E.R. Greulich

Der anonyme Brief


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die Kunst des Dilatorischen scheint mir angebracht zu sein. Schlägt man mit zwingenden Gründen mehrmals Terminänderungen vor, werden es die Antragsteller bald leid. Wenn nicht, bleibt als letzte Möglichkeit ein Wink an die Partei in Pankow, die Versammlung abzulehnen. Schließlich sitzen dort im Jugendausschuss auch noch reifere Genossen als dieser Botte, nicht wahr?"

      Ehrlich verblüfft über die Klugheit seines Meisters, gestand Kinkel: "Ich muss noch viel lernen, Genosse Scheidemann."

      3 Gezügelte Ungeduld

      Ein Blick auf die Uhr am Bahnhof Friedrichstraße. Zwei Minuten zu wenig, um pünktlich das Büro in der Chausseestraße zu erreichen. Liebknecht entschloss sich trotzdem zu laufen, sein leicht federnder Schritt wurde eiliger. Über die Weidendammer Brücke pfiff der Dezemberwind, feine Eiskristalle prickelten auf der Gesichtshaut. Instinktiv wollte die rechte Hand den Kragen des Paletots hochschlagen, doch er zwang sie tiefer in die Tasche. Der kalte Ozon lüftet durch. Zwischen der vielen Arbeit spürt man auf diese Art etwas vom Winter. Den Kopf windabgewandt, grübelte Liebknecht, jeder Winter hat sein Doppelgesicht. Dem weichen Flockenfall, dem Bratäpfelgeruch und den Rodelbahnfreuden stehen härtere Not und mehr Krankheiten gegenüber. Hoffentlich steckt sich Frau Manke nicht an. Eine so patente Haushälterin ist eigentlich schwer ersetzbar. Die Familie ihres Bruders Albert hat es übel erwischt. Die Frau und die beiden Jüngsten liegen an Influenza. Dass Sophie Frau Manke auf mehrere Tage nach Spandau geschickt hat, damit sie dort nach dem Rechten sieht, ist herzwärmend. Um so mehr, als Sophie selbst stark erkältet ist. Sonst hätte ich die Freunde viel lieber nach Hause eingeladen als ins Büro.

      Von der Invalidenstraße her, aus der entgegengesetzten Richtung, kam jemand in warmer Winterjoppe, einen Wollschal um den Hals, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Liebknecht erkannte ihn. Wilhelm Pieck hatte ihn auch gesehen und wartete vor dem Hauseingang. Sie schüttelten sich die Hände. "Gratuliere, Genosse Liebknecht, Sie haben Glück gehabt mit dem Wetter in Potsdam. Friedenskundgebung unter freiem Himmel. Und das am ersten Dezember. Der Platz soll schwarz von Menschen gewesen sein."

      Nebeneinander stiegen sie hinauf zum zweiten Stockwerk. Aufgeräumt erwiderte Liebknecht: "Die himmlischen Herren sind uns gewogener als die irdischen."

      Piecks Stimme bekam einen ernsten Unterton: "Hinge es nur von den Erfolgen unserer Veranstaltungen ab, wir brauchten keinen Krieg zu fürchten."

      Liebknecht blieb stehen. Während er seinen Paletot aufzuknöpfen begann, sprudelte er hervor: "Die Diskrepanz beunruhigt, Genosse Pieck. Wahlerfolge, Veranstaltungserfolge. Alles gut und nützlich, doch in vielem hinkt die Partei den Notwendigkeiten hinterher."

      "Wir strampeln uns ab, und gewisse Genossen kassieren die Lorbeeren."

      Liebknecht lachte kurz auf. Er mochte die zupackende Art des fünf Jahre jüngeren, dessen manchmal bissigen Humor. "Mit dem, was erst auf unser Drängen geschieht, brüsten sich dann die David & Co. und schläfern die Massen ein: Es geht überall voran! Zum Dank stellen uns die honorigen Genossen hinterher als ewige Störenfriede und Schreier hin."

      "Trotzdem müssen wir noch ein Stockwerk höher", erinnerte Pieck trocken.

      "Richtig, wir sind schon etwas zu spät!" Erschrocken nahm Liebknecht immer zwei Stufen auf einmal.

      Im Vorraum kam ihnen Martha Nothnagel entgegen, eine der Angestellten des Anwaltsbüros. Beim Anblick Liebknechts aufatmend, sagte sie, das Wasser siede bereits, aber sie hätte vom Doktor gern gewusst, ob Kaffee oder Tee gewünscht werde. Liebknecht wies auf Pieck und sagte, darüber sollten die Gäste entscheiden.

      Wohlgefällig betrachtete Pieck die schlanke junge Frau, deren mädchenhafte Zartheit von ihrer Zurückhaltung unterstrichen wurde. "Wenn Sie mich fragen, Genossin Nothnagel, dann bin ich für 'n Kaffee, aber nicht so dünn."

      Während die beiden Männer ihre Überkleidung ablegten, bedauerte Pieck, nun müsse die arme Deern wieder Überstunden machen.

      Das dürfe sie nicht hören, warnte Liebknecht, sie empfinde das nicht als Belastung. Um so weniger, als sie keine Kinder habe und ihr Mann an den meisten Abenden für die Parte unterwegs sei.

      Gemeinsam betraten sie das große Zimmer. Es war still hier. Franz Mehring saß hinter einer Zeitung im Klubsessel neben dem Tischchen mit der Stehlampe. Rosa Luxemburg hatte am langen Tisch Platz genommen, ein Päckchen Fahnenabzüge vor sich, die sie korrigierte. Liebknecht fragte lachend, ob die beiden Genossen unter die Trappisten gegangen seien. Wie abwesend blickte Rosa Luxemburg auf, strich sich über die Augen und sagte, sie sei Genossen Mehring dankbar, dass er ihr - Kavalier wie immer - kostbare Minuten für die drängende Arbeit gelassen habe.

      Mehring faltete die Zeitung. "Wer die aufregenden Tage vor der Geburt eines Geisteskindes nicht respektiert, ist ein Barbar." Gelassen blickte er auf seine Taschenuhr. "Hoffentlich dauert es nicht bis Mitternacht. Mein Schreibtisch wartet mit einem angefangenen Manuskript auf mich."

      Liebknecht seufzte. Ihm gehe es ähnlich. Deshalb wisse er zu schätzen, dass Genosse Mehring trotzdem gekommen sei. Er hoffe, es werde nicht über Gebühr dauern. Ein Gespräch unter Freunden sei ja keine Parteikonferenz. Genosse Ledebour könne übrigens nicht kommen, er habe sich telefonisch entschuldigt.

      Mehring ließ ein Lachen hören, das an einen trockenen Husten erinnerte, die Enden seines weißen Bartes zitterten dabei. "Mit dem Ritter ohne Furcht und Tadel streite ich gern, doch ohne den dickschädligen Prinzipienreiter werden wir Zeit sparen."

      Es handele sich nur um die eine Frage, fuhr Liebknecht fort, aber sie sei ihm so wichtig, dass er dazu die Meinung der Freunde brauche.

      Wilhelm Pieck fragte, wer noch zu erwarten sei.

      Rosa Luxemburg unterbrach ihre Korrekturarbeit. "Genossin Zetkin ist aus Stuttgart gekommen. Wir haben telefoniert. Bei der Gelegenheit habe ich sie eingeladen. Ich befürchte, Karl, Sie werden über meine Eigenmächtigkeit sehr ärgerlich sein."

      Liebknecht ging auf den launigen Ton ein. "Ich wüsste keine Nachricht, die in meinen Ohren besser klänge."

      "Da noch Zeit war", berichtete Rosa Luxemburg weiter, "hoffte Clara eine flinke Friseuse zu finden."

      Pieck witzelte, es sehe beinahe danach aus, als könnte man bei der Genossin Zetkin eine winzige Achillesferse der Eitelkeit entdecken.

      Die dunklen Augen Rosa Luxemburgs, von denen es hieß, sie könnten Blitze schleudern, nahmen den Spötter ins Visier. "Wenn eine Frau adrett auszusehen wünscht, lässt dies nicht unbedingt auf Eitelkeit schließen."

      Hände hebend trat Pieck den Rückzug an. "Ich habe gar nichts gegen ein bisschen frauliche Eitelkeit."

      Schmunzelnd hatte Liebknecht die Plänkelei mit angehört. Rosas leicht schrille Stimme lässt manches Wort strenger erscheinen, als es gemeint ist, fand er. Ihr scharfer Verstand weiß den geschliffenen Witz zu gebrauchen, der derbe Humor liegt ihr weniger. Der ist mehr die Stärke Wilhelms, lebendiges Beispiel für viele der Besten in der Partei, die zielbewusst den schweren Weg des Autodidakten gingen. Vom Tischlerlehrling zum Sekretär der Zentralen Parteischule. Kein Zufall, dass man ihn 1910 in den Zentralen Bildungsausschuss nach Berlin berief. Als Bremer Parteivorsitzender war er durch seine vorbildliche Arbeit aufgefallen. Sozusagen an Dienstjahren wie auch an Lebensjahren ist er der Jüngste hier.

      Die Tür öffnete sich, und Clara Zetkin trat ins Zimmer. Die bräunliche Herbheit ihres Gesichts erinnerte an die italienischen Vorfahren, ihre kleinen Fältchen, von einem harten Leben hineingestichelt, vergaß man vor den alles beherrschenden blauen Augen. Sie ging zu Rosa Luxemburg, die beiden Frauen umarmten sich wie Schwestern. Mit Charme entschuldigte sich Clara Zetkin für ihr Späterkommen, alle setzten sich an den Tisch.

      Liebknecht nahm das Material aus der Aktentasche. "Außer Ihnen, Clara, sind alle Anwesenden von mir unterrichtet, um was es geht." Seine Fingerknöchel klopften auf den Hefter. "Derart brisante Details über einige Oberhelden der Alldeutschen weht einem der Wind vielleicht in fünfzig Jahren nicht mehr auf den Tisch. Über die Wichtigkeit des Materials dürfte Einigkeit herrschen. Es geht im Grunde nur darum, zu überlegen, was ratsamer ist: