E.R. Greulich

Der anonyme Brief


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sehen. In der Beziehung gehe ich konform mit Fontane: Diese Leute sind differenziert zu betrachten. Und wenn mich nicht alles täuscht, gehört der General zu jenen preußischen Offizieren, denen es mit Ehrenhaftigkeit und Sauberkeit im Amt Ernst ist. Meines Wissens wird er deshalb auch von Krupp und seinen Reptilien bespöttelt."

      Mehring lächelte Liebknecht zu wie ein zufriedener Vater. "Ich glaube, unsere Unterhaltung war nicht umsonst. Wir haben die Methode: Absprache mit der Fraktion und dann zum Kriegsminister."

      Wilhelm Pieck wiegte den Kopf. "Das mit dem Kriegsminister leuchtet mir jetzt ein. Doch wird die Absprache mit der Fraktion so glatt laufen? Davids Reichstagsrede am dritten Dezember spricht Bände. Was bedeutet sein Treppenwitz: Die deutsche Sozialdemokratie betrachtet sich als Stütze des Dreierbundes, sofern er ein Defensivbündnis darstellt. Wissen diese Taschenspieler nicht genau, dass die Imperialisten das Wort Verteidigung nur als Nebel benutzen, hinter dem um so energischer der Angriff vorbereitet wird? Die Opportunisten lassen mehr und mehr die Masken fallen. Ist das Material echt, dürfte es ihnen kaum weniger unbequem sein als den Krupp und Kumpanei. Was liegt also näher, als dass sie versuchen werden, es unter den Tisch zu fegen."

      "Wahrlich, sie werden es versuchen. "Liebknecht war sich nicht bewusst, dass sich um seinen Mund ein ähnlich bitterer Zug einkerbte wie bei Pieck. "Aber wir werden es ihnen nicht gestatten."

      Wilhelm Pieck wurde nicht zum ersten Mal erregt an diesem Abend. "Hut ab vor Ihren Fähigkeiten in juristischen und Verfahrensfragen, Genosse Liebknecht, doch deren uralte Taktik heißt verschleppen."

      "Temperament ist mir immer sympathisch." Alle lachten über das heiter gesagte Bekenntnis Liebknechts, der fortfuhr: "Sie selbst, Genosse Pieck, waren dafür, das Material gehört vor den Reichstag. Das ist ohne Absprache mit der Fraktion nicht möglich. Andernfalls hätte ich wegen eines solchen Alleingangs wohl alle Fraktionsmitglieder gegen mich."

      "Ich überlege immer noch, ob der blaublütige von Heeringen so reagieren wird, wie Genosse Liebknecht es erhofft." Clara Zetkin sagte es leise, als frage sie vor allem sich selbst.

      "Das macht mir weniger Sorgen", wandte sich Pieck an sie, "dieser pedantische Beamte ist unserem Genossen Liebknecht nicht gewachsen. Hauptsache, wir bekommen die Angelegenheit zügig durch die Schleuse der Fraktionszustimmung."

      "Immerhin gibt es das Basler Manifest zur gegenwärtigen Lage, das die internationalen Beschlüsse von Stuttgart 1907 und von Kopenhagen 1910, alle wirksamen Mittel zur Verhinderung eines Krieges einzusetzen, bekräftigt." Liebknechts Zuversicht war nicht gespielt. "Wir wissen zwar, dass die um Ebert, Noske, Südekum, in der Praxis darauf pfeifen, doch ableugnen können sie diese Beschlüsse nicht. Notfalls werde ich mit einer Intervention bei Bebel drohen. Kein Geringerer als er hat in Basel das Schlusswort gesprochen."

      "Wenn es nur gesundheitlich besser mit ihm stände." In Clara Zetkins Stimme war Besorgnis. "Basel hat ihn sehr angestrengt." Nachdenklich, fast versonnen fügte sie hinzu: "Irgendwann müssen alle zahlen für ein doppelt oder dreifach gelebtes Leben."

      "Apropos Basel", nahm Pieck den Gedanken auf, "da wir kaum wieder so eine günstige Gelegenheit haben werden, hätte ich von den Genossinnen gern einige Interna aus Basel erfahren. Mir sind nur die recht allgemein gehaltenen Berichte bekannt."

      Mehring schaute abermals auf seine Taschenuhr. Auch wenn er jetzt ginge, würde er sich wohl kaum noch an den Schreibtisch setzen, gestand er sich ein. Freundschaftlich drohte er Pieck mit dem Zeigefinger. "Es sollte zwar nur über einen Punkt gesprochen werden, doch ehrlich gesagt, Genossen Piecks Wunsch hat mich gespannt gemacht."

      Rosa Luxemburg nickte Clara Zetkin zu. Die sann einen Augenblick nach. "Pauschal betrachtet, werte ich Basel als Erfolg. Selbst die internationale Bourgeoispresse hat daran nicht vorbeigehen können. Daran ändert auch ihre teilweise hämische Berichterstattung wenig. Das Völkerkonzert gegen die Kriegsmacher hat den Arbeitermassen Mut gegeben. Es hülfe nur dem Gegner, würde man jeden dissonanten Ton, jeden unakkuraten Geigenstrich öffentlich vermerken. Doch die Pflicht anspruchsvoller Musikanten ist es, genau hinzuhören. Meines Wissens ist es ein Novum in der Geschichte, dass eine Stadt und eine Kantonalregierung einen Sozialistenkongress nicht nur eben so dulden, sondern ihn offiziell begrüßen, dass ein Bischof den Dom für die Eröffnungsveranstaltung zur Verfügung stellt. Natürlich gebietet es die Höflichkeit, dass man für Hilfe Dank sagt. Aber ideologische Kotaus? Es war, als habe die sakrale Stimmung des Doms viele verwirrt, sie entdeckten die großen, lieben, friedlichen Seiten des Christentums. Selbst Haase bastelte ein Gleichnis von den Basler Domglocken. Wenigstens zog sich Bebel humorvoll aus der Affäre, er behauptete schlankweg, käme Christus wieder auf die Erde, er schlösse sich den Sozialdemokraten an. Der alte Schweizer Sozialistenbarde Hermann Greulich sah in den sozialdemokratischen Wahlsiegen die Garantie für den Weltfrieden."

      "Das haut genau in die Kerbe der Scheidemänner." Pieck sagte es mit ärgerlich hängenden Mundwinkeln.

      Liebknecht, der gewohnheitsgemäß Notizen gekritzelt hatte, warf den Bleistift auf den Tisch. "Wäre es nicht sträflich, man könnte fast Angst vor jedem unserer Wahlsiege bekommen."

      Leise lächelnd erinnerte Rosa Luxemburg: "Trotz allem hat Genossin Zetkins Appell an die Arbeitermütter und -frauen Eindruck gemacht. Er war kompromisslos, klar und einfach."

      Clara Zetkin machte das Lob der Freundin verlegen. "Ich finde, man müsste alles immer noch aufwühlender und zwingender sagen. Gelänge es, den Frauen so viel Hass gegen die Kriegshyänen einzuhämmern, wie sie Liebe zu ihren Kindern haben, der halbe Krieg gegen den Krieg wäre gewonnen."

      Rosa Luxemburg nahm den Faden über die Kompromisslerei wieder auf. "Man kann nicht hellhörig genug sein, wenn offizielle Friedensschalmeien vom offiziellen Bürgertum geblasen werden. Das ist und bleibt Heuchelei, weil der Kapitalist nicht vom Kapitalismus lässt, der Rüstungsfabrikant nicht vom Extraprofit. Dagegen meinen es ohne Zweifel eine Reihe bürgerlicher Pazifisten subjektiv ehrlich."

      Mehring unterstrich, Bertha von Suttner sei ein lebender Beweis dafür.

      Rosa Luxemburg wandte sich an Liebknecht. "Sie kennen wohl den Briefwechsel Ihres Vaters mit der mutigen Bürgerin am besten, Karl. Bertha von Suttner schätzt die Sozialdemokraten wegen ihres Friedenskampfes. Doch beim Nervus rerum, beim Wie, hakt es auch bei ihr aus. Vom revolutionären Massenkampf als Hauptmittel gegen den imperialistischen Krieg will sie nichts wissen. Den Sprung über den eigenen Schatten schaffen die wenigsten aus diesen Kreisen."

      Ein wenig wie aus der Ferne kommend, als erlebe sie die Situation noch einmal, sagte Clara Zetkin, ihrer Meinung nach sei Jean Jaures der überragendste Redner des Kongresses gewesen. "Der Südfranzose schien mir der Einzige zu sein, den die Stimmung im Dom hinaufgetragen hat, über sich selbst hinaus. Da ist nichts von Höflichkeit und Demut gewesen, sondern alles war mitreißende Kampfansage. Wenn die Herrschenden einen Krieg heraufbeschwören wollten, sollten sie vorher bedenken, wie leicht die Völker sich ausrechnen können, dass ihre Revolution sie weniger Opfer kosten würde als der Krieg der anderen. Das ist keine revolutionäre Phrase mit eingebettetem Alibi, das ist Herausforderung. Dieser Philosophieprofessor glüht von echtem Zorn gegen die Feinde der Menschheit. Gegen Scheidemann zum Beispiel, gewiss ein enger politischer Verwandter des Begründers der Humanite, ist Jaures beinahe ein Phänomen. In Scheidemanns Rededispositionen sehe ich förmlich die angestrichenen Stellen, wo er dem Affen Zucker zu geben gedenkt, um den Schauspielerjargon zu gebrauchen. Jaures gibt sich selbst, Scheidemann spielt es." Clara Zetkin sagte abschließend, das habe ihr viele Gedanken verursacht. Sie sei gespannt auf die Meinung des Genossen Liebknecht, der ja mit dem Pariser Volkstribun einst die Klingen gekreuzt habe.

      Gelöster nach der anfänglichen Nervosität des Abends hatte Liebknecht aufmerksam zugehört. Er sah in Clara Zetkin einen jener Menschen in der Partei, die nicht zehren, sondern geben. Wenn sie fordert, dann geistige Anstrengung. Urtyp des Mütterlichen, verhindert ihre intellektuelle Überlegenheit, dass ihre guten Gefühle zur Rührseligkeit werden. Ein Leben für die Frauen, wie platt das klingt. Und doch drückt dieser einfache Satz ihren geraden, harten Weg aus. Das andere Leben für die Familie. Der kranke Ossip, jahrelang ans Bett gefesselt, hinsiechend; zwei unmündige Kinder. Denke ich an diese russisch-deutsche Ehe dieser Emigranten in Paris, verflüchtigt sich immer etwas von