Elke Schwab

Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi


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sie sich und Annabel schon geheimnisvolle Entdeckungen machen, die verborgene Geheimnisse aus grauer Vorzeit über ihre eigene Familie preisgaben. Das Haus gefiel ihr immer besser.

      „Annabel. Du glaubst nicht, was ich hier entdeckt habe.“

      Aber Annabel reagierte immer noch nicht.

      Nun hörte sie nichts mehr, kein Rumpeln, keine Schritte, nichts.

      Verunsichert kletterte Sabine die Leiter wieder hinunter. Ein sich wiederholenden Poltern ertönte. Erschrocken rief sie: „Annabel. Was machst du?“

      Statt einer Antwort hörte sie wieder dieses Geräusch. Es drang aus dem Erdgeschoss zu ihr. Die geöffnete Terrassentür fiel Sabine wieder ein. Sollte das Mädchen nach draußen gelaufen sein?

      Warum kam ihr der Gedanke jetzt erst?

      Hastig eilte sie die Steinstufen hinunter ins Erdgeschoss, durchquerte den Flur und die Küche. Von Annabel keine Spur. Sie lief ins Freie. Vor ihren Augen bot sich eine großzügig geschnittene Terrasse, die direkt an den nicht enden wollenden Garten angrenzte. Alte, baufällige Mauern bildeten zu ihrer Linken eine schmale Gasse, an deren Ende Sabine auf ein Plumpsklo stieß. Sie öffnete die hölzerne Tür mit der obligatorischen Herzöffnung, konnte dort aber nur Teile von Sperrmüll entdecken. Ihre Tochter war nicht dort. Sie ging weiter an dem baufälligen Schuppen vorbei und stellte mit Schrecken fest, dass man von dort ungehindert auf die Dorfstraße gelangte.

      Starker Wind schlug ihr entgegen. Ein Blick nach links, ein Blick nach rechts. Keine Annabel. Sie stellte sich mitten auf die Dorfstraße, suchte mit den Augen alle Richtungen ab, aber alles war menschenleer. Wo waren die vielen Menschen, die noch vor wenigen Minuten vor ihren Häusern gesessen hatten? Angst kroch in ihr hoch. Sie schrie den Namen ihrer Tochter. Nichts geschah. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie spürte ihren Puls rasen. Wie konnte die kleine Annabel mit ihren vier Jahren so schnell spurlos verschwinden? Sie hatte ihr Kind unterschätzt – hatte einen Fehler gemacht. Sie musste sofort nach Annabel suchen, musste zusehen, ihr Kind so schnell wie möglich wieder in ihrer Nähe zu wissen.

      Ein älterer weißhaariger Herr stand in der offenen Scheune des Nachbarhauses. Neugierig schaute er zu ihr herüber. Dieser Mann musste Annabel gesehen haben. Sofort steuerte sie ihn an und fragte: „Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen?“

      „Sind Sie die neue Besitzerin?“, kam es statt einer Antwort.

      Sabine stöhnte innerlich. Sie wollte sich jetzt nicht mit Höflichkeiten aufhalten.

      „Ja. Ich heiße Sabine Radek.“

      „Bernard Meyer.“ Sie gaben sich die Hände.

      „Ich bin vorhin mit meiner Tochter hier angekommen“, setzte Sabine von neuem an. „Sie ist weggelaufen. Erst dachte ich, sie hätte sich versteckt. Aber ich kann sie nirgendwo finden. Sie heißt Annabel, ist vier Jahre alt, hat blonde Haare, trägt einen Jeansoverall und einen Anorak mit rosa Elefanten darauf. Haben Sie sie gesehen?“

      „Ey joo“, sagte der Nachbar, was in Sabine sofort Hoffnung aufkeimen ließ. Doch dann fügte er hinzu: „Wenn Sie erst angekommen sind, kann sie noch nicht weit sein.“

      „Sie stehen doch bestimmt schon länger hier“, fasste Sabine nach. „Ist Ihnen nichts aufgefallen?“

      „Hier sind so viele Kinder“, meinte der Alte mit einem entschuldigenden Lachen. „Wie soll ich da erkennen, welches Kind darunter fremd ist?“

      Sabine ahnte, dass ihr dieses Gespräch nicht weiterhalf. Sie warf einen Blick auf die Straße, auf der zum Glück kein Verkehr herrschte.

      „Gibt es hier einen Reitstall?“, fragte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend.

      „Ja. Der befindet sich ein Stück weiter auf der rechten Seite.“

      Sabine folgte dem Hinweis des Alten, passierte mehrere Bauernhäuser und eine kleine Kirche, die ihr bei ihrer Rund-fahrt durch das Dorf nicht aufgefallen war. Schön sah die Kapelle aus. Wie eine Entschädigung für das hässliche Pendant in Rosa. Ein schmaler Weg bog an der Kirche rechts ab. Ein Schild wies darauf hin, dass sie vor dem „Chemin de Hohenau“ stand.

      Der Weg führte Sabine an einigen Häusern vorbei, bis sich vor ihren Augen Koppeln erstreckten. Das sah immer besser aus. Sabine beschleunigte ihre Schritte. Doch schon bald bemerkte sie, dass sie sich immer weiter vom Dorf entfernte. Auch sah sie den Reitstall nirgends, von dem sie annahm, ihre Tochter sei dorthin gelaufen. Wie sollte es der Vierjährigen gelungen sein, diesen Stall zu finden, wenn sie es selbst nicht schaffte?

      Der Chemin de Hohenau war stellenweise von riesigen Pfützen durchzogen. Aber Sabine lief unbeirrt weiter und ignorierte ihre nassen Füße. Es dauerte nicht lange, da endete der Weg im Nichts.

      Eisern entschlossen stapfte sie über die regennasse Wiese, bis sie nach einigen Metern vor einem reißenden Fluss stand. Frustriert kehrte sie um. Sie musste zurück ins Dorf laufen und dort jemanden suchen, den sie nach dem Weg zum Reitstall fragen konnte.

      Die Stille und Einsamkeit lasteten schwer auf ihr. Keine Menschenseele war zu sehen, kein Zeichen von Zivilisation – nur unendliche grüne Weite. Von Potterchen erkannte sie lediglich vereinzelte Hausdächer, die sich über die Bäume und Sträucher erhoben. Und den auffallend rosafarbenen Kirchturm. Ihre Angst wuchs mit jedem Schritt. Ihr Gefühl ließ sie befürchten, dass Annabel eine große Dummheit begehen könnte. Die Liebe der Kleinen zu Pferden grenzte schon an Besessenheit.

      Das Geräusch eines Zuges donnerte durch die Stille.

      Im gleichen Augenblick fielen ihr wieder die Gleise ein. In deren Nähe hatte Annabel ihren Schrei „Pferde“ ausgestoßen. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Sie schaute sich um, sah den Zug und schlug die Richtung dorthin ein.

      An den Gleisen angelangt, sah sie die Pferde, die Annabel auch bemerkt hatte. Endlich war sie auf dem richtigen Weg. Zu ihrer Rechten erstreckte sich ein Schotterweg. Die Pferdeäpfel wiesen zu ihrer Erleichterung darauf hin, dass dieser Weg zum Reitstall führte. Hinter einer Kurve wurde der Blick auf eine große Reithalle mit Stallungen und einem übergroßen, grellbunten Pferdetransporter frei. Zielstrebig steuerte sie den Hof an. Hinter der Halle konnte sie eine kleine Gruppe von Reitern auf Ponys zwischen zwei Koppeln ausmachen. Der einzige Steinbau inmitten der vielen Blechhallen und Schuppen beherbergte Pferdeboxen. Dort lag alles in Dunkelheit. Vorsichtig trat sie hinein.

      Innen herrschte Totenstille, niemand zu sehen, weder Mensch noch Tier. Sie rief Annabels Namen. Als sie ein Geräusch vernahm, glaubte sie, sie sei erhört worden, wurde aber aufs Neue enttäuscht. Vor ihr tauchte ein Mann auf, der ihr gerade bis ans Kinn reichte. Seine dunklen Augen blitzten anzüglich, sein Mund kräuselte sich amüsiert, als er sie ansprach: „Was sucht eine schöne Frau wie Sie in einem verlassenen Stall?“

      „Mein Kind.“ Sabine hatte Mühe, ihre Abscheu zu unterdrücken. Seine süffisante Bemerkung empfand sie als unpassend, besonders einer völlig Fremden gegenüber.

      Die dunklen Haare des Mannes waren mit einigen grauen Strähnen durchzogen. Seinen Schnurrbart pflegte er offensichtlich; es schien, als sei ihm dieser Teil seines Äußeren besonders wichtig. Seine Augen hafteten unverhohlen auf ihren Brüsten, als er weitersprach:

      „Es kommen immer sehr viele Kinder zum Stall. Mein Schwiegersohn lässt sie kostenlos auf seinen Ponys reiten.“

      Sabine traute ihren Ohren nicht. „Aber doch nicht meine Tochter. Sie ist hier völlig fremd.“

      „Ob Ihre Tochter dabei ist, weiß ich nicht. Ich kenne ja nicht jedes Kind. Dafür sind es zu viele.“

      Aufgeregt rief sie: „Hier sehe ich kein einziges Kind. Wo sind denn alle?“

      „Mein Schwiegersohn ist vor wenigen Minuten mit ihnen ausgeritten. Er reitet immer eine kleine Runde über die Felder.“ Das Lächeln des Mannes wirkte aufgesetzt.

      Sabine schrie fast vor Entsetzen. „Das einzige Pony, das meine Tochter reiten kann, ist unser eigenes.“

      „Dann kann ja gar nichts passieren.“ Der Mann