E.R. Greulich

Der anonyme Brief


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      "Weniger in Amsterdam, sondern in Brüssel und Paris ist die Opposition in letzter Zeit sehr mobil geworden."

      Von Paris könnte ich es bekräftigen, dachte Scheidemann, aber ich werde es nicht ausplauschen wie der alte Esel Molkenbuhr. Ungeduldig schaute er nach einer Autodroschke aus, langsam wurde ihm kühl. Das Wetter in Berlin war auf leichten Novemberfrost umgeschlagen.

      Eifrig wollte Kinkel den Lagebericht fortsetzen, doch mit einer, Kopfbewegung zum Halteplatz der Pferdedroschken hemmte Scheidemann seinen Redefluss und bemerkte seufzend, er werde nun doch mit einem Hafermotor vorliebnehmen. Eilfertig packte Kinkel den Koffer am Griff und ließ ihn erschrocken wieder sinken. An Muskelkraft hatte er nicht halb soviel zu bieten wie an guten Manieren.

      "Lassense mich mal, das mach ich seit meinem zwölften Lebensjahr." Geübt schwang der im Lodenmantel das schwere Gepäckstück auf die Schulter, marschierte los und setzte den Koffer auf den Bock der ersten Pferdedroschke in der wartenden Reihe. Erleichtert und kopfschüttelnd folgten die beiden dem Hilfsbereiten. Man könnte denken, der erste Windstoß pustet den langen schmalen Körper um, dachte Scheidemann, aber der Bursche hat mehr Kraft, als man ihm zutraut. "Was bin ich Ihnen schuldig?", fragte er, und seine Hand fuhr in die Tasche des gehrockartigen Mantels.

      "Nö, nö, Genosse Scheidemann, so war's nicht gemeint. Bodo Eckstein is mein Name, wohne in Pankow, bin dort im Jugendausschuss der Partei."

      "Und Sie sind sich ganz sicher, dass ich wirklich der bin, für den Sie mich ..."

      "Na klar, Genosse Scheidemann, gleich hab ich Sie erkannt. Hatte bloß nich den Mumm, Sie anzusprechen. Aber jetzt, wo sich nun die Jelejenheit so ergibt, hätt ich schon 'ne Bitte."

      "Entschuldigen Sie, bester Genosse Ecken ..., äh, Ecksteiner", Kinkel hatte sich beflissen eingeschaltet, "vielleicht können Sie das schriftlich ... Genosse Scheidemann ist abgespannt von der Reise, möchte sicherlich ..."

      Nichts Dümmeres als diesen Burschen jetzt abzuschieben, dachte Scheidemann gereizt, ohne es zu zeigen, der erzählt seinen Jugendlichen womöglich, dass an den arroganten Scheidemann kein Herankommen sei. Jovial legte er Eckstein die Hand auf die Schulter und tat, als sei Kinkel nicht vorhanden. "Steigen Sie mit ein, reden Sie frei von der Leber weg, so kommen wir beide zu unserm Recht."

      Unter Dankesworten nahm Eckstein in der Droschke Platz.

      Mit zusammengepressten Lippen drückte sich Kinkel in die Ecke des Rücksitzes. "Es ist so", begann Eckstein, "wenn man den Jungens nicht öfter was Aufmunterndes bietet, dann lahmt das Gruppenleben. Nu hab ich den Bericht über Ihre Pariser Rede im Vorwärts gelesen und dachte, Mann, so was brauchen wir. Sozusagen 'n historischer Abriss über die antimilitaristischen Traditionen unserer Partei. Wenn Sie in der Linie mal als Redner, Genosse Scheidemann …, die öffentliche Jugendversammlung würden wir schon organisieren. Natürlich mit 'nem ganz neutralen Thema."

      Neuerdings avanciere ich zum Magneten für radikale Elemente, ging es Scheidemann durch den Kopf. Der ist halb so alt wie Morizet, doch zehn Jahre weiter, dann hat er nicht weniger Haare auf den Zähnen als sein französischer Kumpan. Er kommt aus den untersten Schichten, erstaunlich, wie er sich um ein einigermaßen gutes Deutsch bemüht. Ohne das Wohlwollen in seiner Miene zu mindern, fragte Scheidemann:

      "Sagen Sie, Genosse ..., Genosse ..."

      "Eckstein, Bodo Eckstein is mein Name, aber sagense ruhig Botte zu mir. War lange genug Bottkeule, ehe ich mich zum Laboranten raufgestrampelt habe."

      "Einverstanden", Scheidemann war belustigt über diese Mischung von offenherziger Naivität und vitaler Pfiffigkeit. "Was ich Sie also fragen wollte, Genosse Botte: Ist nicht neulich erst eine Jugendversammlung polizeilich aufgelöst worden?"

      Gelassen winkte Botte ab. "Eine? Es ist schon mehr die Regel. Mit dem verschärften Gesetz über Jugendvereine haben die gehofft, die Jugendarbeit kaputtzumachen. Aber wir sind ja nich janz so dämlich wie die Blauen."

      Die beste Gelegenheit, aus erster Hand etwas Konkretes über die Methoden der Polizei zu erfahren, dachte Scheidemann und sagte: "Entschuldigen Sie, Genosse Botte, wenn ich ein bisschen dumm frage, aber Jugendarbeit ist - ist gewissermaßen nicht mein Ressort, der Genosse Ebert wäre zuständiger. Vor Überlastung kann man sich leider zu wenig um diesen wichtigen Abschnitt der Parteiarbeit kümmern. Wie ging das in Ihrem Fall vonstatten?"

      Nachdenkend hob Botte den länglichen Kopf mit der großen Nase, seine Stirn bekam kleine Falten, als er sich bemühte, die Vorgänge zu rekonstruieren. "Das erste Mal haben sie aufjelöst wejen des politischen Themas. Weil, das Jesetz verbietet Jugendlichen unter einundzwanzich politische Betätigung. Also machten wir die nächste Versammlung mit 'm unpolitischen Thema. Die Pickelhaube hat erst ziemlich spät jemerkt, dass wir sie vereiert hatten. Nu kamen sie damit, der Referent muss 'nen schriftlichen Ausweis über eine pädagogische Praxis vorweisen. Holten wir uns einfach 'nen Genossen Stadtverordneten. Der ersetzt keinen Ausweis, sagte der von der Polente. Da haben wir 'ne ganze Stunde über Geschäftsordnungsanträge diskutiert. War natürlich 'n Dreh. So konnten wir schon allerhand unterbringen von dem, was jesagt werden sollte. Leider hat der Blaue den Braten dann doch jerochen und uns aus dem Saal jagen lassen."

      "Sie haben Humor", Scheidemann lachte amüsiert, "unter solchen Umständen soll ich also meine knapp bemessene Zeit ..."

      "Nö, nö." Botte blieb unbeirrt. "Da sagt eben der Versammlungsleiter, der polizeilichen Anweisung müsse nachgekommen werden. Er bitte den Saal zu verlassen, aber Interessenten könnten zum Jugendheim kommen, um bei Jesellschaftsspielen, Volksliedern und Volkstänzen wenigstens noch etwas von dem Abend zu haben. Gegen die Pfleje deutschen Volksgutes dürfte wohl selbst der Herr Polizeipräsident nichts einzuwenden haben. Je nach Umstände jehn wir einzeln oder jeschlossen zum Heim. Wir stellen Posten auf, und dann steigt der Vortrag. So bis zu fünfzig kommen schon. Is zwar nich so viel wie 'n paar Hundert im Saal, aber besser als nischt."

      "Sozusagen illegal." Scheidemann tat bedenklich, war gespannt auf die Antwort und beobachtete aufmerksam das Gesicht Bottes, in dem sich keine Miene verzog. "Wat sonst? Wenn die uns so kommen? - Aber wenn Sie anjekündigt sind, als Reichstagsabjeordneter, mit Immunität, da werden wir nich nötich haben, ins Heim zu ziehn."

      Scheidemann stellte befriedigt fest, dass er gleich zu Hause sein werde. Langsam wurde der Bursche lästig. Scheidemann als Stützpfeiler illegaler Jugendarbeit! Witz oder Unverschämtheit? Ich muss ihn loswerden. "Wacker, wacker, Ihr unermüdliches Eintreten für die Partei, Genosse Botte. Ich denke, es wird sich mal machen lassen. Senden Sie mir bitte ein Konzept zu, mit Thema, Terminvorschlag und Versammlungsort. Ich schaue dann auf meinen Zeitplan und schreibe Ihnen, wann es geht."

      "Na großartig!" Botte schlug sich vor Begeisterung auf die Schenkel. "Spätestens übermorgen haben Sie das Konzept."

      "Wir sind da", sagte Scheidemann, und der Kutscher drehte die Bremse an. Behände sprang Botte aus der Droschke und hob den Koffer heraus. "Ist schon gut", wehrte Scheidemann lachend ab, "der Kollege Kutscher wird ihn mir hinauftragen, wer verdient sich nicht gern eine Kleinigkeit." Er zückte sein Portemonnaie. "Sie, Genosse Botte, steigen wieder ein und lassen sich nach Hause fahren. Ich mache es glatt."

      Bottes tief liegende braune Augen glänzten wie polierte Metallknöpfe. "Ick? Droschkefahren mit so schöne lange Beene?" Schnell fragte er den Kutscher nach dem Preis bis Pankow. Treuherzig bat er dann: "Aber wenn Sie mir den Betrag jeben würden, Genosse Scheidemann? Nicht für mich. Bloß - in unsrer Gruppenkasse is meist Ebbe."

      Etwas betreten gab Scheidemann Botte das Geld und drückte ihm die Hand. "Machen Sie es gut, und grüßen Sie die Genossen von mir."

      "Danke schön, vielen Dank, Genosse Scheidemann", stieß Botte hervor und stürmte davon, Kinkel völlig übersehend, der reserviert "Adieu" gemurmelt hatte.

      Während der Kutscher den Koffer nach oben trug, standen die beiden und schauten dem in der Dunkelheit verschwindenden Botte nach. Verwundert fragte Kinkel: "Wollen Sie wirklich in Pankow referieren, Genosse Scheidemann?"

      Der Gefragte sah seinen Adlatus mit einem mitleidigen Blick an.

      "Tscha, aber ..."