Nicole Siecke

Ungewisse Vergangenheit


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      Er war selbst nicht sonderlich überzeugt von seiner Rede, aber er wusste momentan keinen anderen Rat.

      Lori schien ihn als eine Art Anführer zu akzeptieren, aber er wusste nicht, ob sie es aus reiner Unschlüssigkeit ihrer selbst tat.

      Sie standen sich gegenüber, überwältigt von der Situation, die über sie hereingebrochen war. Wenigstens die Jahreszeit war ihnen geblieben. Das Grün der Bäume war satt, der Wald um sie herum ließ wenig Licht bis zu ihnen auf den Boden dringen. Er musste nur wenige Schritte gehen, um zu wissen, dass der Wald nach Süden hin immer lichter wurde und in fette Wiesen überging, Wiesen, die in sanfte Hügel zerschmolzen und ihnen die Sicht verbargen, was hinter der nächsten Erhebung verborgen lag. Nördlich hinter ihnen empfing sie Dunkelheit, dichtes Geäst, tiefster Wald.

      Kieferbäume ragten meterhoch in den Himmel und bildeten ein dichtes Dach. Moos bedeckte stellenweise den Boden und er erkannte tatsächlich einzelne Beerensträucher, die ihre Frucht noch nicht verraten hatten. Kurz waren seine Gedanken zu Tieren übergegangen, die diese Gefilde vermutlich bewohnten und er hoffte, nicht unvermutet auf Schwarzbären stoßen zu müssen.

      Nein, kein Mensch konnte sich hier sicher fühlen, außer vielleicht Eingeborene, und er überlegte siedend heiß, ob es Indianervölker gab, die hier beheimatet waren.

      Sollte Vibelle tatsächlich mitgereist sein, so konnte er sich eigentlich nur über die offene Fläche von ihnen entfernt haben, die vermutlich ein ansässiges Dorf vermuten ließ, oder vielleicht sogar eine Stadt mit zivilisierten Menschen, die ihr Jahrhundert teilten?

      Kiefer wusste nicht, wie oft er selbst hier bereits im Kreis gelaufen war. Nachdem er sich vom Überleben der beiden Frauen überzeugt hatte, war er in jede Richtung gelaufen, um sich ein Bild der Lage zu verschaffen. Viel zu schnell war er zu dem Entschluss gekommen, dass ihr aller Überleben nur von der Beantwortung einer einzigen Frage abhing, nämlich der, in welcher Zeit sie sich befanden.

      „Und wenn sie uns dann nicht findet? Sie wird vermutlich hier an diesen Ort zurückkehren, Kiefer. Sie wird uns dann suchen und...“

      Loris plötzliche Worte ließen ihn aufhorchen. Er wusste, dass sie Recht hatte, aber er war der Meinung, erst einen Unterschlupf unweit von hier zu finden, damit sie wenigstens vor wilden Tieren eine Möglichkeit des Schutzes hatten.

      „Wir hätten uns nicht trennen sollen. Wir hätten zusammen...“

      Wieder lauschte er.

      „Lori, hör auf damit. Dazu ist es nun zu spät. Du kannst uns allen doch keine Vorwürfe in dieser“, er suchte nach den richtigen Worten, „Situation machen. Wir mussten handeln, schnell handeln.“

      Er blickte sie belehrend an, und sie wagte es nicht, ihn zu unterbrechen.

      „Wir werden uns hier umsehen und dann entscheiden, wie weit wir uns von hier entfernen werden, in Ordnung?“

      Sie nickte lahm.

      Ihr „OK“ war kaum zu vernehmen.

      Sie standen voreinander. Kiefer rieb sich verlegen den Kopf und holte tief Luft.

      „Komm“, sagte er dann und zog sie am Ärmel hinter sich her. Bleib neben mir, ich ...“

      Er brach den Satz ab, weil seiner Meinung nach genug gesprochen war. Sein Blick schweifte über den Waldboden, weil er sich versichern wollte, dass sie nichts vergaßen. Leider wusste er, dass sie nichts bei sich hatten, außer dem, was sie am Leibe trugen; dies machte ihm unbewusst Angst. Er spürte Miss Clerence beschädigte Uhr in seiner Hosentasche und hoffte, sie bald seiner Besitzerin wieder geben zu können.

      Sie waren bereits eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen, als Lori ihn von der Seite ansah.

      „Glaubst du, es gibt hier wilde Tiere?“

      „Lori, hör auf, ich weiß es nicht. Mach dich nicht verrückt. Wir suchen jetzt einen Unterschlupf!“

      Sie schien seine Gedanken zu teilen. Zu wissen, dass sie weder Schutz noch Nahrung hatten, ließ sie ähnlich unruhig werden, wie ihn.

      „Was meinst du, in welcher Zeit wir sind?“

      Kiefer hielt an und betrachtete sie. Fast wäre sie in ihn gelaufen, weil er so abrupt stehen geblieben war.

      „Ich weiß nicht, hundert Jahre vielleicht der Kleidung nach zu urteilen, die diese Menschen eben am Leibe trugen?!“

      „Oh, Gott! Hundert Jahre. Ich versuche gerade, die Erfindungen einer Zeit zuzuordnen!“

      Kiefer sah sie an und wusste nichts zu erwidern, deshalb sprach Lori weiter:

      „Sie hatten ein Pferdefuhrwerk. Die Sitzbank war grob und nicht mit Leder bezogen ... Sie sind nicht sonderlich reich und bewohnen vermutlich einen Hof unweit von hier. Sie waren bestimmt auf dem Markt, weil sie einiges an Nahrung bei sich hatten und zwar Fässer und Säcke, die bestimmt so etwas wie Zucker und Mehl enthielten. Sie bauen bestimmt Mais oder Kartoffeln selbst an und bringen ihr Getreide zum Mahlen in die Stadt. Sie reisten bewaffnet, das könnte auf Feinde hinweisen. Von der Gegend her könnte es sich um Indianer handeln, aber ich denke, die würden sich nicht so nah an eine Stadt wagen, es sei denn, sie arbeiten hier oder verkaufen Felle und Naturalien, um sich im Tausch Waffen oder Alkohol zu besorgen.“

      Sie redete ohne Unterlass vor sich hin, während Kiefer sie erschrocken betrachtete.

      „Hast du auch die Hühner auf dem Fuhrwerk gesehen, Kiefer? Vielleicht hat die Bäuerin alle alten geschlachtet und kauft nun neue, um ...“

      Er unterbrach sie.

      „Lori!“

      Überrascht sah sie ihn an.

      „Was?“

      „Das alles willst du dir ernsthaft zusammenreimen? Du hörst dich an wie Sherlock Holmes!“

      „Ich sagte doch, dass ich eine Zeit auszumachen versuche. Und ich stelle mir die Frage, weshalb Vibelle uns ausgerechnet in diese Zeit katapultiert hat ... mais merci pure le complimentes.“

      Sie vernahmen den Ruf eines ihnen unbekannten Waldvogels und erschraken unwillkürlich. Ihr französischer Einwand, der scherzhaft gemeint sein sollte, verflog in Sekundenschnelle.

      „Bist du der Meinung, dass dies vielleicht Töne aus einer indianischen Menschenkehle sind?“

      Er sah sie fragend an, während sie hastig einen Schritt näher an ihn herantrat.

      „Nein, aber ich bin davon überzeugt, dass du den Vogel auch mit Namen kennst, vielleicht sogar auf Französisch?“

      Kiefer sah sie böse an.

      „Es ist nicht die Zeit, um Scherze zu machen.“

      Sie sah ihm die Panik ins Gesicht geschrieben und gab ihre Ironie augenblicklich auf. Ihr scherzhafter Ton war eigentlich nur eine Art Eigenschutz gewesen, die sie etwas ruhiger hatte werden lassen. Er jedoch stellte sich die Frage, weshalb Lori mit einem Male so orientiert und nüchtern bei der Sache war, aber er schluckte seine Frage herunter. Abermals zog er sie am Ärmel. Er mochte nicht mehr reden. Sie machte ihm Angst, weil sie seiner Meinung nach erstaunlich logische Sachen in ihre Gesamtsituation einbrachte. Sie hatte sich allem Anschein nach mit der misslichen Lage abgefunden und adaptiert. Sie liefen weiter und erreichten ein kleines Maisfeld, auf welchem tatsächlich schwer tragende Grünstängel bald ihr Wachstum abgeschlossen hatten. Die Pflanzen waren fast höher als sie selbst und boten kompletten Sichtschutz. Am Rande dieses Feldes sahen sie einen Holzverschlag ohne Fenster, der offensichtlich leer zu stehen schien. Sie beobachteten die Hütte eine Weile, bevor sie sich entschlossen, sie von der Nähe zu betrachten. Kiefer tastete sich vor. Allem Anschein nach handelte es sich hierbei um eine Art Geräteschuppen, der ausschließlich für die Landwirtschaft benutzt wurde. Sie erkannten mehrere Harken, einen Pflug, neben Seilen und grobem Handwerkszeug, duftendes Heu beherrschte die komplette linke Seite. Es lag auf einem Holzboden gelagert, während der Rest der Hütte aus Lehmboden bestand. Man hatte fast den Eindruck, als habe man hier vor längerer Zeit einmal Tiere