Nicole Siecke

Ungewisse Vergangenheit


Скачать книгу

erinnerte mich nicht nur an meine entsetzliche Gegenwart, sondern auch an die Tatsache, dass man hier wohl mit einem längeren Aufenthalt meinerseits rechnete.

      „Würde Euch Rose gefallen?“

      Die Stimme kam aus der Kammer nebenan. Verblüfft sah ich in ihre Richtung, als plötzlich Adam wieder auftauchte.

      Er sah mich herausfordernd an. Der schwere Jutesack hatte doch Spuren in Form von Schweißperlen bei ihm hinterlassen.

      „Gebührt mir ein solcher Name denn?“ Ich hörte zwar meine eigenen Worte, konnte jedoch nicht fassen, dass sie aus meinem Munde kamen. Hatte ich nichts Besseres zu tun, als zu flirten?

      „Ich denke schon!“

      Unsere Blicke kreuzten sich unverwandt. Ich musste zugeben, dass er sehr attraktiv war. Ich war davon überzeugt, dass er sich um zukünftige Ehefrauen keine Gedanken machen musste, wenn er nicht sogar schon eine hatte?

      „Rose? - Das ist gut, es passt zu ihr, du hast Recht, Adam!“

      Sichtlich zufrieden rührte sie in der Suppe, die inzwischen brodelte. Der Geruch, den sie verströmte, löste großes Verlangen nach Nahrung in mir aus. Am liebsten hätte ich ihr den gesamten Topf mit Inhalt von der Feuerstelle gerissen, ohne zu fragen, ob es sich um Schlangensuppe oder ausgekochte Schweinefüße handelte. Ich schluckte das Wasser, welches mir unablässig im Munde zusammenlief, hart herunter und konnte kaum noch an meinen Verstand appellieren.

      Amber klirrte mit Geschirr, was bedeutete, dass gleich serviert würde, und ich war froh, diesem Psychoterror der Hungersnot nicht länger ausgesetzt sein zu müssen.

      „Na dann, Rose“, bitten wir die anderen zu Tisch!“

      Adam lächelte verschmitzt in meine Richtung und machte sich auf den Weg nach draußen. Es dauerte nicht lange, bis alle um den Tisch versammelt waren. Es war klar, dass ich heute bei dieser Mahlzeit den Mittelpunkt bildete und so war es nicht verwunderlich, dass alle mir beim Essen zusahen. Ich störte mich nicht daran, weil mein Hungergefühl einfach zu groß war. Als meine Nahrungsaufnahme schließlich beendet war, bekamen auch so die anderen die Gelegenheit, ihre inzwischen erkaltete Suppe zu sich zu nehmen. Betty bot mir Brot an, welches ich schließlich auch noch vertilgte, und ich dachte mit Schuldgefühlen an Lori und Kiefer zurück, die wahrscheinlich inzwischen zu Grasessern geworden sein mussten.

      Plötzlich hatte ich eine Idee. Wenn ich angeblich unter einer vorübergehenden Amnesie litt, war es vermutlich nur normal, wenn mir auch mein Zeitgedächtnis entfallen war. Niemand würde Verdacht schöpfen können und wenn ich mich mit meiner Sprache und Grammatik zusammenriss, würde ich als eine von ihnen gelten!

      Ich räusperte mich leise, was natürlich sofort alle Aufmerksamkeit wieder auf mich zog.

      „Es ist mir unangenehm, darüber zu sprechen, aber ich weiß nicht mal mehr, welches Datum wir schreiben.“ Ich wusste, dass ich aufgrund meiner Lüge errötete, aber es war mir egal. Sie kannten schließlich ja nicht den wahren Grund meiner Frage und Amber reagierte als Erste.

      “Der zehnte Mai, Rose. Wir schreiben den zehnten Mai!“

      Ich nickte verständig und versuchte dennoch meine Ungeduld zu unterdrücken. Dass es Mai war, entzückte mich ja, aber etwas anderes war mir wichtiger!

      „Und ... und das Jahr?“

      Murray lies abrupt seinen Löffel fallen.

      „Das Jahr des Herrn habt Ihr auch vergessen?“

      Wieder nickte ich, mein Herz raste, als er endlich antwortete.

      „Wir schreiben das Jahr des Herrn, 1872. Guter Gott, Ihr müsst einen entsetzlichen Schlag abbekommen haben!“

      Der Krug, der mit Wein gefüllt war, drohte mir aus den Händen zu gleiten, und wenn Adam ihn nicht reaktionsschnell im Fall gehalten hätte, wäre er in Hunderte von Scherben zerbrochen. Ich hatte mit vielem gerechnet, nicht aber mit einem solchen Zeitsprung. Es lagen genau 140 Jahre zwischen ihrem und meinem Leben und dennoch konnten wir hier an einem Tisch sitzen. Gleisende Blitze machten ihre Runden in meinem Kopf, in meinen Ohren begann es zu rauschen. Mein Zustand kam selbst mir besorgniserregend vor, da ich den Boden unter den Füßen zu verlieren spürte. Übelkeit stieg in mir auf. Ich hatte Mühe, das eben Gegessene zurückzuhalten. Meine Hand war krampfhaft gegen meinen Mund gepresst, die Augen brannten in den Höhlen. Ich starrte in die Runde und begegnete jedem einzelnen bohrenden Blick. Nie im Leben hatte ich mich so allein gelassen gefühlt.

      Geschichtliche Ereignisse, Kriege und Namen rauschten an mir vorüber, ich war nicht in der Lage, irgendetwas irgendwem zuordnen zu können. Zumindest nicht jetzt.

      „Ihr solltet Euch ausruhen, Rose, oder welchen Namen Ihr auch immer tragt. Vielleicht klärt sich Eure Identität schneller, als Ihr denkt!“

      Es war gut gemeint von Amber, mir Mut zuzusprechen, aber es half mir nicht im Geringsten weiter.

      „Vielleicht seid Ihr von Indianern überfallen worden? Sie waren sehr unruhig in den letzten Monaten. Es kommt immer mal wieder vor, dass …“

      Murray sah mich skeptisch von der Seite an.

      „So ein Unsinn, du weißt genau, dass wir hier nie Probleme mit ihnen gehabt haben. Schluss damit!“

      Amber ärgerte sich offensichtlich sehr über die Gedanken ihres Bruders.

      Sie sah mitleidig zu mir herüber und komplementierte mich in einen Nebenraum, der sich als Schlafkammer entpuppte. Ich war froh, dass sie mich führte, weil ich befürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Ich fühlte mich ausgelaugt und um 140 Jahre betrogen. Gerne hätte ich meinen Kummer mit jemandem geteilt, aber ich wusste, dass dies nicht möglich war. So wie es aussah, wohl niemals.

      Der Raum enthielt zwei Betten, die mit Strohmatratzen und federgefüllten Bettdecken belegt waren. Es war mir vollkommen egal, mit wem ich diesen Raum teilen musste. Es würde an meiner Situation wahrhaftig nicht mehr viel ändern.

      Amber half mir aus den Kleidern, um mich schließlich fürsorglich zuzudecken. Erneut musterte sie mich mitleidig.

      „Seid Ihr verletzt? Ich meine, ich hoffe, es hat Euch niemand ein Leid zugefügt?“

      Ich starrte sie an und verneinte vehement.

      Sie nickte und überlegte kurz.

      „Ich bringe Euch gleich noch einen warmen Stein, damit Ihr nicht friert! Einen habe ich immer im Ofen liegen für den Fall, dass mal jemand erkrankt!“

      Ich hörte ihr Gesagtes, erwiderte jedoch nichts mehr. Sie assoziierte mein Zittern mit Kälte, nicht mit der Angst, die mich immer noch gefangen hielt! Ich war nur noch damit beschäftigt, meine Verzweiflung zu unterdrücken. Ich dachte an Lori und Kiefer und daran, dass ich sie irgendwie aufspüren musste, und zwar noch in dieser Nacht. Ich konnte schon froh sein, dass ich Menschen in die Hände gefallen war, die mir wohl gesonnen waren. Nicht auszudenken, wenn das Gegenteil eingetroffen wäre!

      Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber als ich erwachte, vernahm ich regelmäßige Atemzüge im Bett neben mir. Da meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, war es mir möglich, die Personen zu identifizieren. Es handelte sich um Betty und Diana. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Natürlich lag ich in einem ihrer Betten und sie kamen wohl nicht umhin, sich das letzte übrig gebliebene aufgrund meiner Anwesenheit zu teilen. Alles war mucksmäuschenstill, die Nacht schien hereingebrochen zu sein und das Haus und seine Bewohner zu schlafen.

      Zeit für mich, zu neuem Leben zu erwecken, und wenn ich noch so müde war. Unendlich langsam pellte ich mich aus den vielen Decken, die man über mich gebreitet hatte. Das war Glück, denn somit würde ich vielleicht ein oder zwei dieser klassischen Exemplare mitnehmen können. Es fehlte also nur noch Nahrung, die ich sicherlich in der Kammer neben der Küche finden würde. Dort, wo Adam den schweren Sack hingebracht hatte. Ich stahl mich auf nackten Sohlen aus dem Raum. Das Knarren, welches die Türe beim Öffnen und Schließen verursachte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, aber niemand anderer außer mir schien es zu hören.

      Die