Ole R. Börgdahl

Tod und Schatten


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Wissen Sie schon etwas über die Leiche?«

      Ulrich Roose nickte. »Männlich, Schussverletzungen, soweit ich gesehen habe. Identität unbekannt.«

      »Keine Papiere?«, fragte Marek.

      »Wir haben zumindest noch keine gefunden.«

      »Wem gehört der Laden, kann es der Besitzer sein oder ein Angestellter?«

      »Tja, das dürfen Sie mich nicht fragen, Herr Kriminalkommissar. Das ist ja wohl Ihr Fachgebiet. Ich liefere nur die Spuren ab.«

      Marek nickte. »Konnte denn der Zeuge den Toten nicht identifizieren?«

      »Der hat ihn gar nicht zu Gesicht bekommen. Die Streife hat hier gleich alles abgesperrt. Die haben nur die Personalien des Mannes aufgenommen und ihn gehen lassen.«

      »Verstehe.« Marek holte sein Notizbuch hervor, klappte es auf und dann gleich wieder zu. »Adresse und Name des Zeugen wurden also protokolliert. Dann zeigen Sie mir mal Ihre Leiche.«

      »Mit größtem Vergnügen, Herr Kollege«, sagte Ulrich Roose und lächelte. »Hier entlang.«

      Ulrich Roose trat zur Seite und gab den Blick auf den Raum frei, ließ Marek durch den Lichtspot hindurch den Tatort betreten. Die Einrichtung des Reisebüros bestand aus zwei Schreibtischen mit je einem großformatigen Monitor und ergonomisch geformten Bürostühlen davor. Hinter den Schreibtischen befand sich ein großes Regal, in dem griffbereit diverse Reiseprospekte lagen. Jeweils zwei Besucherstühle vor den beiden Schreibtischen schlossen das Ensemble ab. Marek schaute einmal in die Runde. Die freien Wände waren mit Plakaten verziert. Palmenstrände, ein Bergpanorama und der Blick auf das Heck eines Kreuzfahrtschiffes, das in den Horizont und in eine untergehende Sonne hineinfuhr. Vor dem großen Schaufenster, das jetzt mit dunkelgrauen Tüchern verhangen war, standen weitere Besucherstühle um einen kleinen Tisch gruppiert, der ebenfalls reichlich mit Prospekten ausgestattet war. Die Kollegen des Tatorterkennungsdienstes waren bereits bei der Arbeit. Zwei weiße Schutzanzüge hatten sich über den Raum verteilt, eine weitere Person hockte am Boden.

      »Und da ist sie schon, unsere Leiche«, verkündete Ulrich Roose, nachdem er Mareks Blicke durch den Raum geduldig gefolgt war.

      Der am Boden hockende Schutzanzug drehte sich in die Richtung, aus der gesprochen wurde. Hinter dem Mundschutz und der Kapuze konnte Marek nur ein Paar braune Augen erkennen, was ihn an seinen eigenen Mundschutz erinnerte. Er holte ihn aus der Tasche des Overalls und setzte ihn über Nase und Mund. Dann heftete sich sein Blick auf den Körper, der vor ihm auf dem Boden lag. Das Hemd der Leiche war aufgeknöpft, das Unterhemd nach oben geschoben. Vereinzelte Blutflecke waren auf dem weißen Stoff zu sehen. Auf der linken Brustseite war eine scharfkantige kreisrunde Wunde zu erkennen. Als Marek sich leicht nach unten bückte, sah er in Höhe der Achsel eine weitere Schussverletzung. An dieser Stelle war das zurückgezogene Oberhemd blutdurchtränkt. Marek richtete sich wieder auf, machte vorsichtig einen Schritt zur Seite und stellte sich an das Kopfende der Leiche. Die Hose des Mannes saß locker über der Hüfte, die Gürtelschnalle war geöffnet.

      »Sie brauchen hier nicht wie auf Eiern zu laufen«, dröhnte Ulrich Roose. »Mit diesem Bereich sind wir schon fertig, sonst hätten wir die Frau Doktor noch nicht rangelassen.«

      Marek blickte auf und sah sich um. Hinter ihm stand Ulrich Roose und neben ihm die jetzt sehr zierlich wirkende Person im Schutzanzug, die eben noch vor der Leiche gehockt hatte. Marek blickte noch einmal in die braunen Augen, die plötzlich ganz anders auf ihn wirkten. Sie nickte und deutete zur Tür. Sie gingen die wenigen Schritte, gefolgt von Ulrich Roose, der sie wieder mit seinem riesigen Körper abschirmte.

      »Sander«, stellte sich die Ärztin vor, streifte ihre Latexhandschuhe ab, zog gleichzeitig ihren Mundschutz herunter und reichte Marek die Hand.

      »Quint, LKA Berlin! Was haben Sie für mich?«, erwiderte Marek etwas steif und versuchte seine Überraschung einigermaßen zu verbergen.

      Die Ärztin zögerte ein, zwei Sekunden, bis Marek begriff und ebenfalls seinen Mundschutz herunternahm. Sie nickte und ein kurzes Lächeln zog über ihren Mund. Ihr Gesicht war weiterhin von der Kapuze des Schutzanzuges umrahmt, so dass Marek ihre braunen Augen fixierte, als sie zu sprechen begann.

      »Männliche Leiche, zwei Schussverletzungen im Torso, eine davon mit vermutlich unmittelbarer Todesfolge. Gemäß Rektaltemperatur und unter Berücksichtigung der Raumtemperatur am Leichenfundort, kann der Todeszeitpunkt derzeit auf 18:00 bis 20:00 Uhr eingrenzt werden. Nach einer ersten Leichenschau lassen sich vorläufig keine weiteren Verletzungen ausmachen.«

      Schweigen. Marek nickte, er überlegte. »Wie alt schätzen Sie den Toten?« Es war die einzige Frage, die ihm einfiel. Die braunen Augen fixierten ihn, als wenn er einen Fehler gemacht hätte.

      »Herr Kollege, die Frau Doktor Sander hatte gerade einmal zwanzig Minuten«, rief Ulrich Roose. »Sie müssen schon die Obduktion abwarten. Jedenfalls ist es kein natürlicher Todesfall, dass sollte Ihnen vorerst genügen.«

      Dr. Kerstin Sander wandte ihren Blick von Marek ab und sah Ulrich Roose lächelnd an. »Da haben Sie recht, vor der Obduktion gebe ich immer nur ungern Prognosen ab.« Dann sah sie wieder zu Marek. »Er wird keine zwanzig mehr gewesen sein und auch noch nicht über fünfzig. Mehr kann ich leider nicht sagen.«

      »Dann haben wir das ja geklärt«, ging Ulrich Roose erneut dazwischen. »Wir würden jetzt ganz gerne die Leiche loswerden, Frau Doktor Sander. Meine Leute haben noch einiges zu tun.«

      Kerstin Sander nickte. »Ich warte nur noch auf den Transport zur Charité.« Sie sah noch einmal zu Marek und ging dann zurück zu dem Toten.

      »Wo ist denn eigentlich ihr Kollege«, wandte sich Ulrich Roose wieder an Marek. »Kowalski hatte doch noch einen Ermittler in seiner Operativen Einheit.«

      »Der kommt noch«, antwortete Marek. »Inzwischen müssen Sie mit mir vorliebnehmen.«

      »Das mache ich ja schon die ganze Zeit«, lachte Ulrich Roose. »Aber hier sollten Sie sich bitte in der nächsten halben Stunde nicht herumtreiben. Wir müssen noch ein bisschen Gas geben.«

      »Was ist mit dem Gebäude?«, fragte Marek. »Sind noch Personen im Haus? Was ist mit der Anwaltskanzlei und ganz oben gibt es doch eine Wohnung?«

      »Niemand da, aber Sie können das gerne noch einmal überprüfen«, erklärte Ulrich Roose.

      »Und was ist mit dem oder den Tätern, wie können die entkommen sein?«

      »Durch den Flur.« Ulrich Roose zeigte auf die Tür. »Die sind aber vermutlich nicht vorne, sondern hinten raus. Da ist ein gepflasterter Hof, von dem aus man in eine der Seitenstraßen gelangt. Den Hof haben wir schon abgesucht, allerdings ohne Spurenbefund. Das Umfeld nehmen wir uns vor, wenn wir hier fertig sind.« Ulrich Roose überlegte. »Ach ja, hätte ich fast vergessen. In der Tür zum Hof steckte von innen ein Schlüssel, der auch zu den beiden Türen passt, durch die man ins Reisebüro kommt. Vielleicht hat den jemand stecken lassen.«

      »Sehr unvorsichtig«, folgerte Marek. »Und was ist mit den oberen Stockwerken? Da haben Sie noch nichts gemacht?«

      »Ich habe eine Begehung im Treppenhaus gemacht«, erklärte Ulrich Roose. »Es gibt aber keinen Hinweis, dass sich der Tatort auf den ersten und zweiten Stock des Gebäudes ausdehnt.«

      »Ich kann aber doch noch einmal nachsehen?«, fragte Marek zögerlich.

      »Sie dürfen natürlich alles, nur im Moment nicht hier im Wege stehen«, antwortete Ulrich Roose lachend. »Falls wiedererwarten da oben doch jemand ist, erschrecken sie niemanden mit ihrem Aufzug. Eine Leiche reicht uns für heute.«

      Marek nickte. Er drehte sich um und ging durch die Tür zurück in den Flur. Der Beamte, der dort immer noch wartete, trat bei Seite, als Marek den Weg Richtung Hinterhof einschlug. Als Marek durch die Hintertür trat, schaltete der Polizist sogar das Licht ein, das auch draußen brannte. Der Hof war mit Waschbetonplatten gepflastert. Direkt dahinter gab es einen Querweg, der parallel zur Häuserzeile der Straße verlief. Links und rechts vom Hof waren die Grundstücke durch mannshohe Mauern abgetrennt.