerschaft erfuhr. „Wird schon gut gehen“, sagte sie in ihrer lakonischen Art und erklärte den Junge-oder-Mädchen-Streit für überflüssig. „Hauptsache, es wird keen Affe nicht“, fügte sie lachend hinzu. Gisela gab dem werdenden Wesen den Namen Schlabumster, männlich wie weiblich zu gebrauchen. Sie wusste nicht, woher er ihr gekommen war, er verschwand mit der Geburt des Kindes. Während der Zeit der Schwangerschaft bürgerte er sich zwischen ihnen ein.

      So begann das Jahr 1960 für sie mit einer großen Erwartung auf Kommen-des. Sie lebte in dem Gefühl, das wirkliche Leben vor sich zu haben. Sie wusste damals nicht, dass dieses Jahr später zum „Jahr der afrikanischen Unabhängigkeit” erklärt werden würde, weil 16 afrikanische Staaten die Ketten ihrer kolonialen Abhängigkeit zerbrachen. Wenn sie es gewusst hätte, dann hätte sie ihre hoffnungsvolle Erwartung auch mit diesem antikolonialen Aufbruch in Beziehung gebracht. Denn so, wie in Afrika die Völker die Geschicke in die eigenen Hände nahmen, war auch sie dabei, ihr Leben zu gestalten.

       Aufbruch

      Zu Beginn des Jahres hielt das führende Politbüromitglied Kurt Hager im Großen Hörsaal in der Taubenstraße, im ehemaligen Bankgebäudes Hardy & Co., eine Rede. Gisela war zu der Veranstaltung nicht zugelassen, weil sie der führenden Partei nicht angehörte. Herr Kobus vermittelte in der Dienstbesprechung, worum es ging. Er sprach von der Notwendigkeit, den dialektischen Materialismus noch besser als Kompass für das gesamte Leben zu nutzen. Er forderte dazu auf, die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung zu analysieren und zu sehen, dass diese unabdingbar zum Sozialismus hinstrebe. Auch Johannes sprach zu ihr darüber, wie er sich den neuen Anforderungen stellen würde, die vor ihm als Philosoph standen. Er musste sich auf die Thematik seiner Dissertation konzentrieren, würde die philosophischen Grundlagen der Friedenspolitik ausarbeiten. Damit könne diese noch erfolgreicher weitergehen. Die Arbeit würde er planmäßig abschließen, sonst drohe ein Parteiverfahren. Das hatte er auf der Parteischule erlebt, es dürfe sich nicht wiederholen. Er sprach mit großer Ernsthaftigkeit, aus der Gisela entnahm, wie wichtig ihm die Sache war. Sie nahm sich vor, ihn zu unterstützen, wollte seine Arbeit auf keinen Fall behindern. Es interessierte sie, womit er sich zu beschäftigen hatte. Er war dabei, dem Charakter unserer Epoche auf die Spur zu kommen, die ganz und gar unvergleichlich war, wie er ihr gegenüber betonte. Darin folgte sie ihm unbedingt, denn, dass mit ihnen hier etwas Neues, Nicht-da-Gewesenes begann, spürte sie schon, wenn sie in sich hineinlauschte.

      Sie würde ihm eine Bibliographie zu seinem Thema zusammenstellen. Dabei sah sie sich allerdings unerwarteten Schwierigkeiten gegenüber. Die Begriffe, mit denen sie es hier zu tun hatte, waren im Verständnis ihres Lehrers, der ihr die Grundregeln zur Systematisierung wissenschaftlicher Disziplinen beigebracht hatte, nicht vorgekommen. In ihren Aufzeichnungen fand sie als philosophische Stichworte Erkenntnistheorie, Ethik, Geschichte der Philosophie, Logik und Naturphilosophie. Es war kein Begriff darunter, der irgendwie an „Epochenproblematik” erinnerte, so hatte Johannes sein Thema für sie in Kurzform gebracht. Auch der große Brockhaus von 1932, in den sie trotz Johannes´ Warnung schaute, führte nicht weiter. Ein einziger Satz stand hinter dem Wort Epoche, das auf seinen griechischen Ursprung zurückgeführt wurde: „Der Zeitpunkt eines Ereignisses, von dem eine Zeitrechnung oder Ära ausgehen kann“, stand da zu lesen. Das hieß, dass es unterschiedliche Vorstellungen von epochalen Ereignissen geben konnte. Diese Entdeckung gefiel ihr nicht, sie wollte in ihrem Bild von der Welt, sich und ihre eigene Bedeutung bestätigt finden. Deshalb hielt sie sich an das, was Johannes ihr sagte. Er nannte ihr Autorennamen, sie suchte deren Bücher, die sich mit der Rolle der Technik beschäftigten. Einige dieser Bücher malten ein düsteres