E.R. Greulich

Der anonyme Brief


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Sohn Helmi ist dagegen?"

      "Ich kann ja auch nicht an seinen Vater schreiben, kommen Sie her und reden Sie mal. Was Ihr Sohn derweile macht, ist mir schnuppe."

      Liebknecht war bestürzt. "Das hat er nicht geschrieben. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass ich Kinder habe. Und du weißt nicht, ob er überhaupt einen Vater hat."

      "Ich habe auch kaum einen."

      Zwischen Zorn und Mitleid schwankend, war Liebknecht plötzlich müde und verzweifelt. Ich kann mich doch nicht teilen. Weshalb gibt es Menschen, die Langeweile haben, während andere ihre Zeit verdreifachen müssten? Plötzlich waren seine Gedanken bei dem Krupp-Material. Wie wird die Fraktion auf meinen Vorschlag reagieren, es an den Kriegsminister zu geben? Je näher diese Entscheidung rückt, desto unruhiger werde ich. Ich muss sie erzwingen, und dieses Muss erzeugt Nervosität. Bewusst habe ich vorhin abgeschaltet, denn was macht gelöster als die Beschäftigung mit den eigenen Kindern? Statt dessen nun dieser Konflikt. Ich darf nicht ungerecht werden, Helmi ahnt nichts von dieser Sorge.

      Er legte den Kneifer auf die Tischplatte und rieb sich die Augen. Langsam wurde er ruhiger. Man kapituliert nicht, erst recht nicht vor dem eigenen Sohn. "Mach es mir bitte nicht so schwer. Du siehst jetzt nur deinen Kummer, dabei lebst du glücklicher als der Bodo. Wir wohnen nicht in einem düsteren Hinterhaus, ihr werdet stets satt, und das Wertvollste, du kannst ein Gymnasium besuchen."

      "Woher willst du wissen, dass er nicht immer satt wird?"

      Mehr wie für sich antwortete Liebknecht: "Es steht in seinem Brief. Furchtbar, öfter hungrig als satt zu sein. In meiner Kindheit hat oft das Brot auf dem Tisch gefehlt. Ein Erlebnis werde ich nicht vergessen. Ich war damals zehn Jahre alt, Vater saß im Gefängnis in Leipzig. Sein Genosse Kautsky, den du ja kennst, war auf der Durchreise und wollte ihn besuchen. Er nahm Theodor, Wilhelm und mich mit. Der Jüngste von uns Dreien, Wilhelm, hatte an dem Tag Geburtstag. Die Freude unsres Vaters, seine drei Bengels zu sehen, war herzbewegend. Mit vor Rührung enger Kehle sagte er, leider habe er kein Geburtstagsgeschenk für Wilhelm. Aber er wolle ihm wenigstens geben, was er gerade habe. Es war ein halber Laib Brot und ein Stück billige Gefängniswurst. Wilhelm hat redlich geteilt, und für lange Zeit war jenes Wiegenfest das für uns denkwürdigste, weil wir uns an diesem Tag einmal satt essen konnten."

      Helmi bedauerte den Großvater, der nun selbst hatte tüchtig hungern müssen.

      "Es hungert sich für einen Vater leichter, wenn er seine Kinder satt weiß", bemerkte Liebknecht sachlich. "Übel gehungert habe ich dann beim Beginn der Festungshaft in Glatz. Es ist erniedrigend, dauernd an den knurrenden Magen denken zu müssen. Ich wünsche es dir nicht - nie."

      Die eindringlichen Schilderungen des Vaters verursachten in Helmut Reue über seine unüberlegten Worte. Er wollte es nicht zugeben und lenkte ab. "Du hast dir gefallen lassen, dass man dich hungern ließ?"

      "Es war die Umstellung in den ersten Tagen. Das kraftlose Mittagessen und ein minderwertiges Brot zeigten mir so recht, wie gehaltvoll wir eigentlich essen."

      "Später ist das Essen besser geworden?"

      "In den Strafanstalten gibt es nur preußischen Einheitsfraß. Dann erhielt ich Pakete. Bei Festungshaft gibt es diese Möglichkeit, die Ernährung aufzubessern. Doch in den ersten Tagen schlug ich mich mit einem komischen Solidaritätsbegriff herum. Ich wollte nicht besser leben als die meisten armen Schlucker und gab ihnen alles. Bald erkannte ich diesen falschen Heroismus. Wenn ich geschwächt und krank die Festung verließ, hülfe das niemandem. Ich habe dann im Rahmen des üblichen mit meinen Leidensgefährten geteilt."

      "Ich könnte das nicht durchmachen, Papa."

      Liebknecht wurde weich ums Herz. "Es ist bestimmt nicht der Sinn des Lebens, zu hungern. Aber die eigene Sättigung bereitet mir Unbehagen, solange viele nicht satt werden. Für eure ganze Generation soll Hunger einst nur noch graue Legende sein."

      "Gibt es nicht welche, die zu faul zum Arbeiten sind und deshalb hungern?"

      "So ungefähr argumentieren die Reaktionäre aller Schattierungen. Und sie scheuen sich nicht, im gleichen Atemzug mit deutscher Tüchtigkeit, deutschem Werkfleiß zu renommieren. Was stimmt nun? Nimm beispielsweise den Bodo. Ist allein dieser Brief nicht eine Leistung? Hätte er sich das alles aufgeladen, wenn er faul wäre? Unsere moderne Gesellschaft ist heute schon reich genug, dass jeder satt werden könnte. Nur wenn das Volk alles Parasitenpack hinwegfegt, wird es gerechter auf der Welt zugehen."

      "Und bis dahin muss man noch hier und da Ungerechtigkeiten in Kauf nehmen?"

      Liebknecht sah den Schalk in den Augen Helmis. Er packte den Sohn bei den Armen. "Sogar vom eigenen Vater, der den Gymnasiasten Helmi vernachlässigt zugunsten wissensdurstiger Proletarierjungen."

      Helmi trollte sich, zog die Tür hinter sich zu. Dann öffnete er sie noch einmal und drohte vom Türspalt her: "Um eine Sonntagswanderung im Frühjahr kommst du trotzdem nicht herum."

      5 Strudel in der Schleuse

      Als Liebknecht wieder ins Fraktionszimmer kam, entging ihm nicht, dass mehrere Genossen ihre Geschäftigkeit unterbrachen, dann plötzlich von dringenden Verpflichtungen sprachen und geräuschlos verschwanden. Es war Pause nach einer Wahlrechtsdiskussion, alle wussten, als Nächstes sollte über das Krupp-Material entschieden werden. Liebknecht sah, wie sich Legien, Sassenbach und Fischer solcherart aus der Verantwortung schlichen. Ledebour bemerkte es mit Stirnrunzeln, seine buschigen Brauen über den tief liegenden scharfen Augen schienen sich zu sträuben. Demonstrativ rückte er seinen Stuhl zurecht, wartete auf die Beendigung der Pause. Als auch Hugo Haase seine Aktentasche packte, um zu gehen, trat Liebknecht fragend auf ihn zu. Entschuldigend zog der eher untersetzte als schlanke Mann mit der hohen Stirn und den tiefen Geheimratsecken seine Taschenuhr. "Habe heute Abend ein Referat über Wahlrecht und Marokko-Abenteuer in meinem Wahlkreis und noch keinen der neuen Gesichtspunkte ins Konzept eingearbeitet."

      Liebknecht hatte ebenfalls einen Blick auf das Zifferblatt geworfen. "Es ist noch nicht vier Uhr."

      "Die vier Stunden brauche ich schon, um mich vorzubereiten. Da ist weder eine Ruhepause drin noch die Fahrzeit." Die freundlichen blauen Augen Haases blickten unsicher und schuldbewusst.

      Liebknecht verhehlte seine Enttäuschung nicht. "Wie Sie meinen, Genosse Haase."

      Hugo Haase hatte mit Vorwürfen gerechnet und war entwaffnet. Beteuernd flüsterte er auf Liebknecht ein. "Sie wissen, dass ich Ihre Auffassung teile, mit Ihrem Verfahrensweg einverstanden bin. Sie können sich jederzeit darauf berufen." Er versuchte zu scherzen, es klang gequält: "Wirklich, Sie haben meinen Segen. Unterschätzen Sie bitte die Fraktionsfreunde nicht. Keiner wird so naiv sein, sich gegen das Material zu exponieren. Die Sache geht kampflos über die Bühne."

      "Ich teile Ihren Zweckoptimismus nicht, aber - na ja." Versöhnlich gab Liebknecht Hugo Haase die Hand. "Schenken Sie den Säbelrasslern nichts."

      Erleichtert ging Haase hinaus, leise und rasch. Liebknecht sah ihm mit Bedauern nach. Nicht, dass Haases Anwesenheit alles entschieden hätte. Er wirkte eher durch seine Persönlichkeit als durch eine Rede. Haases Stimme war wenig modulationsfähig, er wurde schnell heiser, suchte es durch Anstrengung niederzuhalten, dann kam der harte ostpreußische Akzent zum Durchbruch und bildet keinen glücklichen Gegensatz zu dem milden, menschenfreundlichen Mann. Eifersüchteleien waren ihm fremd. Stets gedachte Liebknecht dankbar der immensen Vorarbeit Haases im Königsberger Prozess, als sie beide gemeinsam die Verteidigung der angeklagten Genossen übernommen hatten. In jenem Jahr 1904 begann ihre Freundschaft, und es war kein Zufall, dass Haase 1907 der Verteidiger Liebknechts im Leipziger Hochverratsprozess wurde. Er war zuverlässig, Freunden gegenüber selbstlos. In der Partei schätzte man Haases forensisches Wissen ebenso wie seine immer wache Hilfsbereitschaft.

      Ledebours Finger trommelten fordernd auf die Tischplatte. Molkenbuhr, der den Fraktionsvorsitzenden Haase vertrat, schaute gereizt zu Ledebour hinüber und machte eine Geste, die heißen mochte: so alt und noch so ungeduldig. Er bat die Genossen Platz zu nehmen. Während er in mehreren Mappen nach der Notiz Liebknechts suchte, begann er, als handele es