Nicole Siecke

Ungewisse Vergangenheit


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wusste, woher er plötzlich kommen konnte. Ich hatte Gefäße, die Chemikalien dieser Art enthielten, nicht in Pultnähe gesehen, jedoch hatte ich einen seltsamen Apparat in seiner Kitteltasche entdeckt, der mir zuvor nicht aufgefallen war. Ich erschrak über dieses unerwartete Ereignis und warf meinen Kopf schützend zur Seite. Meine Hände befanden sich noch abwehrend in der Luft, als er sie ein zweites Mal fragte, mich jedoch dabei intensiv beobachtete.

      „Was sehen Sie jetzt?“

      Lori Armstrong stand plötzlich wie gelähmt. Bis jetzt war mir ein solches Verhalten an ihr nicht aufgefallen, da sie stets die Unerschütterte spielte. Wir alle waren nur Sekunden geblendet und erschrocken gewesen. Jetzt ging ihr Atem heftig und seltsamerweise strahlte sie plötzlich Angst aus. Ich wusste nicht, ob noch jemand außer mir die winzigen Schweißperlen auf ihrer Stirn bemerkt hatte. Ihre Augen waren geschlossen, die Lider zuckten, ihre Nasenlöcher leicht geweitet.

      „Öffnen Sie die Augen und sehen Sie aus dem Fenster. Es passiert Ihnen nichts. Sagen Sie mir nur, was Sie da draußen jetzt sehen.“

      Ich hatte nicht den Eindruck, dass Lori jemals wieder bereit war, seiner Bitte aus Angst, was sie zu sehen bekam, nachkommen würde und Kiefer schien das Gleiche zu denken. Die innere Unruhe, die sie plötzlich leicht erschauern ließ, steigerte sich zu einem heftigen Zitteranfall. Sie kniff verbissen die Augen zu und schluchzte plötzlich. Fast zeitgleich legten Kiefer und ich unsere Hände auf ihre, um ihr die Sicherheit zu gewährleisten, die ihr vermutlich in diesem Moment fehlte. Die Berührungen ließen sie die Augen wieder öffnen und ich erschrak, als ich ihrem Blick begegnete. Es kam mir vor, als ob sie in der Zwischenzeit ihre Augenfarbe gewechselt hätte. Ich sah sie frontal an, aber sie blickte durch mich hindurch Richtung Fenster.

      „Ich sehe ein Footballfeld, aber es befinden sich Menschenmassen darauf. Einen Moment, ein Spieler liegt am Boden. Ich glaube, er ist tot! Die Spielanzeige schreibt das Jahr 1965!“

      Der plötzliche Sprung von so vielen Jahren machte mir Angst.

      „Hören Sie auf! Stoppen Sie sofort dieses Experiment, Professor Vibelle!“ Während meine messerscharf fordernde Stimme die Stille durchschnitt und alle Anwesenden zusammenzuckten, blieb Lori Armstrong wie hypnotisiert stehen.

      Ich hielt immer noch ihre Hand fest, wahrscheinlich um mich selbst zu trösten, oder ich brauchte sie als Unterstützung, um zu wissen, dass dies kein Spiel mehr war!

      Professor Vibelle antwortete mir nicht, aber ein Satz aus den hinteren Reihen bestätigte mir mein bereits vorhandenes Wissen.

      „Das war vor dreißig Jahren. Es ist wahr! Mein Vater hat mir davon erzählt. Ein Footballspieler hatte einen plötzlichen Herztod. Er brach auf dem Spielfeld zusammen. Eine wahre Begebenheit, die jeder hier an der Universität kennt, die aber nicht gerade gute Geschichte schreibt!“

      Meine Lungen füllten sich mit Luft, um lautstarken Protest anzustreben, aber Manitu Vibelles unvermutete, plötzliche Berührung hielt mich von weiterem Handeln ab. Noch bevor ich nachdenken konnte, nahm ich seine vertraulich flüsternden Worte wahr, die offensichtlich nur mir allein galten.

      „Ich möchte alles das erklären können. Habe keine Angst! Ich möchte, dass du mitkommst.“

      Er sah allein mich an, während er sowohl nach Kiefer als auch in meine Richtung gegriffen hatte und somit der Kreis geschlossen war. Lautes Getöse umgab uns abermals und ich war versucht, meine Ohren vor diesem Lärm zu schützen. Es gelang mir jedoch nicht, da meine Hände in der von ihm und Kiefer lagen. Der stechende Geruch kam zurück und grell helles Licht durchflutete meinen Kopf, wie Blitze bei einem heftigen Gewitter. Danach umgab mich eine tiefe, stille Schwärze, die mich in eine Art Spirale zu ziehen schien. Der Sog war so stark, dass mir ein undefinierbarer Druck auf dem Brustkorb kurzfristig die Luft zum Atmen raubte. Es hing mit Schmerzen zusammen. Ich tauchte vorerst aus dieser absoluten Dunkelheit nicht auf, verweilte in ihr und ängstigte mich zu Tode. Danach wurde meine Atmung wieder leichter und ich gierte nach Frischluft wie ein Ertrinkender. Endlich löste ein lichtreiches Spektrum die Dunkelheit, die mich umgab, ab. Auch ließ der Sog endlich nach und ich fiel. Der Schwindel in meinem Kopf erlaubte mir keine Orientierung. Es war schließlich die Angst, die mich meine Augen wieder öffnen ließ. Ich fühlte mich körperlich schlecht, das Bedürfnis, mich zu übergeben, wuchs immer mehr. Ich rang nach Luft wie ein Asthmakranker und wusste, dass ich dabei war zu hyperventilieren, wenn ich nicht augenblicklich an meinen Verstand appellierte. Als ich die Augen öffnete, kreisten Bäume uns ein. Dichtes Dickicht zu meiner Rechten versperrte mir die Sicht auf das, was dahinter lag. Ich spürte weichen Waldboden unter mir. Ein Lufthauch streifte mein Gesicht und ich zitterte unwillkürlich. Die Bäume, die mich umgaben, waren endlos hoch und einseitig von Moos bewachsen. Dieser Ort sah eher paradiesisch aus, unter diesen Umständen jedoch stufte ich ihn in das Vorzimmer zur Hölle. Es war beängstigend still um mich, so als hätten sich sämtliche hier im Wald lebende Tiere aus Angst vor meinem urplötzlichen Auftauchen verkrochen.

      Wo war ich? Was war geschehen? Lebte ich oder war ich tot? Mein Schädel drohte zu bersten. Unwillkürlich griff ich an meine Stirn. Ein Stöhnen entfuhr meiner Kehle, dann bemerkte ich eine Bewegung neben mir. Ich brauchte eine ganze Weile, um Kiefer zu erkennen.

      „Hier, nehmen Sie das hier!“

      Er hielt mir eine braune Papiertüte entgegen, die ich verwirrt annahm, um hinein zu atmen. Zwar war die Übelkeit immer noch da, aber der alte Trick, vor einer Ohnmacht zu fliehen, half wenigstens. Als ich endlich aufsah, entdeckte ich Lori zu meiner Linken neben mir auf dem Boden liegend. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, weil ich in der Annahme war, sie sei tot. Sie sah sehr blass aus. Ihr langes, glattes Haar umrahmte ihr Gesicht wie ein übergroßer Fächer. Ihr Körper schien schlaff, doch ihre flachen, aber regelmäßigen Atemzüge überzeugten mich dann schließlich vom Gegenteil. Mechanisch griff ich nach ihrem Handgelenk. Ich musste sie irgendwie wach bekommen.

      „Das habe ich auch schon versucht!“

      Kiefers Aussage erinnerte mich an seine Gegenwart. Allem Anschein nach schien er mich intensiv beobachtet zu haben.

      „Bei Ihnen hat es auch länger gedauert. Sie wird vermutlich gleich aufwachen?“

      Seine ruhigen Worte halfen mir in keiner Hinsicht weiter. Unwillkürlich blickte ich auf meine Uhr und stellte mit Entsetzen fest, dass sie kaputt war. Das Glas war zerbrochen und das mechanische Uhrwerk war stehen geblieben. Der Sekundenzeiger war verbogen. Vorwurfsvoll zeigte er gen Himmel.

      „Wo, wo sind wir, Kiefer?“

      Er saß neben mir: “Ich weiß es nicht!“

      Hastig versuchte ich aufzustehen. Der jedoch eher wackelige Versuch misslang mir. Nervös rieb ich die Handflächen aneinander, um Schmutzteilchen zu entfernen. Kiefer machte keinen Versuch mir aufzuhelfen. Es störte mich, aber ich behielt einen Kommentar der Empörung für mich. Erst seine nächstfolgenden Sätze ließen eine minimale Aufklärung zu.

      „Ich bin schon ein bisschen länger wach als Sie und habe versucht, die Gegend zu erkunden. Keine Ahnung, wo wir uns befinden, aber ich habe das dumme Gefühl, dass wir gereist sind ...“

      Ich hatte Angst, über sein Gesagtes genauer nachzudenken. Es flößte mir Unbehagen ein. Nicht zu wissen, was vorgefallen war und das bei einer kalkulierenden Persönlichkeit wie mir, machte mich nervös.

      „Mit gereist“, ich sprach es aus wie ein lästiges Übel, “mit gereist meinst du ...“

      Er nickte, ohne meine Frage abzuwarten.

      „Bist du dir sicher?“

      „Ich denke schon.“

      „Wie kannst du nur so ruhig bleiben, wenn du es schon weißt?“, fuhr ich ihn unbeherrscht an.

      Er erhob sich. Im Gegensatz zu mir schien er es bereits besser zu beherrschen, denn ich hatte immer noch das Gefühl, nie wieder richtig laufen zu können.

      „Weil es nun mal nichts an der Tatsache ändert, Miss Clerence! Wir befinden uns hier in einer Gegend, die ich nicht kenne und ich weiß mit ziemlicher Sicherheit, dass wir uns eben noch in einem Hörsaal