Nicole Siecke

Ungewisse Vergangenheit


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in der Dunkelheit neben mir. Sicher würden sie gleich, wenn der Magen ein wenig gefüllt war, bereit für die Wahrheit sein?

      Als hätte Lori meine Gedanken gelesen, sprach sie mich direkt darauf an.

      „Haben Sie irgendetwas herausbekommen können? Ich meine ...“ Sie zögerte leicht.

      „Ich weiß, was du meinst und hör endlich mit dem blöden „Sie“ auf!“. Ich versuchte, Zeit zu gewinnen, da ich noch von mir selbst wusste, wie ich auf all das reagiert hatte.

      „1872, es ist der zehnte Mai 1872!“

      Ich konnte nur erahnen, was meine Worte in ihnen auslösen mussten, aber schließlich war auch ich nicht davon verschont geblieben!

      „Mein Gott!“ Kiefers Stimme klang fremd in der Dunkelheit.

      „Wie ... wie haben Sie, wie hast du das angestellt, ohne damit aufzufallen?“

      „Ich habe eine Amnesie vorgetäuscht, ich hielt es für das Beste!“

      „140 Jahre, das ... das ist unglaublich. Wir sitzen ganz schön im Schlamassel!“

      Stroh knisterte vorwurfsvoll unter Kiefers Gewicht. Ich sah seine Umrisse und konnte durch das hereindringende Mondlicht erkennen, dass er mit dem Kopf schüttelte.

      „Ob nun 140 oder 240, es ändert nichts an unserer Situation. Gebt mir Zeit, ich hatte Geschichte Leistung. Bis Morgen habe ich die wichtigsten Geschehnisse im Kopf, das könnte uns vermutlich bei unserem Verhalten weiterhelfen.“

      Lori sprach unverhofft und sie schien sich besser mit dieser Situation auseinander zu setzen als Kiefer und ich es taten. Sie machte kurz Pause.

      „Ich weiß, dass Boston um 1630 durch englische Emigranten gegründet worden ist, aber es hingen natürlich auch noch indianische Ureinwohner mit drin und was sagtest du? Wir leben 1872? Das erinnert mich an eine Geschichte, die ebenso Boston betrifft, weil genau in diesem Jahr fast die ganze Stadt durch einen Brand zerstört worden ist. Das heißt, ich habe den Monat vergessen, vielleicht geschieht dies auch erst noch? Infolge dessen werden dann die Tee-, Rum-, Fisch- und Tabakpreise steigen oder eine Welle von Auswanderern wird die umliegenden Kleinstädte fluten– Kiefer, wir haben nur die zwei Decken. Darf ich zu dir hinüberkommen?“

      Ich war davon überzeugt, dass Kiefers Mund genauso offenstand wie mein eigener, nachdem wir Loris Monolog vernommen hatten. Sie schien tatsächlich ihren Leistungsschwerpunkt in Geschichte zu haben. Allem Anschein nach hatte sie auch ihre Angst nun fest im Griff; wenn ich an unsere „Landung“ hier zurückdachte.

      „Natürlich, so muss niemand von uns frieren.“

      Kiefers tonlose Stimme drang unterdrückt beeindruckt bis zu mir herüber.

      Das bedeutete für mich, diese Nacht mit Adam unter der anderen Decke zu verbringen und ich hatte ein mulmiges Gefühl dabei.

      Als Lori zu ihm hinübergekrochen war, durchbrach Kiefers Stimme erneut die Stille um uns herum.

      „Wie geht es deinem Patienten, Miss Clerence?“

      Vermutlich wollte er bewusst vom Thema ablenken, weil er immer noch zu beschämt von Loris Wissen war.

      Ich musste ein Lächeln über seine gewählten Worte und den raschen Themawechsel unterdrücken.

      „Ich habe den Eindruck, dass er in einen ruhigen Schlaf gefallen ist. Seine Atemzüge sind regelmäßig und ich schätze, dass ich meine Hand heute Nacht von seinem Halspuls nicht so schnell ablassen werde.“

      Abermals knisterte Stroh.

      „Und Kiefer, man gab mir hier den Namen Rose. Es war Adams Vorschlag! Ich meine, der meines Patienten hier.“

      Ich konnte mir sein schmunzelndes Gesicht vorstellen, obwohl uns immer noch Nacht umfing. Natürlich war an Schlaf nicht zu denken, zumindest von meiner Seite aus nicht. Ich war viel zu besorgt um Adam, den ich Gott sei Dank warm an mir spürte. Ich glaube, ich atmete im gleichen Rhythmus wie er, wahrscheinlich der festen Überzeugung, ihm damit helfen zu können, dass er es nicht urplötzlich vergaß. Ich tastete unzählige Male nach der Halsschlagader und mit dem Geruch erkalteten Blutes dicht an meiner Nase schlief ich dann doch ein. Gott sei Dank war mein kurzes Einnicken von keinen Alpträumen begleitet, obwohl ich wie gerädert nach Stunden wiedererwachte. Ich brauchte einige Zeit, um zu begreifen, wo ich war und wen der Mann unter meiner Decke darstellte. Traurigkeit beschlich mich, da ich gehofft hatte, wieder in einer anderen Zeit wach zu werden.

      Es war inzwischen hell, jedoch noch empfindlich kühl, und ich war dankbar, dass ich eine Wärmequelle direkt neben mir hatte. Ich konnte Adams Gesicht nicht sehen, aber das, was ich sehen konnte, sagte mir, dass er lebte. Ich sah in Richtung Kiefer und Lori, die zusammen verstrickt dalagen wie ein verheddertes Wollknäuel. Ich lächelte unterdrückt, bis ich mich schließlich unendlich langsam und unwillig aus meiner warmen Höhle pellte. Ich schaffte es, niemanden aufzuwecken. Der Versuch, meine Rockfalten glätten zu wollen, war überflüssig. Vorsichtig kroch ich unter der Decke hervor und schlich mich nach draußen. Die Hütte war wirklich nur ein Verschlag, aber immer noch besser, als unter freiem Himmel nächtigen zu müssen. Sie stand mitten auf einem Kornfeld. Das Getreide war natürlich noch nicht zur Ernte bereit und es war nur eine Frage der Zeit, wann wir hier entdeckt werden würden. Einen sicheren Platz bot dies hier nicht!

      Kiefer war mir wenig später schweigend gefolgt. In seinem Gesicht hatte die Nacht ebenfalls ihre Spuren hinterlassen. Er sah um Jahre gealtert aus, aber ich nahm an, dass dies eher mit unserer außergewöhnlichen Situation zu tun hatte.

      „Wie soll es nun weiter gehen?“

      Meine Frage brachte ihn zum Nachdenken.

      Er wartete einen Moment, bevor er antwortete.

      „Das hängt ganz von deinem Adam ab.“

      „Er ist nicht mein Adam, du warst es, der ihn ...“ Ich brach ab. Keine Zeit, um sich jetzt gegenseitige Vorwürfe machen zu wollen!

      Er schien meine plötzliche Wandlung zu bemerken, denn er nahm das Gespräch wieder auf.

      „Wir werden hier nicht lange bleiben können. Ich denke, wir sollten erst mal den Rest an Schinken und Brot vertilgen und dann gemeinsam Überlegungen anstellen. Wie weit war es bis zu dem Hof, wo Adam zu Hause ist?“

      „Etwa anderthalb Meilen. Sie vermissen ihn bestimmt schon.“

      „Nicht nur ihn.“

      Sein Gesagtes wurde mir innerhalb von Sekunden bewusst. Ich war als Diebin davongeschlichen, obwohl man mich gastfreundlich aufgenommen hatte. Mir graute davor, diesem Murray jemals wieder unter die Augen zu treten. Wahrscheinlich würde er mich am nächsten Baum hängen.

      Kiefer klopfte plötzlich kameradschaftlich auf meine Schulter.

      „Mach dir nicht zu viele Sorgen. Die Lage, in der wir uns befinden, kann kaum noch schlimmer werden.“

      Es sollte als Trost gelten, half mir aber in keiner Weise weiter. Ich lächelte ihn traurig an. Was hätte ich sonst noch tun können?

      Als wir ins Innere der Hütte zurückkehrten, schliefen die anderen beiden immer noch. Erst das Geräusch, welches ich beim Schreiten auf dem Erdboden zu Adam verursachte, holte Lori zu uns zurück. Sie rieb sich die Augen und zog die Decke enger um sich.

      „Ich nehme nicht an, dass wir uns in Professor Vibelles Unterrichtsstunde befinden und alles nur ein böser Traum war?“

      Leider konnte niemand von uns ihr widersprechen.

      „Das hatte ich angenommen. Nun, ich habe mir noch ergänzende geschichtliche Gedanken gemacht. Ich glaube ...“

      Adams plötzliches Stöhnen ließ uns alle zusammenfahren. Er regte sich und machte den kläglichen Versuch, sich erheben zu wollen. Die Verletzung an seinem Kopf hatte ihn jedoch wohl schnell eines Besseren belehrt.

      Er stöhnte wieder, diesmal lauter. Seine Hand wanderte nach oben, um nach der Ursache zu suchen. Noch hatte er keinen von uns erblickt