E.R. Greulich

Der anonyme Brief


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die Flasche im Eiskübel deponierte, fragte sich Scheidemann, ob es sich bei Morizet nur um naiven Wissensdurst handele. Er wusste nicht, dass der temperamentvolle Franzose ein Freund Liebknechts war und als Journalist für die Humanite schrieb. Mit aufmunternden Worten trank Scheidemann den drei Genossen zu. Als er das Glas wieder hinsetzte, war er sich klar über seine Taktik: auf keinen Fall Grundsatzfragen behandeln. Lasse ich mich hier aufs Glatteis führen, dann ist womöglich in den nächsten Tagen in irgend so einem Oppositionsblättchen etwas vom Mann mit den zwei Zungen zu lesen. Es wäre nicht der erste Angriff von jener Seite. Mit dem Zeigefinger strich er sich die Sektfeuchte vom Bart auf der Oberlippe und fragte Morizet liebenswürdig, ob er es für falsch halte, in einer Massenveranstaltung der Völkerverbrüderung auf derartige Traditionen hinzuweisen.

      Im Gegenteil, das sei genau das Richtige, versicherte der dritte Genosse, Boulbec mit Namen. Er war der Älteste am Tisch und erinnerte Scheidemann an einen Epikureer, der stets aus dem Leben das Beste zu machen weiß. Womöglich rührte der Eindruck von seinem Bäuchlein her, dem vollen Gesicht mit der fleischigen Nase und der blanken Glatze.

      Na also, Scheidemann trank Boulbec zu, da sei ja die Einigkeit zwischen Franzosen und Deutschen wiederhergestellt. Mit diesem charmanten Waffenstillstandsangebot hoffte er auf mehr Zurückhaltung des aggressiven Struwwelpeters. Ihm war jetzt am allerwenigsten nach Politisieren zumute. Weit lieber hätte er bei unverbindlicher Plauderei das Leben in diesem Lokal beobachtet. Dessen Publikum schien sich neben Angestellten und besser bezahlten Arbeitern aus Journalisten und Angehörigen freier Berufe zusammenzusetzen, hatte aber wenig von der Atmosphäre jener Künstlerkneipen, die den Fremden als Attraktion vorgeführt werden. Die Mehrzahl der Besucher schien das Etablissement als zweites Zuhause zu betrachten, der Ton war familiärer als in den meisten Berliner Restaurants.

      Scheidemanns Hoffnung trog, es schien, als habe dieser Morizet schon lange darauf gewartet, mit ihm sprechen zu können. Morizet sagte, er halte es für schädlich, innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten in Kampfveranstaltungen gegen den Klassenfeind hineinzutragen. Aber hier im kleinen Kreis könne doch über interne Fragen gesprochen werden. Die Anwendung konkreter Kampfmaßnahmen im Falle eines imperialistischen Krieges sei ja bekanntermaßen erst durch die Bemühungen Lenins und Rosa Luxemburgs in die Stuttgarter Resolution hineingenommen worden. Bernstein und die Leute seiner Couleur seien keineswegs davon erbaut gewesen. Sie hätten es - wäre Bebel nicht gewesen - zu verhindern gewusst.

      Überlegen-nachsichtig strich sich Scheidemann den gepflegten Spitzbart. "Wissen Sie, Genosse Morizet, das sind doch lediglich Fragen der öffentlichen Taktik. Soll man dem Gegner genau aufs Butterbrot schmieren, was die Internationale im Kriegsfall zu tun gedenkt?"

      Bliebe also die Frage, gab Morizet zu bedenken, was die Parteiführungen in besagtem Fall für möglich hielten.

      Er habe bereits betont, bemerkte Scheidemann nonchalant, dass er es für abträglich halte, derartig heikle Fragen vor aller Welt auszutragen.

      Vor aller Welt? Ganz wie der Genosse Scheidemann vorgeschlagen, säßen sie hier doch gemütlich und privat, erinnerte Morizet.

      Champagner bestellt zu haben, fand Scheidemann angesichts dieser Unterhaltung nun ein wenig unpassend. Auf allen Tischen standen Siphons. Es wurde meist Rotwein getrunken. Die Leute spritzten ihn mit dem Kohlensäurewasser. Es wäre schön, mein lieber Morizet, dachte Scheidemann, wenn wir hier gemütlich und privat säßen. Doch du willst etwas Offizielles aus mir herausquetschen. Aber ich kenne deinen Typ und eure Termini. Imperialistischer Krieg. Was weiß der einfache Mann damit anzufangen? Ich habe vom Krieg und vom Frieden gesprochen, das versteht jeder.

      Boulbec kam Scheidemann abermals zu Hilfe. "Eben, Genosse Morizet", nahm er dessen Erwiderung auf, "man muss auch mal verschnaufen, ganz Mensch sein, in der Politik haben wir an diesem Abend wohl unser Möglichstes getan."

      Morizet lächelte ein wenig boshaft über Boulbecs Selbstzufriedenheit und versuchte auf andere Art, beim Gegenstand zu bleiben. "Die beste Politik ist Menschlichkeit." Morizet fragte Boulbec, ob er diesen Satz für falsch halte.

      "Der Satz könnte von Rousseau stammen, vielleicht von Diderot", orakelte Boulbec.

      Monizet blinzelte Boulbec an. "Der Satz ist von Liebknecht."

      "Ein überzeugender Aphorismus", bemerkte Scheidemann.

      "Wäre er mir bekannt gewesen, ich hätte ihn in meiner Rede zitiert."

      Morizet tat überzeugt. "Als interessantes Phänomen empfinde ich folgende Tatsache", er sagte es im Plauderton, als wolle er auf ein neutrales Thema kommen, "obwohl es in allen Parteien der Internationale zwei Hauptströmungen gibt, könnte man glauben, die Führer der internationalen Sozialdemokratie sind allesamt links stehend, sofern man ihre Reden auf Massenveranstaltungen betrachtet. Schon aus dem Grund bin ich gespannt auf die Rede Molkenbuhrs in Amsterdam, die morgen früh in der Humanite abgedruckt sein wird. Ich wette, auch da trifft zu, was ich eben festgestellt habe. Dabei gibt es doch wohl keinen Zweifel, dass der Genosse Molkenbuhr zum rechten Flügel der deutschen Sozialdemokratie gehört. Bei Ihnen, Genosse Scheidemann, scheint mir das nicht immer so klar ersichtlich zu sein. Nur deshalb meine Frage zu Anfang des Gesprächs."

      Mit Genugtuung vermerkte Scheidemann den nun folgenden Disput zwischen den französischen Genossen. 0ffensichtlich warf Boulbec dem Morizet vor, er habe sich unhöflich benommen, Scheidemann plump attackiert. Leger versuchte den Streit der beiden zu schlichten und fuhr sie an, sich endlich zu beherrschen. Einlenkend schlug Morizet vor, dass er zur Buße vier Calvados bestellen werde. Leger übersetzte diesen Vorschlag und unterschlug das Wort Buße nicht.

      Scheidemann hielt die Hand vor den Mund und gähnte dezent. Freundlich erklärte er, keinen Grund zur Buße zu sehen. Es sei ein anregendes Gespräch gewesen, die Welt wäre langweilig, seien alle immer einer Meinung. Doch jetzt spüre er die Anstrengungen des Tages, und er bitte die Genossen um Verständnis für sein kaum noch zu bezwingendes Schlafbedürfnis.

      Lachend erklärten die Drei, dass auch sie baldigem Schlaf nicht abgeneigt seien. Boulbec ging voraus und rief eine Autodroschke herbei. Zu viert fuhren sie zum Hotel, in dem Scheidemann übernachtete.

      Morizet drückte Abschied nehmend Scheidemann die Hand und bat um Nachsicht für seine französische Impulsivität. Sozusagen als Ausgleich nehme er an, dass Jaures in Berlin ähnliche Fragen gestellt würden. Dessen ehrliche Kriegsgegnerschaft stehe zwar außer Zweifel, ansonsten aber gehöre er keinesfalls zum revolutionären Flügel der Partei.

      Scheidemann bewahrte weiterhin Kontenance. "Auf dem Münchener Parteitag wurde Karl Liebknecht wegen seines ungehörigen Tons gegen Jaures vom Genossen Bernstein zur Ordnung gerufen", erinnerte er, und es sollte ein Kompliment für Jaures und die französische Partei sein. "Es war ein handfester Familienstreit in unserer Partei."

      "Wobei allerdings Familienvater Bebel dem jungen Mann bescheinigte, dass er eine schneidige Feder führe", ergänzte Morizet. "Ferner erklärte August Bebel, wenn Liebknechts Vater noch gelebt hätte, wäre dessen Antwort an Jaures schärfer ausgefallen."

      "Man sollte Sie ins Parteiarchiv holen", lobte Scheidemann ironisch, "Sie wissen gut Bescheid in der Historie unserer internationalen Bewegung."

      Morizet hob abwehrend die Hände. "Das Schicksal bewahre mich vor Aktenregalen."

      Boulbec und Leger nahmen ihn freundschaftlich bei der Schulter und zogen ihn mit sich fort. "Du kannst es nicht lassen", räsonierte Boulbec, schaute noch einmal zurück, und seine Geste deutete Winken und zugleich Entschuldigung an.

      Scheidemann erwiderte den Gruß und schritt durch die Drehtür des Hotels. Zuvorkommend überreichte man ihm an der Rezeption den Zimmerschlüssel. Unzufrieden mit sich selbst, zog er die goldene Kapseluhr aus der nach neuestem Schnitt geschneiderten Weste: Jetzt ist es zu spät für den Nachtzug. Anstatt mich von dem Radikalinski Morizet langweilen zu lassen, hätte ich im Schlafwagen einen halben Tag gewinnen können. Während er die Uhr wieder sorgfältig wegsteckte, hatte er sich bereits damit abgefunden, erst am andern Tag reisen zu können. Ein Schlafwagenbett hält übrigens keinen Vergleich mit einem französischen Hotelbett aus, dachte er. Er ließ sich noch einen leichten Imbiss aufs Zimmer bringen, ehe er sich gähnend im weichen Pfühl