E.R. Greulich

Der anonyme Brief


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      Schuldbewusst schaute er auf. Jede Minute des Zusammenseins mit ihr seien ihm Flitterwochen, erwiderte er, stand schnell auf und küsste sie. Gedankenvoll betrachtete sie ihn. "Ein vorsichtiges Mädchen sollte keinen Revolutionär heiraten."

      Er drückte sein Gesicht in ihr volles dunkles Haar. "Es sei denn, das vorsichtige Mädchen ist eine liebende Frau mit der gleichen Weltanschauung."

      Als sie das Tablett mit einem Imbiss und Tee brachte, wies er auf einige Bücher und Broschüren, die ihm der Information wegen zugesandt wurden. Zornig sagte er: "Die Hyänen wittern Aas und fette Beute. Sieh dir das an." Mit gespreizten Fingern nahm er die Bände auf und legte sie nacheinander auf den Schreibtisch: "Die Friedensbewegung und ihre Gefahren für das deutsche Volk" - "Deutschland und der nächste Krieg" - "Deutschland erwache!"

      Einen Augenblick saß Liebknecht reglos, von düsteren Visionen bedrängt: Der Balkankrieg hat den Blut-und-Eisen-Profiteuren Appetit gemacht auf größere Geschäfte. Ein Vampir, saugt das Rüstungskapital am Lebensmark des Volkes, wandelt dessen Arbeit um in Dividenden und Macht.

      Liebknecht dachte an Budapest und wurde wieder zuversichtlicher, Er sah die Riesenhalle mit den Tausenden Menschen vor sich, deren Gesichter in Begeisterung für den Frieden flammten, dachte an den Sommer vergangenen Jahres, an dessen Marokko-Hundstage. Hatte Wilhelm der Größenwahnsinnige mit seinem "Panthersprung nach Agadir" die Dinge nicht bis an den Rand des Krieges getrieben? Doch überall in Europa sprang Protest auf. Die Berliner Kundgebung der 200.000 im Treptower Park, "Gegen die Kriegshetze", war der Auftakt für ähnliche Veranstaltungen in ganz Deutschland.

      Während dieser Rückerinnerungen schlitzte Liebknecht geschäftig Briefe auf, sein Blick überflog deren Inhalt. Zuweilen nickte er dabei, manchmal furchte er die Stirn. So wunderlich manche Menschen, so wunderlich ihre Briefe. Ein Abgeordneter scheint für sie der Zauberer mit dem Stein der Weisen zu sein, der alles zu regeln vermag.

      Wieder gingen Liebknechts Gedanken zurück. Bereits am 6. Juli hatte das Internationale Sozialistische Büro eine Beratung gegen die Marokkopolitik der Imperialisten beschlossen. Zwar schrieb der Genosse Molkenbuhr vom Parteivorstand an das ISB, aus Rücksicht auf die bevorstehenden Reichstagswahlen von internationalen Massenaktionen absehen zu wollen, doch auf der Jahrestagung des Büros in Zürich, Ende September, wurden die Beschlüsse von Stuttgart bestätigt, bekamen die Leisetreter eine Abfuhr. Wie hatte Bebel in seiner großen Reichstagsrede am 9. November die Säbelrassler gewarnt? "Sie treiben die Dinge auf die Spitze, sie führen es zu einer Katastrophe." Neben manchem anderen ist die Mobilisierung des arbeitenden Europa nicht der letzte Grund gewesen, dass sich die Wölfe ohne Krieg einigten.

      Plötzlich stutzte Liebknecht. Verwundert betrachtete er ein gewichtiges Kuvert mit unleserlichem Absender in seiner Hand. Sophie schaute wieder herein und mahnte besorgt, er solle endlich essen. Gehorsam legte er das Kuvert hin, dann ließ er es sich schmecken. Er versuchte Sophie aufzuheitern, berichtete von Budapest, von der rührenden Sorge der ungarischen Genossen um ihn. Selbstironisch schwärmte er vom Szegediner Gulasch, von den süffigen Weinen, nicht zu vergessen die herrlich schlanken, aromatischen Virginias.

      Sophies Blick hing an seinem Munde. Er ist nicht nur ein faszinierender Rhetoriker, dachte sie, er kann auch ein amüsanter Plauderer sein. Durch ihn sehe ich alles, als hätte ich es selbst erlebt. Mit welchem Blick für Nuancen er Land und Leute charakterisiert. Jede biedere, bürgerliche Ehefrau würde sagen, schade um den Mann, dass er ausgerechnet in die Politik gegangen ist. Er wäre sicher ein bekannter Schriftsteller geworden. Oder Komponist, Dirigent, Pianist, bei seiner Liebe zur Musik. Aber all diese Begabungen sind nur wie selbstverständliches Beiwerk zu dem, was sich am schwierigsten beschreiben lässt. Ist es sein Mut, sein scharfer Verstand, seine Liebe für die Mitmenschen und alle Kreatur? Man könnte weiter aufzählen, weiter fragen, es mündet doch alles in dem einen: Man muss ihn lieb haben. Was sind dagegen schon seine kleinen Schwächen? Die zuweilen professorale Zerstreutheit, die generöse Vernachlässigung von Alltagsdingen gegenüber seinen großen Aufgaben. Die genialische ordentliche Unordnung des Arbeitszimmers, seine Nervosität, wenn dort Saubermachen droht. Karls Zeitungsmanie, die Angst, in irgendeiner Zeitung könnte irgendetwas stehen, was er nicht zu wissen bekam. Wie jetzt wieder seine verstohlenen Blicke zu dem dicken Kuvert, als könnte es um einige Minuten zu spät geöffnet werden.

      Liebknecht fuhr sich mit der Serviette über Mund und Hände, eilig schob er das Tablett beiseite. Sophie respektierte seine innere Unruhe und ließ ihn allein.

      Hastig öffnete er den Umschlag. Je länger er las, desto erregter wurde er. Entschlossen räumte er die übrige Post auf leere Stühle, breitete den Inhalt des Kuverts auf dem Schreibtisch aus und rief Sophie.

      Nachdem sie eine Weile schweigend gelesen hatte, sagte sie nachdenklich: "Interessantes Pendant zu jenen alldeutschen Schwarten dort - falls es hieb- und stichfest ist."

      "Es könnte ein Bluff sein?"

      "Arg wundern würde es mich bei einer anonymen Sendung nicht."

      "Und aus welchem Grund?"

      "Nachdem das Ausschlussverfahren aus der Anwaltskammer gegen dich nicht zum Erfolg geführt hat ..."

      Er sah einem Ring seines Zigarrenrauches nach. "Den unbequemen Anwalt aufs Glatteis führen, ihn mit Lächerlichkeit unmöglich machen?"

      "So ungefähr."

      "Aber das Material enthält eine Reihe Indizien der Echtheit für den Sachkenner."

      "Glaube nicht, dass deine Feinde dich unterschätzen. Wenn sie dir schon eine Fälschung in die Hände spielen, dann darf sie nicht plump sein."

      Liebknecht stand auf, ging mit schnellen Schritten auf und ab, die Daumen in den Ärmelausschnitten der Weste, seine charakteristische Haltung, wenn er diktierte.

      Er blieb vor den Blättern auf dem Schreibtisch stehen, betrachtete sie abermals aufmerksam. "Der Anonymus dürfte ein Krupp-Direktor oder sonst ein führender Mitarbeiter sein. Er will den Leiter des Berliner Büros der Krupp AG kennen. Der besticht die Beamten des Heeresbeschaffungsamtes, sendet ständig Geheimberichte unter dem Decknamen, 'Kornwalzer' nach Essen, die von der Firma ausgewertet werden. Zur Ausschaltung der Konkurrenz bei Preisangeboten, zur Ausnutzung der Heeresversuche für den eigenen Waffenbau. Das grenzt an Landesverrat, ist zumindest jene stinkende Korruption, die wir bisher so überzeugend nicht beweisen konnten."

      "Um überzeugend zu beweisen, muss man einen sicheren Beweis in Händen haben", erinnerte Sophie.

      "Ich habe doch eine Nase für so etwas. Das Material riecht mir nach Echtheit."

      "Und weshalb, meinst du, hat dir jener Friedensfreund das Material übersandt?" Sophie sagte es spöttisch.

      Liebknecht zügelte seinen kleinen Ärger über ihren Spott. "Das ist ein zu kurz Gekommener, den die Fragen von Krieg und Frieden wahrscheinlich kaum interessieren. Es sieht nach einem Racheakt aus. Der eiskalte Herr Krupp von Bohlen und Halbach mit seiner autokratischen Betriebsführung hat sicherlich nicht nur Freunde. Mit einigem Witz lässt sich so etwas doch wohl rekonstruieren?"

      "Besonders wenn der Wunsch der Vater des Gedankens ist."

      Liebknecht war nahe daran, heftig zu werden. "Wünschst du etwa, dass dieses Material nicht echt sei?"

      "Trotzdem lasse ich mich nicht dazu verleiten, es schon als echt zu nehmen. Wie ich dich kenne, trätest du bei der nächsten passenden Gelegenheit am liebsten damit vor den Reichstag."

      Das war eine verlockende Vorstellung, Liebknecht begeisterte sich bereits. "Stell dir mal vor, wenn ich vor dem Hohen Haus sagen könnte: Herr von Krupp, Sie als außerordentlicher Gesandter des Deutschen Reichs und Idol der Nation organisieren den Landesverrat; Herr Hugenberg, Sie als Verantwortlicher der Firma und berühmter Patriotard, lassen seit Jahren Beamte des Heeresbeschaffungsamtes bestechen und kassieren dafür Berichte über allergeheimste Reichssachen der Landesverteidigung. Oder wollen Sie behaupten, Sie wüssten von den Umtrieben jenes Herrn Brandt nichts, des Leiters der Berliner Krupp-Filiale?" Als suche Liebknecht Beistand gegen einen leise aufkommenden Zweifel, fragte er suggestiv: "Glaubst du nicht, dass es womöglich das nächste Budget des Heeresetats zu