Ursula Reinhold

Schwindende Gewissheiten


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denen und die lachten, meinten, sie hätten nichts anderes erwartet. Er bemühte sich auch um Giselas Verwandte, lobte die vielen praktischen Dinge, die sie aus Westberlin mitgebracht hatten.

      ”Du hast dich verkühlt“, meinte die Mutter, als Gisela wenige Tage danach über Stiche in der Brust klagte. Sie hatte die Tochter vor dem ausgeschnittenen Kleid gewarnt, in dem die sich unbedingt zeigen wollte. Zum Abend hin wurde der Schmerz heftiger, zog den Arm hinunter, Gisela fieberte. Es war der Beginn einer langwierigen Brustentzündung, die mit auf- und abklingenden Fieberanfällen verbunden war. Das Stillen war die Tage zuvor schon schwieriger geworden, Ingolfs zahnloser Gaumen hatte die Brustwarzen blutig durchgebissen. Wenn er den ersten Appetit gestillt hatte, schlief er an ihrer Brust ein, fühlte sich offensichtlich wohl. Wollte sie ihm die entziehen, wurde er wach, sog wieder und Gisela brachte es nicht fertig, ein Ende zu machen. So waren ihre Brustwarzen immer wunder geworden. Aber der neue Schmerz rührte von versetzter Milch her, bestätigte ihr ein alter Hausarzt, zu dem sie ging. Er empfahl weiter zu stillen, die wunde Brust sollte sie einstweilen auslassen. Das Kind brauche Muttermilch, meinte er und bestätigte damit, was Gisela auch von der Mutter wusste.

      Als der Arzt die Stelle mit der versetzten Milch aufschnitt, war Johannes längst schon wieder in Moskau. Er musste seine Termine dort einhalten, die Krankheit seiner Frau würde man dabei nicht gelten lassen. Sie lag fiebernd im Bett, als er sich über sie beugte, um sich zu verabschieden. „Ich kann dir ja hierbei ohnehin nicht helfen“, meinte er und sie bestätigte durch Kopfnicken seinen Entschluss. Eine schwache Erinnerung an das, was sie schon vor Monaten erlebt hatte, stieg in ihr auf. Sie wich sofort der Mattigkeit, in der sie für Wochen zurückblieb.

       Weitere Aussichten

      Erwartungsfroh ging sie nach ihrer Genesung wieder zur Arbeit. Im Lesesaal war viel Arbeit liegengeblieben, weil sie nur notdürftig von einer Kollegin vertreten worden war. Sie sah, man brauchte sie hier, freute sich über ihre Rückkehr. Ihren Jungen wusste sie bei der Mutter in guten Händen. Die blühte auf, seitdem sie ihn versorgte. Abends erzählte sie von den kleinen Veränderungen, die nun täglich zu beobachten waren. Sie holte Gisela mit dem Kind im Wagen vom S-Bahnhof ab. Es gab dann große Freude bei beiden, denn der Kleine reagierte jetzt schon auf seine Umwelt. Gisela machte das Babybad und fütterte den Kleinen. Er quietschte und jauchzte bei ihren Späßen, wenn sie ihn ins Bett trug. Wenn er endlich schlief, war sie erleichtert. Sie ordnete noch die Sachen für den nächsten Tag, schaute die Babywäsche durch und griff nach einem Buch. Es gab so vieles, was sie lesen, was sie wissen wollte, was sie interessierte. Unsystematisch griff sie nach Verschiedenem und legte es auch wieder aus der Hand.

      In ihrer Arbeitsstelle gab es Veränderungen, die sie erst langsam mitbekam. Irene war nicht mehr da. Sie hatte gekündigt, arbeitete in einer anderen Bibliothek. Früher oder später hätte man ihr ohnehin nahegelegt zu gehen, er-klärte sie Gisela bei einem kurzen Besuch. Ihr Achim hatte doch die Arbeit bei Siemens, gehörte zur Kategorie der Grenzgänger. Irene zog dieses Wort beim Sprechen in die Länge, wiederholte, dass er dort doppelt soviel verdiente wie bei Sekura, seinem alten Betrieb, obwohl er nur 30 % in West bekommt, fügte sie hinzu. Sie wollten heiraten, eine Wohnung einrichten, brauchten das Geld. Außerdem passte ihr in diesem Gewi-Institut nicht, dass man mit den Wölfen heulen müsse und man ihr vorschreibe, was sie zu denken habe. Gisela wunderte sich über die Worte der anderen, weil sie nicht wusste, mit welchen Wölfen Irene heulte und was man ihr vorschreibe in der Bibliothek. Sie empfand die Beklemmung nicht, unter der die Freundin so offenkundig litt, war einfach froh, sich von den Kollegen hier angenommen und anerkannt zu wissen. Ein bisschen fehlte ihr die Gefährtin. Sie hatte niemanden mehr, mit dem sie herumalbern und lästerliche Reden über diese und jene Gewohnheit der anderen führen konnte. Sie verwand es aber, verlor Irene bald aus den Augen.

      In der Dienstbesprechung erläuterte Herr Kobus ein neues Dokumentations- und Informationssystem, das jetzt entstehen sollte. Ein neuer Leiter werde kommen, schon in der nächsten Woche. „Meine Zeit hier ist abgelaufen“, meinte er einsilbig. In der folgenden Woche schon stellte sich Freimut Wirker als der neue Chef vor. Er führte sich als Freund der Jugend bei ihnen ein, so wie Gisela ihn schon aus der FDJ-Gruppe kannte. Seine Arbeit zur Geschichte der Freien Deutschen Jugend würde er bald mit einem Diplom ab-schließen, die neue Funktion hier bei ihnen übernehmen und ein leistungsfähiges Informationszentrum aufbauen. Er sprach mit durchdringender Stimme, legte Pathos in seinen Tonfall, so dass seine Rede den kleinen Sitzungsraum ganz und gar erfüllte. Von den großen politischen Weltereignissen kam er schnell zu den Verhältnissen in ihrer Bibliothek. Sprach über die Ermordung Lumumbas, über die Heimtücke der imperialistischen Täter und betonte, dass all das den endgültigen Sieg der gerechten Sache in der Welt nicht aufhalten könne. Auch sie hier in der DDR würden daran mitarbeiten, denn sie befanden sich hier an einer wichtigen, höchst gefährdeten Nahtstelle. Er zog die letzte Plenartagung heran, berief sich auf Worte des führenden Genossen, sprach vom Aufschwung marxistisch-leninistischer Theorie, die der besseren Kenntnis gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze voranzugehen habe. Konsequenzen für ihre Arbeit in der Bibliothek kündigte er an. Der Bibliotheksbestand sollte in sechs kleine Handbibliotheken aufgeteilt werden. Außerdem sollte die bibliographische Abteilung erweitert werden, um mehr Auskunftsmittel zur Verfügung zu stellen.

      Gegen den Plan, den Bibliotheksbestand in Handbibliotheken bei den Lehr-stühlen aufzusplittern, hatte sich Herr Kobus gewehrt. Er war nun nicht mehr hier, aber seine Stellvertreterin Traude Heim übernahm seine Rolle, warnte vor dem entstehenden Chaos, der Gefahr, dass die Bücher nach und nach verschwinden würden. Darauf entgegnete ihr der neue Chef, sie argumentiere vom rein bibliothekstechnischen Standpunkt, begriffe nicht, dass es um andere Beträge jetzt ginge, um eine erhöhte Effektivität wissenschaftlicher und agitatorischer Arbeit. Auch Anni und Edith pflichteten Traude bei, nannten das Vorhaben eine Irrsinnsaktion, während Helga, bemüht, ihrer Verantwortung als Parteiverantwortliche gerecht zu werden, den neuen Chef unterstützte. Dabei brachte sie ins Spiel, was Albert, ihr Mann aus dem großen Haus überbracht hatte. Es waren die gleichen Worte, die auch Wirker benutzte. Gisela hörte zu und schwieg. Sie konnte keine Meinung äußern, weil sie keine besaß. Einige ihrer Beobachtungen entsprachen dem, was die anderen anführten. Auch sie hatte erlebt, wie schnell Bücher verschwanden, verstellt oder mitgenommen wurden, mit mehr oder weniger böser Absicht. Man musste höllisch auf sie aufpassen. Aber wenn die Veränderung einem höheren Prinzip dienen sollte, war sie schon bereit, daran mitzuarbeiten. Warum nicht, man würde sehen, wie es lief, sagte sie sich und belächelte etwas die Vehemenz, mit der Traude gegen die Sache anredete. Dabei gestikulierte die mit Händen, hatte rote Flecke im Gesicht, die sie nicht schöner machten.

      Wochen später brach ein großes Tohuwabohu in der Bibliothek aus. Für einige Zeit konnten die Bücher gar nicht benutzt werden. Alle Mitarbeiter räumten Bücher aus dem Kellergeschoß in den zweiten, dritten und vierten Stock, wo die Handbibliotheken eingerichtet wurden. In den Katalogen mussten die Zettel gezogen und die neuen Standorte der Bücher vermerkt werden. Sie alle waren in eingestaubte blaue Kittel gehüllt, liefen den ganzen Tag mit aufgekrempelten Ärmeln umher, transportierten Bücher. Während dieser Arbeit bereute Gisela ihre indifferente Haltung beim Streit um die Standorte, war sich aber nicht sicher, ob ihre Meinung etwas geändert hätte. Immerhin hielt die Mehrzahl der Bibliotheksmitarbeiter das jetzige Tun für überflüssig. Helga Pietsch half nur selten, war meist in wichtigeren Angelegenheiten unterwegs.

      Das Durcheinander ließ auch Giselas wohlgeordneten Lesesaal nicht aus. Wichtige Fachlexika und Nachschlagewerke wurden entnommen, wanderten in andere Räume. Traurig blickte sie auf die Lücken in den Reihen, überlegte, wie sie das neu gruppieren konnte. Sie hatte sich nicht vorgestellt, dass es so ausgehen würde, als sie vor einigen Wochen dem Zusammenstoß der Meinungen gleichgültig zugehört hatte. Erst jetzt, während der schweren, lästigen Arbeit begriff sie, dass die Sache, die damals verhandelt wurde, auch sie betraf.

      Bibliographien zu diesem oder jenem Thema hatten sie auch unter der Regie des alten Chefs erarbeitet. Der neue Chef wollte jetzt ein neues, größeres Informationssystem aufbauen. Er befragte die Bibliothekare nach ihren Interessen. Die entschieden sich für die Lehrstühle Ökonomie oder Geschichte. Gisela erklärte nach kurzem Bedenken ihr Interesse für die Philosophie.

      Als Frau eines