E.R. Greulich

Der anonyme Brief


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      E.R. Greulich

      Der anonyme Brief

      Ein Roman um Karl Liebknecht

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Zitat

       1 Licht im Novembernebel

       2 Erfolg in Paris

       3 Gezügelte Ungeduld

       4 Von Bienen und Menschen

       5 Strudel in der Schleuse

       6 Deutsche Geschichte - einmal anders

       7 Illegale Fortsetzung - ganz legal

       8 Plüsch und Paragrafen

       9 Das dritte Gesicht

       10 Begegnung mit lebendiger Vergangenheit

       11 In London ist nicht nur Nebel

       12 Preußischer Schnürleib - und eine Libellentaille

       13 Singen mit geschlossenem Mund?

       14 Was wäre ein Mensch ohne Freunde

       15 Gericht im Reichstag

       16 Die Wölfe sammeln sich

       17 Wann Geheimnisse keine Geheimnisse sind

       18 Die Wölfe heulen

       19 Bern ist nicht Berlin

       20 Der Kaiser demonstriert

       2I Ein Wahlsieg darf kein Pyrrhussieg sein

       22 Nagelprobe

       23 Wermut in der Urlaubsfreude

       24 Verpflichtung ohne Stempel und Siegel

       Nachbemerkung des Autors

       Impressum neobooks

      Zitat

      Nur das Leben ist unmöglich, das alles laufen lassen wollte, wie es läuft. Nur das ist möglich, das sich selbst zu opfern bereit ist, zu opfern für die Allgemeinheit.

      Karl Liebknecht an seinen ältesten Sohn Helmut

      1 Licht im Novembernebel

      Der gut mittelgroße Mann ließ die Geräusche der Bahnhofshalle hinter sich, am Portal verharrte er, schaute suchend hinunter zum Droschkenhalteplatz. Sein Gesicht mit der hohen Stirn und den dunklen Augen wurde von einem breitrandigen Hut überschattet. Obwohl müde von der Reise, waren seine Bewegungen bestimmt, und das durchgeistigte, ein wenig asketenhafte Gesicht vergaß kaum jemand, der es einmal gesehen hatte.

      Berlin empfing ihn am Abend des 19. November 1912 mit Nebel. Die Lichter der Gaslaternen warfen matte Reflexe auf das feuchte Pflaster.

      "Paule - Paul, der Dokter kommt!"

      Karl Liebknecht hörte den Ruf, lächelte und stieg die Stufen hinunter. Der Droschkenkutscher kam ihm entgegen und nahm den Koffer. Freundlich, ein wenig abwesend, erwiderte Liebknecht das Willkommen, lauschte dem wohlvertrauten Dialekt des älteren Berliners. Paul Dillack gehörte zu den wenigen Droschkenkutschern, die in den Reihen der Partei standen.

      Dillack wand die Zügelleine von der Bremse und ermunterte den Wallach mit einem Schnalzlaut. "Nu los, Aujust, aber 'n bißken dalli, der Dokter wird müde und janz schön hungrich sein."

      Während sie im eintönigen Rhythmus der Hufschläge dahinzockelten, plauderte Dillack, gab sich, die Abgespanntheit des Fahrgastes begreifend, selbst die Antworten. "Wieder 'ne feine Rede jewesen, Dokter. Ick hab die Auszüje heute im Vorwärts jelesen. - ... und die Krüppel werden verjeblich um Brot und Arbeit rufen, sie werden einen Leierkasten bekommen ... Also wenn Worte töten könnten, die Kriegsmacher wärn längst erledigt. Bloß, det Jesindel hört ja nich. Sowat lässt nich vom profitablen Jeschäft, wenn wir nich dazwischenfahren. Aber et is schon jut, wenn erst mal alle Kleenen hinhörn."

      Dialekt oder Großstadtjargon? Kann eine Großstadt Heimat sein? Liebknechts Gedankenfluss verharrte. Ist sie dort, wo man geboren wird? Als Vater die Chefredaktion des Vorwärts übernommen hatte, sind wir endlich sesshaft geworden. Nun waren wir nicht mehr gejagt und vertrieben, nun wurde Berlin im Herbst 1890 unsere zweite, wirkliche Heimat.

      "Ich hoffe ja ooch", meditierte Dillack auf dem Kutschbock, "die Kommißköppe werden sich überlejen, ob sie aus dem Balkankrieg 'nen Europakrieg machen. Det hättense sich nich träumen lassen, wie die Arbeeter überall mobil werden. Also hier in Berlin, Dokter, et war 'ne Wucht. So nervös hab ick die Blauen selten jesehn. Der Saal hätte zehnmal so groß sein können. Der Jaures hat keen Blatt vor den Mund jenommen. So 'n richtijer Feuerkopp. Kann man sich kaum vorstellen, det der Professer is. Und det Dollste, sie wollten ihm den Mund verbieten. In einer deutschen Veranstaltung dürfe nich französisch jesprochen werden. Wat macht er? Spricht einfach deutsch. Den Jubel könnse sich nich vorstelln. Am liebsten hätten wir ihn zum Schluss uff Händen aus dem Saal jetragen. Ein Glück, dass et überall so feine Kerle jibt."

      Liebknecht war dankbar für den Bericht aus erster Hand über den Verlauf der Kundgebung in Berlin. "Die feinen Kerle werden immer mehr in der Welt, Genosse Dillack."

      "Det is wahr." Mit neuerlichem Schnalzlaut schreckte Dillack den Wallach aus seinem schläfrigen Trott.

      Liebknecht fröstelte, er drückte sich in die Ecke des Sitzes und verfiel wieder in Nachsinnen. Der Wasserkopf Berlin - welch simple Metapher