Ole R. Börgdahl

Tod und Schatten


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Beide mit Schussverletzungen. Das hört sich doch nach einer größeren Sache an.«

      Dann sah Marek plötzlich seine Chance, ein gemeinsames Ziel. »Du hast recht, aber bis Montag haben wir ja noch genug Zeit, um Fakten zu schaffen.«

      »Fakten«, wiederholte Thomas. Seine Stimme klang erneut tonlos.

      »Ja, Fakten. Ich will bis Montag schon etwas vorlegen können. Leider ist die Identität des Toten noch unbekannt. Da sind wir auf die technischen Kollegen angewiesen. Bei der Frau haben wir zumindest einen Namen und eine Adresse. Dann noch der Tatort selbst. Wem gehört das Gebäude? Wer betreibt das Reisebüro? Wer arbeitet dort?« Marek räusperte sich. »Ich möchte, dass du schon einmal so viel wie möglich herausbekommst«, sagte er fest. »Über das Reisebüro und über diese Claudia Witte. Sie war bewusstlos, als ich sie gefunden habe. Mit etwas Glück können wir sie vielleicht schon morgen verhören. Da sollten wir vorbereitet sein.«

      »Und du willst heute noch etwas von mir hören?«, fragte Thomas.

      Marek wollte schon wieder einlenken, blieb dann zu seiner eigenen Überraschung fest. »Ja, trinke dein Bier aus, verabschiede dich von deinen Freunden und mach dich an die Arbeit. Ich fahre jetzt zum Krankenhaus.«

      Thomas hatte offenbar keine Einwände. »Was ist mit dem Tatort?«, fragte er stattdessen.

      »KHK Roose ist mit seinem Team noch hier. So schnell werden die nicht fertig. Wenn du die ersten Infos hast, können wir uns am Tatort treffen.«

      Thomas schien zu überlegen. Marek war sich nicht sicher, ob er seinen Kollegen mitgerissen hatte. Vielleicht klang es mehr nach Befehlen, als nach Vorschlägen, die er ihm unterbreitet hatte.

      »Gut, mal sehen was ich so finde«, erklärte Thomas schließlich. »Ich melde mich wieder.«

      Sie beendeten das Gespräch. Marek hielt sein Smartphone noch ein paar Sekunden am Ohr, nahm es herunter, schloss kurz die Augen und atmete dabei tief ein. Dann blickte er auf Ulrich Rooses Zettel, tippte die Nummer von Claudia Witte ins Telefon und ließ es klingeln. Er zählte diesmal nicht, gab es aber nach einer gefühlten Ewigkeit auf.

      *

      Auf seinem nächtlichen Weg zur Charité kam er an drei Berliner Sehenswürdigkeiten vorbei. Nachdem er den Großen Stern passiert hatte, ließ er die Siegessäule hinter sich und fuhr auf der Straße-des-17.-Juni dem Brandenburger Tor entgegen. Danach passierte er über die Ebertstraße und die Dorotheenstraße auch noch das Reichstagsgebäude. Als er schließlich die Spree überquerte, wurde aus der Wilhelmstraße die langgezogene Luisenstraße. Er fuhr fast einen Kilometer lang geradeaus und erreichte an der Nummer 65 den großzügigen Eingangsbereich der Rettungsstelle des Universitätsklinikums Charité-Mitte.

      Er parkte seinen Audi neben einem Krankenwagen und ging direkt unter der Leuchtschrift ins Gebäude. Er musste einer Rollstuhlfahrerin Platz machen, die ihm entgegenkam und die Rettungsstelle gerade verließ. Dann war er doch überrascht. Im Wartebereich zählte er ein gutes Dutzend Leute. Eine junge Frau mit einer bandagierten Hand lächelte ihn an. Marek lächelte zurück. Er sah sich noch einmal um, ging dann auf sie und ihre Freundin zu.

      »Entschuldigung, wo geht es hier zur Notaufnahme?«, fragte er die Frau mit dem Verband.

      »Das ist doch die Notaufnahme«, antwortete die Freundin an ihrer Stelle und schenkte ihm ebenfalls ein Lächeln.

      »Und wo meldet man sich an?«

      »Ach so«, sagte wieder die Freundin und zeigte auf eine Glastür am Ende des Ganges. »Da müssen Sie klingeln.«

      Marek bedankte sich. Er ging an den Wartenden vorbei, fand neben der Glastür den Klingelknopf mit dem Hinweis: Nach 23:00 Uhr bitte klingeln. Er sah auf seine Armbanduhr, es war tatsächlich schon Viertel vor zwölf. Dann klingelte er. Es dauerte eine halbe Minute, bis ihm der Summer die Tür öffnete. Im Empfangsraum saßen noch einmal vier Patienten. Marek ging direkt zum Tresen. Eine Krankenschwester hatte ihm bereits ein Formular und einen Kugelschreiber durch die Öffnung ihres Glaskastens geschoben. Marek schüttelte den Kopf und zeigte ihr seinen Polizeiausweis.

      »Mein Name ist Quint. In der letzten Stunde wurde ein Notfall eingeliefert. Der Name ist Witte, Claudia Witte.« Den Namen sprach er etwas leiser aus. »Ich möchte bitte den behandelnden Arzt sprechen. Und können Sie mir auch schon einmal sagen, wo die Patientin untergebracht ist.«

      »Untergebracht?«, wiederholte die Krankenschwester und zog Formular und Kugelschreiber auf ihre Seite der Glaswand zurück.

      »Ja, auf welcher Station liegt Frau Witte, Claudia Witte. Und wer behandelt sie?«, erklärte Marek noch einmal.

      Die Krankenschwester sah erst einen Stapel Papiere durch, die vor ihr auf dem Tisch unter dem Tresen lagen. »Hier ist sie nicht«, kommentierte sie. »Mit V oder mit W?«

      »Bitte? Ach so, ja, mit W, Witte, Vorname Claudia mit C.«

      Sie blätterte noch einmal den Stapel durch, schüttelte dann den Kopf. »Wenn die Aufnahme in der letzten Stunde war, müsste ich die Patientin hier finden.«

      »Sie ist bestimmt nicht hier über den Tresen gegangen«, vermutete Marek.

      Die Krankenschwester sah ihn an. »Nicht über den Tresen gegangen?«, wiederholte sie fragend.

      »Ich meine, sie ist wahrscheinlich durch die Hintertür ... Also, sie ist mit einem Krankenwagen eingeliefert worden. Zwei Beamte, zwei Polizeibeamte haben sie begleitet.«

      Die Krankenschwester zuckte mit den Schultern. »Ich kann im Computer nachsehen, aber ich glaube ...« Sie beendete den Satz nicht, zog sich die Tastatur heran und begann zu tippen. Nach wenigen Sekunden schüttelte sie erneut den Kopf. »Nein, keine Witte, bei uns liegt keine Frau Witte.«

      Marek überlegte. »Vielleicht wurde sie ja noch nicht registriert.« Er senkte wieder seine Stimme. »Es handelt sich schließlich um einen Polizeieinsatz. Wo kommen denn hier die Krankenwagen an, vielleicht kann ich da mal nachfragen?«

      Die Krankenschwester hatte sich von ihrem Stuhl erhoben. »Ich weiß nicht, ich könnte Sie nach hinten durchlassen, zur Ambulanz, aber ...«

      Dann wurde Marek plötzlich bewusst, wie er hier auftrat. Er entschuldigte sich bei der Krankenschwester, ging ein paar Schritte in eine Ecke des Empfangsraumes, zog sein Telefon hervor und wählte die Nummer der Zentrale. Er ließ sich zur Handynummer von Ulrich Roose durchstellen. Es klingelte fünfmal.

      »Ja, Roose!«, donnerte es.

      »Quint hier. Ich bin gerade in der Notaufnahme der Charité in der Luisenstraße ...«

      »Was machen Sie da denn?«, unterbrach Ulrich Roose Marek.

      »Das frage ich mich gerade auch. Wissen Sie, wohin unser Opfer gebracht wurde?«

      »Welches Opfer?«

      »Claudia Witte.«

      »Sie meinen das lebende Opfer«, stellte Ulrich Roose fest. »Luisenstraße, das ist doch die Rettungsstelle der Charité.«

      »Ja eben«, bestätigte Marek. »Hier ist sie aber offenbar nicht. Ich bin am Empfang, oder muss ich woanders hin?«

      »Ich würde sagen, Sie müssen ganz woanders hin.« Ulrich Roose lachte kurz auf. »Aber das können Sie ja vielleicht nicht wissen.«

      »Stimmt, weiß ich auch nicht«, entgegnete Marek. »Also, wo muss ich hin?«

      »Kennen Sie die Gewaltschutzambulanz in der Birkenstraße?«

      »Birkenstraße, Gewaltschutzambulanz?«, wiederholte Marek. »Das werde ich schon finden.«

      »Birkenstraße 62«, erklärte Ulrich Roose. »Ich werde Sie da gleich mal ankündigen. Fahren Sie jetzt gleich los?«

      »Bin schon unterwegs«, versicherte Marek und bedankte sich bei Ulrich Roose.

      *

      Das Navi seines Dienst-Audis führte ihn am Fritz-Schloss-Park vorbei