Simone Suhle

Geträumter Schmerz


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hatten ihr gesagt, dass sich ihre Briefe wie ein Roman lesen. Auch eine Schulkameradin meinte zu einem Klassentreffen, was nur alle fünf Jahre bei ihr stattfand, dass sie ihre Erlebnisse und Gedanken und Gefühle einfach zu Papier bringen sollte. All diese Leute, hat sie nicht ernst genommen und fühlte sich veräppelt. Aber vielleicht war ja etwas dran. Wenn sie ohne Punkt und Komma reden konnte, und ihr so manch einer gerne zuhörte und dabei schmunzeln musste, sagte sie sich eines Tages: „Na vielleicht sollte sie es doch einmal versuchen.“ Und so fing sie an, ihre Gedanken in den Laptop einzuspeisen und ihn zu füttern.

      Der Fernseher ist an, Platz genommen hat sie schon und sich sogar ein Gläschen Rotwein gegönnt. Mit ihrer Tochter hat sie telefoniert und erholt sich nun von ihren Nachtschichten, die sie als Sicherheitskraft in renommierten Firmen und Gebäuden leistet. Eigentlich war sie ursprünglich nicht Sicherheitskraft sondern hatte interessantere und anspruchsvollere Berufe. Nur leider konnte sie in diesen Berufen und Branchen keinen Job finden, der ihre Existenz sichern würde. Wenn sie stur weiter suchen würde, dann wäre sie wahrscheinlich noch heute arbeitslos. So geht sie als Überqualifizierte in dieser Branche jobben, trifft von Zeit zu Zeit auf Leute, denen es ebenso geht wie ihr und manchmal auf Leute, die voller Stolz diesen Beruf ausüben und meinen, dass sie mit Leib und Seele Wachmann sind. So ganz verstehen kann sie das noch nicht, inzwischen aber immer öfter. Die Menschen haben alle eine andere

      

      Ausgangposition, andere Erfahrungen in ihrem Leben gesammelt, aber ein und dasselbe Ziel – nämlich eine solide Beschäftigung auszuüben. Und so treffen sie sich dann aus den unterschiedlichsten Branchen vormals kommend bei dieser Arbeit, die manchmal sogar ganz spannend sein kann, wie im Film.

      Die einen wollen und können sogar ein Instrument spielen, die anderen nicht, weitere können fließend mehrere Fremdsprachen verstehen und sogar sprechen obwohl sie diesen so wenig Wert geschätzten Beruf ausüben, diesen Beruf eines Sicherheitsmitarbeiters. Die einen können Handarbeiten machen, häkeln, nähen und stricken, die andern nicht, natürlich nicht auf Arbeit. Ave kann einiges von all dem. Aber sie ist trotzdem ein Niemand. Sie sitzt zu Hause vor einem Laptop und schreibt sich alles von der Seele. Ave ist groß, Ave ist nicht hässlich. Ave kann kommunizieren und sogar flirten und trotzdem hat sie keinen Mann und ist allein, geschieden. So macht es den Anschein, als könne keiner mit ihr länger aushalten oder sie lässt es gar nicht erst dazu kommen. Sie weiß es noch nicht so genau. Denn sie hat es nicht probiert. Eigentlich könnte sie es mal probieren. Denn sie schielt nicht und X- oder O-Beine hat sie nicht, einen Buckel hat sie auch nicht und sie ist nicht einmal fett und das ganz ohne zu kotzen und ohne zu joggen. Sie ist einfach so wie sie ist ohne etwas dafür zu tun, nämlich eine ganz normale Frau von heute, die mit der Zeit geht.

      Jetzt tut sie endlich etwas für ihre Seele, die ihrer Meinung nach völlig verkümmert ist. Bloß, sie weiß noch nicht, was sie eigentlich tatsächlich will. Sie weiß immer nur ganz genau, was sie nicht will. Und das ist ihr Problem. So bleibt ihr nichts weiter übrig vieles auszuprobieren und sich selbst zu testen, was sie nicht will. Die Dinge, die sie will, macht sie einfach weiter ohne es bewusst wahrzunehmen und die Dinge, die sie nicht will, lässt sie einfach sein.

      Da es schon sehr spät und inzwischen dunkel draußen ist, möchte sie nun nicht mehr weiter machen und geht gleich ins Bett. So wird sie sich vor dem Fernseher noch ein bisschen entspannen und dann duschen und schlafen gehen, wie ihre Nachbarn auch. Morgen wird hoffentlich die Sonne scheinen, denkt sie, dann fliegen ihr die Gedankenblitze nur so zu. Und wenn nicht, ist es auch nicht schlimm. Denn sie schreibt, um sich mitzuteilen und nichts weiter. Entweder hat man etwas mitzuteilen oder man hat nichts mitzuteilen. So ist das eben. Egal ob man gerade ein Gespräch führt und sich unterhält oder ob Ave ihre Gedanken, die sie niemandem mitteilen kann, einfach so in den Laptop tippt. So einfach ist das. Die Hauptsache ist, es tut ihr gut. So scheint es zu sein.

      

       Kapitel II – Erinnerungen

      Die Sonne scheint und Ave hat gute Laune und vor allem gute Gedanken, Erinnerungen, die sie zulässt, egal ob es nur böse Träume waren und sind oder ob es der Realität entspricht, die tatsächlich einmal stattgefunden hat, glaubt sie schlummernd.

      Die Frau, die sich ein Leben lang immer als ihre Mutter ausgegeben hatte, bereitete Ave darauf vor, am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang, in der Morgendämmerung mit ihr in den Garten zu gehen. Ave war damals höchstens 4 Jahre alt und wusste noch nicht einmal wie sie heißt. Wenn sie beim Einkaufen von der Verkäuferin gefragt wurde, wie sie heißt, konnte sie nur den Nachnamen der Schwester ihrer Mutter nennen, den sie bei Gesprächen mitbekommen hatte, aber nicht ihren eigenen Namen. Denn keiner hatte ihr mitgeteilt, dass sie Ave Venzter hieß. Sie wusste nur, dass sie Ave gerufen wurde, wenn sie vom Spielen draußen aus dem Garten ins Haus kommen sollte, mehr nicht.

      So ging ihre Mutter mit ihr, wie am Vorabend schon angekündigt, raus in den Garten. Ihr Vater war nicht zu Hause. Sie kann sich nicht daran erinnern, wo er war. Oft war er auf Dienstreisen, wovon er dann viele Fotos, Mineralien und Pflanzen mitbrachte. Der Garten war groß und es waren viele Apfelbäume, Birnbäume und Kirschbäume im Garten und er war zugewachsen wie ein Wald und wenn man darin spazieren ging, war man aus manchen Ecken kaum zu sehen. Trotzdem war er gepflegt. Es gab kein Unkraut statt dessen viele blühende Pflanzen und immer frisch gemähten Rasen. Im hinteren Teil auf der linken Seite wurde sogar Gemüse angepflanzt. Kürbisse wuchsen zu Fußbällen heran. Auch Erdbeeren wurden auf einem größeren Quadrat gezüchtet, die alljährlich eine schöne Ernte ermöglichten und in Zucker gewälzt lecker schmeckten. Dieses Erdbeerbeet befand sich ebenfalls im hinteren Teil des Gartens zwischen Kirschbäumen und Apfelbäumen. Dort ging die Mutter von Ave mit ihr hin. Sie hatte einen Spaten dabei und buddelte ein Loch. Aber schon bald stieß sie auf Lehm und Steine sowie auf altes Porzellan, auf Scherben aus Glas und Porzellan und festen Sandboden und kam mit ihrem Spaten nicht weiter voran. Nur etwa einen halben Meter tief konnte sie buddeln. Ave stand daneben und schaute ihr zu. Ihre Mutter hatte ein Hauskleid an, was ihr viel zu weit war, in einer Farbe, die sie sonst nicht trug. Irgendwie sah sie anders aus als sonst. Ernst war sie und hatte weit aufgerissene Augen, wie eine Wahnsinnige blickte sie Ave an und in der Gegend umher. Ave stand daneben und konnte und wollte auch gar nichts tun. Sie stand wie angewurzelt da und schaute einfach nur zu, was ihre Mutter dort tat. Sie hatte keine Ahnung, was das sollte. Sie wartete und wusste nicht auf was sie eigentlich wartete. Sie stand einfach nur da und sah ihrer Mutter im morgendlichen Dunkel beim Mondschein zu. Sie spürte nur so eine Leere in sich. Sie wusste nicht, ob sie wieder rein ins Haus gehen würde, sich in ihr Bettchen schlafen legen würde, denn es war ja noch sehr früh am Morgen, oder ob sie sich darüber wundern sollte, was ihre Mutter dort im Dunkeln im hinteren Teil des Gartens tat. Sie fragte nicht einmal, weil die Situation so angespannt war. Sie sah ihr einfach nur zu.

      Dann nahm ihre Mutter plötzlich ein in Zeitungspapier gepacktes „Päckchen“, was sehr unregelmäßig aussah, so wie ein großer Fleischklumpen aus dem Fleischerladen, nur eben fest und vermutlich trocken nicht weich. Denn es knisterte, als sie es in die Hand nahm. Wenn man damals beim Fleischerladen einkaufen war, knisterte das damals in Zeitungspapier gewickelte Fleisch nicht. Das Papier wurde sofort feucht und der Klumpen war nicht Form beständig. So hatte es Ave jedenfalls beobachtet. Denn nicht nur einmal wurde sie zum Fleischerladen einkaufen geschickt worden, wo sie dann ihren eigenen Namen nicht einmal nennen konnte. Als ihre Mutter dieses eigenartige „Päckchen“ in den Händen hielt, schaute sie Ave bedeutungsvoll an und meinte zu ihr: „DAS BIST DU!“ Packte es in das Loch, das sie mit dem Spaten ausgehoben hatte und schüttete es mit Sand zu. Damit war der von ihr am Vorabend angekündigte „Akt“ abgeschlossen, den sie dann bei Morgendämmerung in Anwesenheit von Ave im Dunkeln ausführte. Die ganze „Angelegenheit“ war so eigenartig und unangenehm, dass sie von Ave völlig verdrängt wurde. Ave wagte es nicht einmal, ihre Mutter danach zu fragen, was das eigentlich sollte. Sie war damals erst 4 Jahre alt und konnte das auch gar nicht verstehen. Sie wusste noch nicht, dass es Menschen gab, die ehrlich waren und Menschen gab, die unehrlich waren und sogar Menschen gab, die fähig waren schreckliche Verbrechen und Straftaten zu begehen. Sie befand sich noch in einem Alter, wo sie viele Dinge zum ersten Mal in ihrem Leben sah, hörte und selbst erlebte.

      Als Ave etwa 5 Jahre alt war,