Ralf Steinit

Weiße Katze auf weißem Grund


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      »Da hängt ein Schuh in der Hecke«, sagte die Frau, die mit einem ausgestreckten Finger zu der Hainbuchenhecke deutete.

      Tamira folgte ihrem Finger mit den Augen. Einen hängenden Schuh sah sie nicht. Es war ein Bein, das aus der Hecke ragte.

      »Der Name der Insel«, erklärte Ludwig, »hat mit Katzen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht das Geringste zu tun.«

      Die drei Kater saßen auf einer Bank unter einer Platane, die im Park an der Landspitze stand. Ein frischer Wind fuhr durch die Blätter des Baumes. Die Blätter rauschten. Oskar spitzte die Ohren. Wenig später bemerkte Didier eine Polizeisirene, die sich zügig näherte. Sie wurde so laut, dass Ludwig zu knurren begann, und endete plötzlich, als ob Ludwigs Knurren sie zum Verstummen gebracht hätte. Vor ihnen lagen die Schafe im Schatten der Baumkronen. Sie lagen innerhalb und außerhalb des mobilen Zauns, den dort jemand für sie aufgestellt haben musste. Ein Ausflugsdampfer fuhr die Spree hinab. Er passierte die Durchfahrt zwischen der Klosterinsel und der Landspitze, während ein Segelboot, das die Hummelsburger Bucht verließ, an der Hochzeitsinsel und dem Katzenbruch vorüberkam.

      »Bruch bezeichnet einen Sumpf«, fuhr Ludwig fort. »Manchmal heißt es auch Brook oder Broich. Ich glaube, dass bei Katzen ähnlich wie bei Katten eine im Vokal gekürzte Form von mittelhochdeutsch kôt, quâd und kât vorliegt und somit die Bedeutung Kot oder Schmutz. Wir haben hier also einen schmutzigen Sumpf.«

      »Diese Etymologie ist offensichtlich unwissenschaftlich«, erwiderte Didier. »Es lässt sich ganz einfach daran erkennen, dass niemand auf den Gedanken käme, einer Insel den Namen schmutziger Sumpf zu geben. Die Ursache des furchtbaren Namens liegt in einem furchtbaren Ritual. Vor langer Zeit pflegten die Menschen an der Spitze dieser Halbinsel eine eheliche Verbindung einzugehen. Es gab einen Brauch, dem sich niemand entziehen konnte, der sein Glück nicht gefährden wollte. Um die Ehe unter einen guten Stern zu stellen, musste eine Katze geopfert werden. Manche Menschen konnten es nicht ertragen, das Leid einer arglosen Katze zu sehen, die auf dem Altar getötet wurde, vor den sie im Anschluss traten. Man kam deshalb auf den Einfall, die eigentliche Hochzeit vom Ritual zu trennen. Der Mann opferte nun die Katze auf der Insel, die bald Katzenbruch heißen sollte, und fuhr dann hinüber zur Hochzeitsinsel, wo die Frau schon wartete. Es handelt sich also um selbsterklärende Inselnamen.«

      »Das hast du dir doch gerade ausgedacht!«, erregte sich Ludwig. »Ich kenne den archäologischen Befund. Auf der gesamten Insel wurde kein einziger Katzenknochen entdeckt.«

      »Falls er sich die Geschichte ausgedacht hat«, wandte Oskar ein, »kann es nicht weit von der Wahrheit entfernt sein. Ich habe gehört, dass die Menschen früher sehr grausam zu den Katzen waren.«

      »Das war in alter Zeit«, sagte Ludwig. »Heute würde kein Mensch ein anderes Lebewesen misshandeln. Die Menschen hatten etwas, das sie die Aufklärung nennen.« Er zupfte mit seinen Zähnen an einer Stelle seiner Pfote, an der sich das Fell hartnäckig verknotet haben musste. »Die Aufklärung«, wiederholte er.

      Didier erhob sich, streckte seine Beine und machte den Rücken rund, wobei ihn die Anstrengung am ganzen Körper zittern ließ und sich sein Schwanz aufzurichten begann. Er lief mit den Vorderbeinen zwei kleine Schritte und streckte die Hinterbeine gleichzeitig noch weiter, ohne sie von der Stelle zu bewegen. Die Vorderbeine schoben sich über das Ende der Sitzfläche der Bank hinaus, bis sein Kinn die Kante erreichte. Er lag mit Kopf, Hals und der Hälfte des Rumpfes flach auf dem Holz, während der hintere Teil seines Körpers einen steilen Anstieg verzeichnete, der sich im Schwanz fortsetzte, dessen Spitze zu einem Bogen überhing. In dieser Position blieb er, um den Mund zu einem gewaltigen Gähnen aufzureißen, das seine Augen hervortreten ließ. Ludwig schloss sich dem Gähnen an. Er kniff seine Augen allerdings zusammen. Oskars Gähnen ging mit einer heftigen Bewegung seiner Ohren einher.

      Von der Klosterinsel fuhr ein Boot in gerader Linie über den Fluss. Es war ein flacher Transportkahn mit einer breiten Ladefläche und einem Außenbordmotor. Der Kahn hatte die Spitze der Halbinsel beinah erreicht und hielt auf eine Stelle zu, an der eine Betontreppe die Uferlinie unterbrach. Nachdem der Mann mit dem üppigen Vollbart den Außenbordmotor abgestellt hatte, verlor der Kahn an Geschwindigkeit und stieß sanft gegen die unterste Stufe der Treppe, auf der einige Poller standen, die zum Festmachen eines Bootes dienten. Der Mann legte Schlingen um zwei der Poller und lief in Richtung des mobilen Weidezauns.

      »Könnte das der Schäfer sein?«, fragte Ludwig.

      »Er ist mit einem Boot gekommen«, antwortete Didier. »Ein Schäfer würde bestimmt nicht mit einem Boot zu seinen Schafen kommen.«

      »Das mag sein«, sagte Ludwig, »aber er trägt hohe Lederstiefel und einen Filzhut, den man gewiss als Schäferhut bezeichnen kann. Mit dem Vollbart, den Stiefeln und dem Hut sieht er wie das Gemälde eines Schäfers aus.«

      »Zumindest fehlt ihm der Schäferstab«, wandte Didier ein, »und einen Hütehund hat er auch nicht dabei.«

      »Warten wir doch einfach ab, ob er sich um die Schafe kümmert«, schlug Oskar vor. »Ein Schäfer kümmert sich um Schafe.«

      Die Schafe, die innerhalb und außerhalb des mobilen Zaunes standen, hatten schwarze unbewollte Köpfe und weiße Beine, die zerbrechlich wirkten, da sie aus der dicken Wolle der Leiber ragten. Wenn sie das Gras fraßen, wedelten die Schafe mit den schwarzen Ohren, um die Fliegen zu verscheuchen. Hoben sie die Köpfe, weil ein Geräusch ihre Ruhe störte, standen die Ohren waagerecht vom Kopf ab.

      Der Mann mit dem Filzhut stieg über den mobilen Zaun und näherte sich den Schafen, die er der Reihe nach untersuchte. Wie es schien, kannten die Schafe den Mann. Sie ließen sich die Untersuchung gefallen. Der Mann war offensichtlich der Schäfer. Er verhielt sich wie ein Schäfer und er sah wie ein Schäfer aus.

      »Mein alter Freund Paul McCartney hat ein Lied über ein Schaf geschrieben«, begann Didier zu erzählen. »Das Schaf stammte von seiner schottischen Farm und hörte auf den Namen Jet.«

      »Dieses Lied«, unterbrach ihn Ludwig, der sich auf die Seite gedreht hatte und seine gestreckten Hinterbeine gegen Oskars Flanke stemmte, »handelt doch wohl von einem Hund.«

      »Mein alter Freund Paul«, empörte sich Didier, »hätte niemals ein Lied über einen Hund geschrieben!« Er hob eine Pfote zu seinem Kinn und kratzte die Stelle ausgiebig. »In dem Lied geht es um ein Schaf, das die Absicht hatte, Paul zu heiraten. Die Ankündigung erzeugte eine unglaubliche Aufregung. Jets Vater, der wahrscheinlich als Sergeant Major beim Militär diente, wollte die Hochzeit unterbinden. Er behauptete, Jet wäre zum Heiraten nicht alt genug. Es stellte sich merkwürdigerweise bald heraus, dass der Sergeant Major eine Suffragette war.«

      »Ein Labrador Retriever«, präzisierte Ludwig und drückte seine Beine so heftig gegen Oskars Seite, als würde er ihn von der Bank schubsen wollen. »Das Lied heißt bekanntlich nach einem Labrador Retriever.«

      »Paul entschloss sich dazu, mit dem Schaf zu fliehen«, fuhr Didier fort und leckte mit der Zunge über seine Nase. »Er bat das Schaf, das bereits für die Hochzeit gekleidet war, auf den Rücksitz zu klettern, und sie flogen in den Himmel.«

      »Sie flogen in den Himmel?«, fragte Oskar. »Es mag um ein Schaf oder einen Hund gehen, manches daran erscheint mir jedenfalls unverständlich.«

      »Die Ursache für die Schwierigkeiten bei der Analyse des Textes«, erklärte ihm Didier, »liegt in den Mengen an Marihuana, die Paul zu dieser Zeit rauchte.«

      Der Schäfer war erneut über den Zaun gestiegen und untersuchte nun die Schafe, die sich außerhalb des mobilen Geheges befanden. Das Vorderbein eines der Schafe, die in einer Gruppe bei einem Perückenstrauch lagerten, erregte die Aufmerksamkeit des Schäfers. Es schien, als hätte das Schaf eine Verletzung am Fesselgelenk. Der Schäfer klopfte dem Schaf mit einer Hand sanft auf den kahlen Hinterkopf, während er mit der anderen Hand an seinem Bart zog.

      »Das Schaf muss sich verletzt haben, als es über den Zaun gesprungen ist«, vermutete Oskar und stand auf, weil er genug davon hatte, dass Ludwig ihn mit seinen Beinen bedrängte.

      »Schafe