E.R. Greulich

Der anonyme Brief


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sehend zu machen? - Übrigens, es ist der einzige Weg zum Sozialismus."

      Helmi hatte mit großen, erschrocken-begeisterten Augen zugehört. Er war der Letzte, der sich der Suggestion dieser Stimme hätte entziehen können. Den Vater liebte er wie die meisten Jungen ihre Väter, in solchen Minuten bewunderte er ihn. Ohne dessen Worte im letzten Sinn schon durchdenken zu können, spürte er doch die Verantwortung vor der Zukunft darin, die einem Jungen das Herz bedrücken konnte. Er sprang aus dem Sessel, umschlang den Vater mit beiden Armen und drückte seinen Kopf an dessen Brust. "Ach, Papa, mit dir hat man es schon schwer."

      Bei diesem Gefühlsausbruch wurde Liebknecht bewusst, wie er dem Jungen zugesetzt haben musste. Besänftigend streichelte er dessen Schultern. Um die eigene Rührung zu verbergen, nahm er den Brief vom Schreibtisch. "Lies mal, dann wird dir manches leichter fallen."

      Freudig überrascht von des Vaters Mitteilsamkeit nahm Helmi das Blatt und las:

      "Sehr geehrter Genosse Doktor Liebknecht!

      Mein Name ist Bodo Eckstein, in bin Mitglied des Jugendausschusses unserer Partei in Pankow. Kurz nach meinem Eintritt haben sie mich gewählt, denn für den Jugendverein war ich schon zu alt, zwanzig Jahre. Es herrschte eine ganz schöne Lotterwirtschaft, als ich hinkam. Alle paar Wochen mal ein Vortrag in Kneipenhinterzimmern. Wie soll Jugend sich da wohlfühlen? Hab erst mal gesammelt und einen Fußball gekauft. Gleich war mehr Schwung drin, und es sind auch noch welche dazugekommen. Doch im Winter nützt kein Fußball was. Wenigstens hatte ich die mit Mumm im Herzen erkannt, vielleicht ein Dutzend. Sie hatten den gleichen Rochus auf die Salbaderer vom Christlichen Verein junger Männer wie ich. Also machten wir eine öffentliche Versammlung im Feldschlösschen mit dem Thema: Das Fünfte Gebot und die Jugend. Sie wurde genehmigt. Alle Pfarrer von Pankow eingeladen und ihre Leute. Der Saal war überfüllt. Mir war nun doch ein bisschen schwummrig. Aber Genosse Eichhorn hat es so gut angepackt, wie ich's nicht für möglich gehalten hätte. Du sollst nicht töten, vier Bibelwörter, aber was man damit alles anfangen kann. Ein Pfarrer hat in der Diskussion gesprochen. Leider nichts zum Referat. Das haben wir ihm zugerufen. Da hat er die Versammlung verlassen. Von uns haben dann mehrere ihr Herz ausgeschüttet über Lehrlingsausbeutung und dergleichen. Mir hat die Pickelhaube verboten, über Steuern zu sprechen. Zum Schluss mit Gesang raus und kurze Demonstration. Ehe die Polizei kam, waren wir weg. Eine Bombenstimmung, endlich der Zusammenhalt. Leider kann man nicht immerzu öffentliche Versammlungen machen. Was uns fehlte, war ein eigenes Heim. Wir gingen zum Ortsgruppenvorstand, meistens Krankenkassenonkels und Gewerkschaftsfritzen. Habt ihr Geld für ein Heim? Eine Stinkwut hatten wir. Aber denen werden wir's schon zeigen. Der Genosse Doktor Rosenfeld hat mir den Tipp gegeben. Wir gründeten einen Verein Arbeiterjugendheim. Monatsbeitrag zwischen zehn und dreißig Pfennig. Sonntags in aller Herrgottsfrühe hin zur Vorwärts-Expedition, in die Zeitungen unsern abgezogenen Aufruf gesteckt. Und dann Sammellisten angelegt, rote Mai-Nelken verkauft und lauter so Pfennig-Verdienste. Aber viele Pfennige werden zu Märkern. Im Spätsommer haben wir dann unser Heim in der Maximilianstraße eingeweiht. Alles selbst gemalert, mit gestifteten Möbeln und kleiner Bibliothek aus privaten Bücherschenkungen. Jetzt ist das 'ne feine Gruppe, und der Stamm wird immer größer. Jede Woche Heimabend, meistens Spielen und Singen, ab und zu Vortrag. Für die Fortgeschrittenen alle vierzehn Tage Kursus, 'ne kleine Kapelle übt auch öfters. Weil es mit Musik besser geht. Im Sommer fast jeden Sonntag Wanderfahrt.

      Lieber Genosse Liebknecht, manche älteren Genossen sind wie Väter zu uns, doch die meisten wollen nicht, dass die Jungen sich auch schon mit Politik befassen. Aber es muss sein. Wer so gehungert und geschuftet hat wie ich, der kann nicht anders. Deshalb halte ich was von Vorträgen, wenn sie so spannend sind wie der vom Genossen Eichhorn. Die so was können, haben leider immer wenig Zeit. Genosse Scheidemann habe ich persönlich gefragt, aber der scheint nicht zu wollen. Ich habe Ihre Broschüre gelesen über Antimilitarismus und Jugend. Mir ist ein Seifensieder aufgegangen, weshalb man Sie zu Festung verknackt hat. Indirekt sind Sie schuld, dass ich neulich Kriegsberichter gespielt habe. Als im Herbst die Jugendwehren, Pfadfinder, Deutsche Turnerschaft und ähnliche Vögel auf dem Truppenübungsplatz Döberitz ihre Kriegsspiele runtergeklopft haben, bin ich hin mit meinem Kumpel Frido, der hat einen Fotokasten. Ich habe alles aufgeschrieben, wie sich die Herren Offiziere vom Gardekorps bei der Abschlussparade in die Brust geschmissen haben. Fridolin sind ein paar Fotos ziemlich gelungen. Die Arbeiterjugend hat meinen Artikel abgedruckt (mit Bild). Nun wollte ich Sie fragen, ob Sie nicht zu uns kommen wollen. Bitte, sagen Sie zu, vielleicht gleich, wann es geht.

      Mit Dank im Voraus und Kampfesgrüßen. Ihr Bodo Eckstein, genannt Botte."

      Mit Interesse, ja einiger Spannung, hatte Helmi gelesen, und er hätte nicht bestritten, dass er beeindruckt war. Dieser Bodo, fast doppelt so alt wie er, wusste wenig von Syntax und Grammatik. Doch er hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Aber da war das Andere, das Unbehagen bereitete. Stöße von Post bekam Vater jeden Tag. In nicht wenigen Briefen standen ähnliche Bitten. Viel zu oft sagte Vater zu. Und deshalb waren Gespräche wie heute so selten. Hatten denn er, Bobbi und Verotschka weniger Recht auf ihren Vater als alle die andern?

      Von zwiespältigen Gefühlen bedrängt, legte Helmi den Brief auf den Schreibtisch. Er wusste genau, Vater würde zusagen, trotzdem fragte er: "Gehst du hin?"

      Liebknecht schaute ihn verwundert an. "Solche wackeren Kerle zu enttäuschen, wäre Hochverrat an unserer Sache."

      "Und woher nimmst du die Zeit?"

      Liebknecht entging nicht die Enttäuschung im Gesicht seines Ältesten. "Ich muss mal meinen Terminplan durchpflügen, irgendwo werden sich die zwei, drei Stunden noch unterbringen lassen." Während er suchend im Taschenkalender blätterte, beschäftigte ihn der unausgesprochene Vorwurf des Sohnes. "Zu schade", murmelte er, "dass Winter ist, sonst hätte ich dem Bodo eine gemeinsame Sonntagswanderung vorgeschlagen, und du wärst mitgekommen."

      Das soll eine Entschuldigung sein, dachte Helmi, und nun werde ich ihn festnageln. Besser, den Vater mit anderen teilen müssen, als ihn gar nicht haben. "Er hat doch geschrieben, dass sie keine Angsthasen sind. Eine Winterwanderung ist gesund. Und wenn Schnee liegt, wird es erst recht fein."

      Beinahe erschrocken schaute Liebknecht auf. Da hatte er etwas angerichtet. Sieben, acht Sonntage waren schon besetzt, zumindest die Vormittage. Aus Velten, Paretz, Werder und einigen anderen Orten seines Reichstagswahlkreises Potsdam-Spandau-Osthavelland lagen dringliche Bitten vor. Hinter jedem Ortsnamen standen Schicksale, Menschengesichter. Genossen wie Bodo Eckstein, meist älter als der und ebenso der Partei ergeben. Wenn er nur an den unermüdlichen August Paris dachte. Wie viel Versammlungen mochte der seit der Jahrhundertwende organisiert haben? Trotz der ständigen Saalabtreibereien, der Verbote von Veranstaltungen auf öffentlichen Plätzen. Paris hatte immer wieder Auswege gefunden, hatte manchmal völlig indifferente Menschen überzeugt, sodass sie ihre Grundstücke zur Verfügung stellten. Da war die Frau Eckhardt, alleinstehende Witwe und Büdnerin in Pausin. Im Frühjahr 1903 muss es gewesen sein. August Paris hatte die Versammlung, die auf ihrem Hof stattfinden sollte, angemeldet. Der Amtsvorsteher verbot sie mit der unsinnigen Begründung, sie könnte zu einer Verkehrsstörung führen. Da gewann die erst bänglich gewesene Frau Resolutheit. Mit Zittern und Zagen hatte sie zugestimmt, nur weil August Paris ihr einmal ein Gesuch aufgesetzt hatte. Angesichts der hanebüchenen Begründung des Amtsvorstehers erklärte sie ihren Eintritt in die Partei und war seitdem eine der zuverlässigsten Genossinnen. Derartige Menschen vertröstete man nicht, ließ sie nicht warten. Sonntags gab es also vorerst keine Möglichkeit, er musste an einem Wochentag abends nach Pankow fahren.

      Helmi tat geduldig, als sei er überzeugt, der Vater würde schon einen Sonntag ausfindig machen. Liebknecht sah ihn nicht an, als er das Büchlein zuklappte. "Ich habe noch eine Lücke gefunden, leider keinen Sonntag."

      Helmi schwieg verbittert.

      "Schau, wir waren doch erst kürzlich im Botanischen. War es nicht schön?"

      "Bestimmt vergeht ein Jahr, und wir kommen vielleicht, womöglich, unter Umständen wieder mal hin."

      Wie treibe ich ihm den Kinderegoismus aus, dachte Liebknecht und war sich zugleich bewusst, dass dies eine harte Bezeichnung für die der Sohnesliebe entspringenden Wünsche war. "Versetz dich doch mal in die Haut des Bodo. Er schreibt