E.R. Greulich

Der anonyme Brief


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hatte, war er mit Vorwürfen eingedeckt worden. Liebknecht fröstelte stets in Gegenwart dieses unzugänglichen Menschen. Immer die gleiche, fast steinerne Unbewegtheit. Dieser ehemalige Korbmachergeselle ist ein gefährlicher Karrierist. Gefährlich deshalb, weil ihm die üblichen äußeren Merkmale des Karrieristen fehlen, was man von seinem Busenfreund Scheidemann nicht behaupten kann. Noske ist weder geschmeidig noch besonders intelligent. Weder im Ton, in den Manieren, noch in seinem Habitus würde er jemals auf das Niveau Scheidemanns gelangen. Zwei Eigenschaften haben ihn Stufe um Stufe die Treppe der Parteihierarchie hinaufgebracht: immenser Fleiß, eiserne Beharrlichkeit. Stubborn, würden die Engländer sagen, ich weiß kein treffenderes Wort im Deutschen dafür. Neunzehnhundertsieben hat er dicht vor dem Parteiausschluss gestanden, die Partei hat einen großen Fehler gemacht, das nicht bis zu Ende durchzufechten. Wenn ich überhaupt jemals Gefühlsregungen an ihm beobachtet habe, dann die eines widerlichen Geschmeicheltseins beim Lob von der rechten Seite. Für eine Anerkennung des Kriegsministers oder des Kanzlers nimmt er gelassen hundert Vorwürfe der Genossen in Kauf. Die Adligen der Konservativen belächeln seinen beflissenen Diensteifer ebenso wie die Liberalen. Sie können sich kein besseres Trojanisches Pferd in unserem Stall wünschen. Wo die Opportunisten einen brauchen der zupackt, ohne nach rechts oder links zu schauen, da benutzen sie ihn. Ein treuer Stallknecht, der seinen Auftraggebern manchmal über den Kopf zu wachsen droht. Mit wachem Instinkt hat er die schwachen Stellen im Parteiapparat entdeckt. Wer drückt sich nicht gern vor der mühseligen, zeitraubenden Arbeit in den Fachkommissionen, den Etatsausschüssen? So mauserte er sich bald zum Spezialisten in Fragen des Heeresetats und der Kolonialpolitik. Neuerdings stiftet er außerdem Unfug im Marineausschuss. Noske ist Synonym für alles der Partei anhaftende Kleinbürgerliche, Kompromisslerische, Unsozialistische. Jeder marxistische Terminus ist ihm zuwider, und er brüstet sich sogar damit.

      Weidlich machte Molkenbuhr seinem Ärger Luft. Je nach Temperament ließen die gerügten Zwischenrufer mit schuldbewusster Miene oder nonchalant lächelnd die Philippika über sich ergehen. Noske saß dabei, als hätte der Tumult wenig mit ihm zu tun. Als Ruhe eingetreten war, wandte er sich abrupt an den letzten Zwischenrufer. "Wenn Sie so genau über meinen Briefwechsel mit Bebel Bescheid wissen, dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass er sich später revidiert hat."

      Gelächter erscholl, und Molkenbuhr schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Noske blickte ihn kopfschüttelnd an, als wollte er sagen, schone deine Nerven, ich tue es auch. Unvermittelt ging er dann zum Thema über. "Was jenes Material anbelangt, kann ich mich nur über die Weltfremdheit mancher Genossen wundern. Glauben Sie wirklich, dass es irgendwo eine Gesellschaft gibt, in der keine Bestechungen vorkommen? Die Notwendigkeit der Landesverteidigung steht doch wohl auch bei uns außer Frage. Wer für Landesverteidigung ist, muss für ihre Waffen sein. Waffen kosten Geld, Geld stinkt nicht, und wo gekauft und verkauft wird, da wird versucht zu betrügen. Wieso soll das Material nicht echt sein? Wüssten die Genossen besser Bescheid über die Arbeit in den Ausschüssen, wären sie nicht so erstaunt. Im Grunde stehen wir vor der Wahl, großes Geschrei zu machen und die Aufgaben der Landesverteidigung zu erschweren oder realistisch zu sein und die Gegebenheiten zu nehmen, wie sie sind. Denn im Allgemeinen, das kann ich Ihnen versichern, geht es bei uns einigermaßen ordentlich zu. Auf dem Balkan beispielsweise sind Durchstechereien, besonders im Waffengeschäft, das Übliche. Deshalb schlage ich Ihnen, Genosse Liebknecht, vor, tun Sie das Zeug in Ihr Archiv. Wenn Sie einmal Ihre Memoiren schreiben, haben Sie interessante Details zur Verfügung."

      Liebknecht hatte sich rechtzeitig zu Wort gemeldet und das Material über Noske vor sich liegen. Er konnte den Hohn in seiner Stimme nicht unterdrücken. "Werter Herr Genosse Noske, Ihre Stellungnahme wundert mich nicht. Was Sie auszeichnet, ist Konsequenz. Konsequenz vor allem darin, die Geschäfte der preußisch-deutschen Kriegsschürer zu betreiben. Um allen Anwesenden zu beweisen, dass es sich hier nicht um meine subjektiv gefärbte Meinung handelt, Folgendes zur Erinnerung: Im Berliner Tageblatt vom 26. April neunzehnhundertsieben standen die Sätze: Noske ist vermutlich weder ein ausgesprochener Revisionist noch ein ausgesprochener Vertreter der Gewerkschaftspolitik ... Indessen gewinnt man doch aus seiner gestrigen Reichstagsrede den Eindruck, dass er auch eine ganz andere Auffassung von Welt und Menschen hat, als sie sonst in der Sozialdemokratie herkömmlich war. Es ist ein neuer Geist, der aus ihm spricht. '"

      Liebknecht akzentuierte schärfer. "Neu in der Sozialdemokratie war das damals auf jeden Fall, ob es Geist war, diese Definition überlasse ich den Menschenkennern vom Berliner Tageblatt. Das Neue, das Sie in die Partei getragen haben, Genosse Noske, ist der unverhüllte Chauvinismus, der sich zur Tradition der Internationale verhält wie Wasser zu Feuer. Auch das ist keine Erfindung von mir, sondern Ihre Freunde von rechts haben Ihnen das poesievoll bescheinigt. Fast zur gleichen Zeit wie im Tageblatt stand dieses Gedicht in den Lustigen Blättern:

      Geht es mal in ferner Frist

      Ans Kanonenfuttern,

      Denkt so mancher Reservist:

      Nee - ich bleib' bei Muttern.

      Doch das soll uns Kampf und Schlacht

      Nimmermehr vergällen,

      Denn es ist heut' ausgemacht:

      Noske wird sich stellen!

      Kommandiert der Herr Major:

      "Feuer vorn und hinten!"

      Ruft ein arbeitsscheues Korps:

      "Schmeiß mer fort die Flinten."

      Aber dennoch, Mut, nur Mut!

      Lasst's Euch nicht verdrießen,

      Denn wir wissen absolut:

      Noske, der wird schießen.

      Noske schnallt den Säbel um,

      Noske geht aufs Ganze,

      Noske feuert, bum, bum, bum,

      Noske stürmt die Schanze,

      Noske schreit Hurra, Hurra!

      Noske hält die Wachen,

      Noske schießt Viktoria,

      Noske wird's schon machen."

      Auf der Stirn Molkenbuhrs standen Schweißperlen. Musste Liebknecht diese unangenehmen Dinge wieder aufs Tapet bringen? Er suchte krampfhaft nach einer Handhabe, den Sarkasmus Liebknechts zu bremsen. Der setzte seine Entgegnung fort: "Sie sind von unseren Feinden nicht selten gelobt worden, Genosse Noske. Beinahe ist es mir peinlich, auf das viel zitierte Wort unseres Parteigründers Bebel zurückzukommen: 'Wenn mich der Gegner lobt, habe ich etwas falsch gemacht!' Obwohl es sehr absolut ist, stimmt es meistens. Bei Ihnen stimmt es immer. Denn wenn sogar die Hurrapatrioten den nationalistischen Übereifer eines Sozialdemokraten lächerlich machen können, dann dürfte in dessen Ideologie einiges nicht in Ordnung sein. Sie sind chauvinistischer als unsere Chauvinisten, und Herr Krupp hat auf jeden Fall versäumt, Sie als Geschäftsführer anzustellen!"

      Spontan klatschte die Mehrzahl der Anwesenden, eine Minderheit zischte, Molkenbuhr behämmerte die Tischplatte mit dem stumpfen Bleistiftende, doch unbekümmert darum rief Ledebour: "Bravo! - Großartig charakterisiert!"

      Noske war aufgesprungen, seine erste unkontrollierte Bewegung dieses Nachmittags. Mit ausgestrecktem Zeigefinger wies er auf Liebknecht. "Sie wollen mich diffamieren! Ich pfeif drauf! Weil ich sicher bin, alles das, was Sie mir als Todsünde ankreiden möchten, wird unser Vaterland einmal vor dem Untergang retten!"

      Liebknecht ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. "Schade um das Versäumnis des Kanonenkönigs, Genosse Noske. Denn dort wären Sie an der richtigen Stelle und kein dunkler Punkt auf dem Schild der Partei. Die meisten Arbeiter wissen, was sie von den Erzeugern der Mordwerkzeuge zu halten haben. Wenn sich aber einer die Toga der Sozialdemokraten umwirft, wollen sie nicht gern glauben, dass er die Geschäfte des Krieges besorgt."

      Abermals war das Fraktionszimmer erfüllt vom Lärm des Für und Wider. Noske schaute ungnädig zu Molkenbuhr hin, es sollte ausdrücken, wenn du nicht dafür sorgst, dass diese Angriffe aufhören, ziehe ich die Konsequenzen. Molkenbuhr verschaffte sich endlich Gehör. "Genosse Liebknecht, wir sind hier nicht auf einer Massenversammlung. Ich bitte Sie, sachlich zu bleiben."

      "Wenn