E.R. Greulich

Der anonyme Brief


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pries dessen leichte Hand beim Rasieren und unterstrich es mit einem guten Trinkgeld. Das Frühstück ließ er sich im Zimmer servieren, da er befürchtete, Morizet würde noch einmal aufkreuzen. Im Speisesaal könnte er ihn nicht gut abwimmeln. Bald darauf lobte sich Scheidemann ob dieser Vorsicht. Von der Rezeption kam ein Anruf, Monsieur Morizet wünsche Herrn Scheidemann zu sprechen, ob er heraufkommen dürfe. Blitzschnell überlegte Scheidemann und bat, Monsieur Morizet möge im Lesezimmer warten, er werde sich beeilen. Scheidemann beeilte sich wirklich. Der Koffer war schnell gepackt, das Zimmermädchen dankte mit einem anmutigen Knicks für die spendable Aufmerksamkeit und zauberte den Empfangschef mit der Rechnung herbei. Scheidemann bezahlte, bat, eine Autodroschke zur Gare du Nord zu bestellen, und fragte, ob dieser Monsieur Morizet im Lesezimmer Platz genommen habe.

      Unbewegten Gesichts schüttelte der Befrackte den Kopf. "Non, Monsieur, er hat sich vor dem Lift postiert."

      Für diese Auskunft schob Scheidemann schnell noch ein Francstück zu dem Geld auf dem silbernen Tablett. Er stieg ins Erdgeschoss hinab. In der Halle stand Morizet vor dem Lift, kehrte ihm den Rücken zu und starrte unverwandt auf die Aussteigenden.

      Scheidemann stellte sich hinter eine Fächerpalme und schrieb auf seine Visitenkarte, er habe den Genossen Morizet im Lesezimmer nicht angetroffen. Leider konnte er nicht länger warten, um seinen Zug nicht zu versäumen. Tausend Dank für alles, in sozialistischer Verbundenheit, Ihr getreuer Ph. Scheidemann. In Druckbuchstaben malte er den Namen Morizet auf die Karte und gab sie, auf den Namen weisend, an der Reception ab. Ein verstohlener Blick zu Morizet, der noch immer vor dem Lift stand, und Scheidemann trat durch einen Seitenausgang auf die Straße. Aufatmend warf er sich ins Polster der Autodroschke. Es ist keine Lüge, was auf der Visitenkarte steht, bester Morizet, du warst wirklich nicht im Leseraum. Dass unser Gespräch nicht zustande kam, ist also deine Schuld, nicht die meine. Wer einen Ph. Scheidemann festnageln will, muss früher aufstehen. Gestern Abend sind dir deine beiden Genossen in die Parade gefahren, heute, allein mit mir, hofftest du mehr herauszuschlagen. Glücklicherweise seid ihr Apostel der Revolution uns nicht gewachsen. Solange wir da sind, wird euch euer Vabanquespiel nicht gelingen. Eure sogenannten Massenaktionen basieren auf Tollhäuslerlogik. Als ob man einen Staat zerstören kann, ohne dass Arbeiterpartei, Arbeitergewerkschaften, Arbeitereigentum zerstört werden. Generalstreik ist Generalunsinn. Ignaz Auer hatte recht. Er hätte es nur nicht aussprechen sollen. Je weniger Gelegenheiten man den Umstürzlern zum Aufheulen gibt, desto schwieriger wird ihr Gewerbe.

      Die Autodroschke hielt am Bahnhof, ein Gepäckträger eilte herbei. Er erkannte den Ausländer und bugsierte ihn zum richtigen Fahrkartenschalter. Nachdem er Scheidemann den Koffer durchs Fenster des Abteils erster Klasse gehoben hatte, blickte er fast erschrocken auf die gute Belohnung. Dann legte er die Hand ans Mützenschild, "Merci beau coup, Monsieur - Bon voyage!"

      Angenehm berührt nickte Scheidemann. Man ist nicht umsonst einer der bestangezogenen Sozialdemokraten, hat es als ehemaliger Buchdrucker weit gebracht. Einmal wird die Partei mitregieren. Dann werden Genossen gebraucht, die auf keinem Parkett ausrutschen.

      Mit sich zufrieden, nahm Scheidemann eine Importe aus der Zigarettentasche und paffte blaue Wölkchen in die Luft des Abteils. Hoffentlich steigt niemand mehr zu. Es ist erholsam, in weichen Polstern turbulente Tage zu überdenken. Botschafter des Friedens aus Berlin; Abgesandter der stärksten Sektion der Internationale. So etwas animiert die Pariser Arbeiter. Aber wenn einer sich ans Rednerpult stellt, ohne die Mentalität des kleinen Mannes zu kennen, dann verblasst die glänzendste Aureole. Man muss nicht nur reden können, man muss immer wissen, zu wem man spricht. - Idiotie der deutsch-französischen Erbfeindschaft - wenn solch Satz die französischen Sozialisten nicht von den Stühlen reißt, dann bin ich kein Volksredner. Natürlich gibt es immer einige Querulanten wie diesen Morizet, die nach dem Haar in der Suppe fischen. Kein Zufall, dass er sich mehrmals auf Liebknecht berief. Wie mag der abgeschnitten haben in Budapest? Er erinnert mich immer an ein ofenheißes Gebäck, das unsere klugen Dummen vom Parteivorstand am liebsten verschlängen, um es los zu sein. Dabei verbrennen sie sich den Mund und mehr. Den besänftigt man mit Zustimmung und tut das Gegenteil. Fanatiker sind weder mit Argumenten noch mit Postenangeboten zu bekehren. Man muss den Leuten nicht unbedingt sagen, was sie eigentlich hören müssten, sondern was sie hören wollen. Liebknecht ist zu ehrgeizig. Aus falsch verstandener Familientradition überfordert er ständig sich und andere. Patenkind von Marx und Engels, Sohn des berühmten Wilhelm Liebknecht. Mit solchem Anfangskapital hätte unsereiner Besseres anzufangen gewusst, als ständig zu stänkern. Diese ungestüme Unruhe im Uhrwerk der Partei verbraucht viel Kraft des Apparats zur Hemmung. Aber weshalb über die Dialektik des Lebens trauern? Wozu wäre eine Riesenpartei nützlicher, als die Zügellosen zu zügeln? Es sollte mich wundern, wenn der Ausflug nach Ungarn Liebknecht nicht wieder zu irgendetwas stimuliert hat. Bin gespannt, was er uns diesmal auf den Tisch legen wird.

      Leider stiegen noch mehr Mitreisende ins Coupe. Das gerümpfte Näschen einer Dame trieb Scheidemann mit seiner Zigarre auf den Gang des D-Zuges. Er tröstete sich mit dem Gedanken, im Speisewagen werde ich mir einen Armagnac genehmigen, vielleicht finde ich eine nette Reisebekanntschaft, Die Zeit bis Chemnitz vergeht auch, das Umsteigen ist das einzig Unbequeme. Noskes Telegramm deutet Neuigkeiten an. Gute Idee von ihm, mein Zwischenaufenthalt erspart ihm oder mir eine lästige Hin- und Rückreise. Persönliche Gespräche sind ergiebiger als Briefe oder Telegramme - und sicherer. Ich darf nicht vergessen, Kinkel zu telegrafieren, dass er mich morgen in Berlin abholt.

      Als Scheidemann am nächsten Abend bei seiner Ankunft in Berlin Kinkel weder auf dem Bahnsteig noch in der Bahnhofshalle entdecken konnte, war er mehr als verwundert. Er war es gewöhnt, dass der strebsame junge Mann seine Telegramme ernst nahm. Kinkel, Sekretär-Aspirant im Fraktionsvorstand, bewunderte Scheidemann und gab dies durch kleine und große Aufmerksamkeiten zu erkennen. Er funktionierte zuverlässig wie ein Kammerdiener, stenografierte flüssig und hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Immer informiert über offizielle Parteidinge und inoffiziellen Parteiklatsch, teilte er beides stets sachlich mit. Seine Bewunderung für mich ist echt, dachte Scheidemann, außerdem weiß er nur zu gut, dass man eine Parteikarriere nicht besser beginnen kann, als wenn man sich einem der führenden Männer bedingungslos anschließt. Es ist angenehm, einen diskreten, dienstbaren Geist um sich zu wissen, er spart einem Zeit und Kraft. Mit siebenundvierzig ist man kein Springinsfeld mehr, die brauseköpfige Jugendzeit in Kassel ist fast schon Legende.

      Ärgerlich über Kinkels überraschende Unzuverlässigkeit, ging Scheidemann neben dem Gepäckträger her. Angesichts des leeren Halteplatzes für Autodroschken wuchs der Unmut des Herrn Reichstagsabgeordneten.

      Der Träger fragte Scheidemann, ob er nicht eine Pferdedroschke nehmen wolle. In einer Art Trotzstimmung erklärte Scheidemann, er werde warten. Der Mann mit der grünen Schürze setzte den Koffer ab. Scheidemann zahlte in genau abgezählten Sechsern. Tiefsinnig betrachtete der Träger das Geld auf der flachen Hand. Dann lüftete er, mit ausgestrecktem Zeigefinger den Mützenschirm hebend, die Kopfbedeckung und grinste philosophisch. "Schön Dank ooch, Herr Jraf."

      Flaps, dachte Scheidemann und tat, als habe er es nicht gehört. Angesichts solcher Musterexemplare braucht sich niemand zu wundern, wenn die Bürger von proletarischem Plebs sprechen. In seiner Verärgerung merkte Scheidemann nicht, dass ihn ein langaufgeschossener junger Mann aus einiger Entfernung betrachtete. Dessen grüner Lodenmantel schien schon Generationen gedient zu haben. Der Beobachter war barhäuptig, und wie zum Ausgleich dafür trug er das Arbeiter-Chemisett, eine Art Achtel-Oberhemd, in Berlin "Schmiesken" genannt.

      Scheidemann und auch der im Lodenmantel wurden aufmerksam, als eilig ein gut angezogener junger Mann über den Platz kam. Das Licht der hohen Gaskandelaber ließ sein blasses Gesicht noch fahler erscheinen. Er tat sehr zerknirscht. "Bitte tausendmal um Entschuldigung, Genosse Scheidemann, hatte kaum noch Hoffnung, Sie zu finden."

      Schon ein wenig versöhnt, erwiderte Scheidemann, Kinkel möge Gott danken, dass es in Berlin weniger Autodroschken gebe als in Paris.

      "Es ist nämlich wieder einmal Hochbetrieb, schwierig gewesen, mich frei zu machen. Da kommt jetzt einiges auf uns zu, zum Beispiel die Auswertung der internationalen Veranstaltungen ... Genosse Molkenbuhr hat interessante Einzelheiten aus Amsterdam mitgebracht, und ..."

      "Aus Amsterdam?"