Ursula Reinhold

Schwindende Gewissheiten


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Dem Ruf der Sowjetmacht folgend, wollten sie, eine Gruppe Fichte-Sportler, um 1930/31 im Kaukasus eine Kommune gründen. Die Eltern, die weder Arbeit noch Wohnung, nur Giselas Bruder hatten, wollten mit. Mit Werkzeugen und Kleintieren waren einige voraus gezogen, von denen die Eltern aber dann ein Jahr lang nichts hörten. Dann kam ein Brief von Erwin, dem Freund. Die Werkzeuge, die sie vorausgeschickt hatten, wären nicht eingetroffen, sondern spurlos verschwunden. Die Verhältnisse wären unvorstellbar schwierig, sie sollten bleiben, wo sie sind, mit dem kleinen Kind, schrieb er den Eltern.

      Ihren Jugendplan besprachen sie in jedem Jahrzehnt ihres Lebens neu. Zu-letzt vor einigen Jahren erst, als Hertha Tieke, eine von denen, die damals gereist waren, überraschend bei ihnen vorsprach. Es war 1956, sie kam aus einem fernöstlichen Lager in die DDR. Sie stand eines Tages vor der Lauben-tür. Die Hertha ist zurück, hatte der Vater gerufen, während er die Frau hin-einließ. Sie saßen lange in der Wohnküche zusammen, erzählten. Ihr Mann, ein Ingenieur, war 1939 an Hitler-Deutschland ausgeliefert worden. Sein Schicksal blieb ungewiss, wie auch das des einzigen Sohnes, der von der Mutter getrennt worden war. „Wer weiß, was uns geblüht hätte“, meinte der Vater, nachdem sie gegangen war. Dann setzte er für die Tochter hinzu, „Aber jetzt, nach Stalin, ist es anders.“

      Die Bibliothekskolleginnen beglückwünschten Gisela zu ihrer großen Reise. Genosse Wirker erzählte ihr von der Freundschaftswoge, die ihm, als Mitglied einer Delegation entgegengeschlagen war. „Es waren unvergessliche Tage“, beschloss er seinen Bericht, in den Helga Pietsch einstimmte. Man nahm Gisela das Versprechen ab, bei der Rückkehr viel zu erzählen und sie gab es bereitwillig.

      Als Johannes sie an einem grauen Aprilmorgen auf dem Bjelorussischen Bahnhof in seine weiträumigen Arme schloss, fühlte sich Gisela angekommen. Sogleich erzählte er ihr von den Vorbereitungen, die er für ihre Ankunft getroffen hatte. Seinem Zimmergenossen Mamadjor, der aus dem fernen Tadschikistan kam, besorgte er eine andere Schlafstelle, weil er dessen Bett für Gisela brauchte. Das war nicht leicht, weil das Internat voll belegt war. Auch andere Genossen aus fernen Regionen hatten ihre Frauen über die Feiertage hier, andere waren noch vom vergangenen Jahr geblieben, gar nicht wieder abgefahren. Johannes würde für Mamadjors Frau, die im Sommer ein ärztliches Praktikum absolvieren werde, ebenfalls das Feld räumen. Für Gisela werde Mamadjor mit seinen tadschikischen und usbekischen Freunden ein Plow-Essen veranstalten.

      Dann werden wir die große Maidemonstration erleben. Auch darauf war Gisela gespannt.

      In ihren späteren Erzählungen rangierte das Plow-Essen ganz vorn. Die Männer bereiteten es selbst zu. Reis mit Hammelfleisch und verschiedenem Gemüse gab es aus einer großen Schüssel. Sie stand in der Mitte des Tisches und jeder nahm von seiner Seite eine Handvoll Reis und führte sie zum Mund. Bei Johannes und Gisela gab es eine Krümelspur über den Tisch, die Männer waren geschickter im Umgang mit dem Gericht. Sie waren glutäugig, freundlich und lebhaft, als sie vom Leben ihrer Familien im mittelasiatischen Hochland erzählten. Ihre Väter und Brüder waren Hirten, die Familien lebten als Nomaden. Sie sprachen stolz über ihre Studien, waren voller Hochachtung vor deutscher Kultur und Bildung. Von den Russen sprachen sie herablassend, wechselten dann schnell in ihre eigene Sprache, redeten miteinander. Russisch sprachen sie mit starkem Akzent, so dass Gisela mit ihren mangelhaften Sprachkenntnissen auf die Dolmetscherdienste von Johannes angewiesen war. Einige Worte richteten sie in ihrer Sprache an Gisela, vor allem um Komplimente zu machen. Über ihre Frauen gaben sie kaum Auskunft, Giselas Nachfragen blieben unbeantwortet. Zum Plow tranken sie klaren Schnaps, wurden immer lauter und lebhafter. Johannes übersetzte ihr die Reden jetzt kaum noch, sie wären zu anzüglich, meinte er. Schließlich brachten sie einen Toast auf die freizügigen, schönen Moskauerinnen aus, brachen unvermittelt auf und verschwanden. „Sie ziehen jetzt noch los“, erklärte ihr Johannes. „Das ist jedes Mal so bei ihnen.“

      Am nächsten Abend sah man sich bei der Vorabendfeier zum 1. Mai wieder. Sie waren auch jetzt freundlich, allerdings auf eine eher unverbindliche Wei-se. Johannes tanzte den ganzen Abend mit ihr, war stolz, sie seinen deutschen und russischen Freunden vorführen zu könne. Sie kamen spät ins Bett, schliefen dann noch nicht und versäumten deshalb am Morgen den Zeitpunkt für die Maidemonstration. Spät machten sie sich auf, kamen nicht mehr in die Nähe des Zentrums. Roter Platz, Manegeplatz, Kreml, der ganze innere Ring war abgesperrt für den Menschenzug. Sie sahen Luftballons und Transparente aus der Ferne, gingen zum Ufer der Moskwa. Etwas unangenehm war es ihnen, dass sie so am Rande des großen Ereignisses blieben, aber es war nun nicht mehr zu ändern und selbst Johannes fand es verzeihlich, weil sie sich so selten hatten. Um dieses Versäumnis vor den Kollegen zu verbergen, beschied Gisela deren Fragen mit Floskeln, wie sie in der Zeitung standen. Alles sei farbig, großartig, gewaltig gewesen. Sie war erleichtert, dass nicht weiter nachgefragt wurde, vermied es, darauf zurückzukommen. Von den Moskauer Tagen erwähnte sie den Besuch im Mausoleum, in dem nur noch die Mumie Lenins aufgebahrt lag. Stalin hatte man an die Kremlmauer umquartiert, worüber sich Mamadjor mokierte. Man hätte es belassen sollen, meinte er. Er zählte die Stunden zusammen, der neue Parteimann habe 16 Stunden lang auf dem XXI. Parteitag der KPdSU geredet. Das kommentierte er mit den Worten: „Der Kult um Stalin ist beendet, jetzt beginnt der um Chrustschow.“ Johannes fand solche Reden lästerlich, unangebracht und meinte, über bestimmte Fragen könne man mit den Tadschiken nicht reden. Sie wichen dann immer in ein undeutbares Lächeln aus. Gisela wusste vom jüngsten Parteitag nur, was Genosse Wirker an sie als politische Information gegeben hatte. Sie nahm widerspruchslos zur Kenntnis, dass von diesem Ereignis nun eine neue Entwicklungsetappe ausgehen würde. Auch Johannes sah es so und Mamadjor hatte dabei nicht widersprochen, jedenfalls bekam sie nichts davon mit. Ehrlicherweise konnte sie von keinem besonderen Eindruck beim Besuch des Mausoleums berichten. Nur, dass sie in einer kleinen Gruppe von einem besonderen Führer an der unendlich langen Menschenschlange, die sich über den Roten Platz ringelte, vorbei, direkt vor das Gebäude geführt wurden, berührte sie etwas peinlich. Vor allem befürchtete sie, dass sich die Leute über ihre Bevorzugung erregen würden. Aber alle blieben ruhig und gleichgültig und da fand auch sie es in Ordnung so. Ja, die Sowjetmenschen sind gastfreundlich, lassen ihren ausländischen Gästen den Vortritt, sind von großer Bescheidenheit.

      Viel mehr, als dass sie bei Lenin war, konnte sie hiervon nicht erzählen. Ihr Unbehagen über den bevorzugten Zugang fand sie nicht mitteilenswert. Anderes betraf nur sie und Johannes, verdiente nicht das Interesse anderer. Einen halben Tag lang, Johannes war zum Unterricht, ging sie allein durch die große Stadt, fragte sich bis zur Tretjakow-Galerie durch. Sie war von sich selbst beeindruckt, weil sie sich allein zurechtfand. Johannes teilte ihre Begeisterung gar nicht. Er hoffte sie nach dem Unterricht wartend vorzufinden, war enttäuscht. Als sie am späten Nachmittag zurückkehrte, äußerte sich seine Sorge als Wut, dass sie ihn hier warten ließ. Er wollte ihr die Galerie zeigen, war über ihre Eigenmächtigkeit enttäuscht, hoffte, ihr einiges erklären zu können. Damit unterbrach er ihren Bericht über Bilder, die ihr besonders gefallen hatten. Ihre Äußerungen waren ohnehin nur dilettantisches Gequatsche, damit wolle er sie nicht kränken, gab er zu verstehen, aber so war es eben, wenn jemand nichts verstünde. Sie schwieg sogleich, behielt ihre Ein-drücke für sich. Gab ihm lediglich zu verstehen, dass sie sich in Moskau auch allein zurechtfinden wollte. Das ließ er gelten, brachte noch einmal seine Enttäuschung über die toten Stunden zum Ausdruck, die er gewartet hatte.

      Am Abend gingen sie ins Bolschoj Theater. Johannes hatte die Karten von einem Genossen bekommen, der einen Genossen kannte, dessen Frau mit dem Verkauf von Theaterkarten befasst war. „Ich musste einiges aufwenden“, ließ Johannes sie wissen, aber sie fragte nicht, was er meinte. Man spielte „Pique Dame”. Den größten Eindruck hinterließ ihr ein großer runder Mond, den man über den Bühnenhorizont gleiten ließ. An dieser Stelle lachte auch Johannes, der das Ganze für theatralisch, ja kitschig erklärte. Für sie war es ohnehin schwierig, Musik, Gesang und Bühnengeschehen als Ganzes wahrzunehmen, die Art und Weise, wie Menschen in Opern singend starben befremdete sie.

      Die zwei Wochen mit dem Touristenzug durch den Süden Russlands zum Kaspischen Meer, durch das Kaukasus-Massiv bis zum Schwarzen Meer und wieder zurück nach Moskau erschienen in ihrer Erinnerung wie ein Film. Die Eindrücke von Baku, den Moscheen und Ölanlagen, die sie gesehen, vom Basar in Machatschkala, der Hauptstadt Dagestans, vom Kaspischen Meer, das langsam austrocknete, wie ihnen ein einheimischer Reiseleiter erklärte,