Ursula Reinhold

Schwindende Gewissheiten


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und sie verlor ihre mädchenhafte Figur. In den ersten Monaten der Schwangerschaft nahm sie die Veränderungen mit Beklommenheit wahr. Sie fürchtete sich vor den Reaktionen der Kolleginnen, für die ihre Verlassenheit dann offen zutage liegen würde. Es erleichterte sie, dass alle behutsam mit ihr umgingen, teilnehmend waren, die Männer ihr Komplimente über ihre neue Fraulichkeit machten. So konzentrierte sie sich auf ihr Inneres, registrierte jede Bewegung, die an verschiedenen Stellen ihres Bauches deutlich wahrnehmbar war. Gab es Ausbuchtungen, stellte sie sich vor, dass ihr Schlabumster jetzt mit den Füßen strampelte oder mit den Fäusten gegen die Hülle trommelt. Morgens und abends machte Gisela Gymnastik, mit der sie sich auf eine schmerzarme Geburt vorbereitete. Sie hatte dazu einen Kursus besucht, las Anleitungen und übte die Bauchatmung, mit der sie auf dem Boden liegend den Geburtsvorgang beeinflussen würde. Sie lernte zu hecheln, um die für sie noch ungekannten Presswehen hinauszuzögern, den Geburtsvorgang nicht zu unrechter Zeit einzuleiten. So hatte man es ihr beigebracht und sie war entschlossen, sich danach zu richten, wollte alles richtig machen. Auch auf die Babypflege bereitete sie sich vor und nähte sich einen Rock und zwei Umstandskleider. Die Erwartung des kommenden Ereignisses brachte ihr das Gefühl fürs Gegenwärtige zurück. Tage und Wochen waren gezählt, mussten für das Bevorstehende genutzt werden. Manchmal nur überkam sie das Gefühl verlassen zu sein. Die Sehnsucht nach Johannes war längst dieser anderen Sehnsucht in ihr gewichen.

      In den Tagen nach seiner Abreise galt ihr erster Blick am Abend der Anrichte, auf die die Mutter Johannes’ Briefe legte. Dort fand sie beinahe täglich einen. Es waren kleine Kunstwerke, sieben bis zehn Seiten waren nicht ungewöhnlich. Drei Zeilen nahmen schon die Anreden ein, die zärtlichen und mutwilligen Namen, die er für sie erfand. Auf immer neue Weise beteuerte er ihr seine Liebe, beschrieb ihr seine große Sehnsucht, schwärmte von ihrem süßen Leib. Auch widmete er sich dem Thema Treue, schrieb mit großer Ernsthaftigkeit, ja Pathos über solche Dinge. Daneben gab er Berichte über seine Arbeit, den Fortschritt seiner Russischkenntnisse, über Moskau und seinen tadschikischen Zimmergenossen. Nachdem sie mehrere Monate hindurch solche Briefe gelesen hatte, gewöhnte sie sich an sie. Die Worte begannen sich zu wiederholen, sie las sie jetzt flüchtiger. Auch hatte sie nicht mehr das Bedürfnis, jeden Brief zu beantworten. Sie wusste nicht, was sie ihm täglich berichten sollte, ließ mehrere Tage vergehen, bis sie ihn über die neuesten Regungen ihres Schlabumster, über Einzelheiten ihrer Vorbereitungen für das Kind unterrichtete. Er beschwerte sich, beschrieb, welche Bedeutung für ihn der abendliche Brief an sie hatte, ließ sie an seinen Träumen von Liebesnächten teilhaben.

      Ihre Träume richteten sich auf das zu erwartende Kind. Manchmal waren es Alpträume. Sie stürzte auf ihren vorspringenden Bauch oder man verfolgte sie. Ein Traum, der sie in Variationen seit ihrer Kindheit heimsuchte. Einmal sah sie in einen Kinderwagen, in ihren eigenen und der war leer. Über diesen Schreck wurde sie wach. Wie häufig, wenn sie über einem schlimmen Traum erwachte, drückte ihre Leibesfrucht auf die Blase oder lag so ungünstig auf einem Nerv, dass sie nur schwer aus dem Bett kam. Nach einigen Bewegungen verging das. Wenn sie Johannes über solche Beschwernisse berichtete, dramatisierte er solche Dinge, bedauerte sie heftig und gab ihr so das Gefühl, dass sie sich bemitleiden lassen oder unangemessen aufspielen wolle. Wenn er in seinen Briefen aus der Sadovo Kudrinskaja darauf reagierte, war die Sache für sie schon vergessen, unter die Normalitäten des Alltags abgebucht.

      Deshalb besprach sie solche Dinge lieber mit der Mutter, die von ihnen kein besonderes Aufheben machte. Gisela ging an den Sommerwochenenden mit den Eltern in den Garten, den sie noch immer hatten, obwohl er längst verkauft sein sollte. Der Verkauf war durch den Einspruch des Vaters gegen den Schätzpreis verzögert worden. Natürlich hatte er sich damit den Unmut der Vereinsoberen zugezogen. Es machte ihm wenig aus, er war einfach nicht gewillt, sich von denen über die Löffel barbieren zu lassen. Die Mutter schien über die Verzögerung nicht unfroh zu sein, weil sie noch die Beete bestellen konnte, den beginnenden Sommer im Garten verbringen. Nur schwer trennte sie sich davon.

      Gisela ging durch den kleinen Garten, sammelte erste reife Erdbeeren, roch an den Lilien und sprach mit früheren Spielgefährtinnen, wenn die eine oder andere vorbeikam. Es hatten auch andere Familien eine Neubauwohnung bekommen und man sah sie nur noch an den Wochenenden. Sie erfuhr bei solchen Gesprächen, welche ihrer Kinderfreundinnen schon verheiratet war oder ein Kind erwartete wie sie. An einem dieser warmen Sommersonntage begann die Mutter unvermittelt ein Gespräch, auf das Gisela so gar nicht gefasst war. Während sie im Liegestuhl saß, an einem Umstandsrock die letzten Handarbeiten erledigte, saßen Vater und Mutter ihr gegenüber auf Gartenstühlen. Während die Mutter heranrückte, sagte sie zur Tochter hin: „Was ich dir schon lange sagen wollte! Wenn du nicht heiraten willst, musst du dir auch keine Sorgen machen. Dein Kind wird auch so groß.“ Der Vater ließ die Zeitung sinken, schaute auf die Frau, dann auf die Tochter, nickte bestätigend mit dem Kopf, hatte offensichtlich nicht die Absicht, sich in das Gespräch einzuschalten. Als Gisela zur Mutter hinsah, bemerkte sie, dass es der schwerfiel, über dieses Thema zu sprechen. In den ersten Wochen nach Johannes’ Abreise hatte sie die Tochter bei der Schulter genommen, ihr Mut zugesprochen. „Freu dich auf das Kind, gräme dich nicht. Das bekommt deinem Baby nicht.“ Durch Fürsorge und Aufmerksamkeit stützte sie die Tochter, die das aber erst bemerkte, nachdem sie wieder offene Augen für ihre Umgebung hatte. Trotz dieser wohltuenden Fürsorglichkeit hatte Gisela nicht den Wunsch, mit der Mutter über ihre innersten Regungen zu sprechen. Sie fürchtete die Lakonie, ja den Sarkasmus, mit dem die Mutter auf Gefühlsdinge reagierte. Gereimte Sprüche, wie „Liebe macht blind, frisst Rotz und Grind“, verrieten ihr, dass es ratsam war, ihren Schmerz zu verbergen. Auch sprach die Mutter niemals über eigene Gefühle. Wenn sie auf die Abtreibungen zu sprechen kam, die sie ohne zureichenden medizinischen Beistand an sich vorgenommen hatte, klang Bitterkeit und Schrecken aus ihren Berichten. Gisela hatte schon öfter daran gedacht, dass sie ihre Geburt wohl dem strikten Abtreibungsverbot der Nazi-Zeit verdankte. Es fand sich kein Arzt mehr, der solche illegalen Eingriffe vornahm. Ihre Berichte beendete die Mutter mit kurzen herben Sprüchen, die die Tochter mit leichtem Erschrecken anhörte. „Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang“, war einer dieser Kernsätze.

      Nach einer Weile des Schweigens sagte die Mutter zu Gisela: „Ich sage dir das, damit du weißt, du kannst mit deinem Kind bei uns wohnen, so lange du willst und du musst nicht eine Ehe schließen, die du vielleicht bereust.” Gisela nickte dazu nur, sie konnte nichts erwidern. Wollte die Mutter über ihre Beziehung zu Johannes mit ihr sprechen? Wollte sie sie auf kommende Enttäuschungen vorbereiten? Sie wartete angespannt, aber es kam nichts weiter, weder vom Vater, der genickt hatte, noch von der Mutter. Sie schien keine Antwort zu erwarten, ließ sich vom Vater ein Stück der „Wochenpost“ geben, in deren Gerichtsbericht sie sich vertiefte.

      Es tat Gisela gut zu wissen, dass sie auf die Hilfe der Eltern rechnen konnte. Eigentlich hatte sie es auch nicht anders erwartet. Konventionelle Bedenken gegen eine ledige Mutter waren in ihrer Familie niemals laut geworden. Die Mutter hatte den um zehn Jahre älteren Bruder von Gisela unverheiratet zur Welt gebracht. Sie selbst hatte keine Eltern mehr, die sich kümmern konnten, sondern stand ganz allein. Über die Rolle, die der Vater damals gespielt hatte, äußerte sie sich nicht so genau. Einmal ließ sie Gisela wissen, dass der noch ein richtiger Kindskopp gewesen, es zum Teil auch geblieben sei. Den Bruder hatte sie in einer Hebammenlehranstalt in Neukölln zur Welt gebracht. Dort musste sie die Entbindungskosten als Hausmädchen abarbeiten, blieb dort vom siebten Schwangerschaftsmonat bis das Baby ein viertel Jahr alt war. Wöchnerinnen betreuen und die Station säubern, gehörte zu ihren Aufgaben, bis sie selber ihr Kind bekam. Ein paar Pfennige, die sie für die Muttermilch bekam, die ihr Kind nicht brauchte, war das Kapital, mit dem sie dann zu Schwester Lucie in die Kellerwohnung des Vaters zog, der inzwischen gestorben war. Abwechselnd trugen die Schwestern die „Berliner Morgenpost“ aus, versorgten nebenbei das Baby. Dessen Vater war auf der Walze, fand Arbeit im Ruhrgebiet. Dort musste er sich ein Bett mit einem Kumpel teilen, der die entgegengesetzte Schicht wie er selbst hatte. Nach einem halben Jahr kam er zurück, wollte nun mit der Mutter ein Nest bauen. So stand es jedenfalls in einem Brief, den Gisela irgendwann gefunden und in ihrer Neugierde gelesen hatte. Aber in Berlin fand der Vater keine Arbeit, auch in die Kellerwohnung konnte er nicht ziehen. Da hörten sie durch Zufall von der Laube. Das Geld für den Kauf borgten sie von Vaters Eltern, die streng auf Rückgabe sahen, denn auch sie hatten nicht viel. Wenn Gisela an das Leben der Mutter