Elke Schwab

Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi


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Tochter verschwunden war. Sie berichtete von ihrer Suche nach Annabel, von den Menschen vor Ort, die sie nicht verstand, und von einem davon stürmenden Pony. Tanja musste sich selbst zusammenreimen, welches grauenhafte Szenario sich in diesem kleinen Ort abgespielt haben musste.

      Im Hintergrund hörte sie Lara rumoren. Den Geräuschen nach war sie noch immer wütend. Doch in diesem Augenblick empfand Tanja ihr Toben als wohltuend. Sie ahnte, dass dieser Anruf etwas Schlimmes einleitete. Sie wagte nicht nachzufragen, was passiert war. Aber das war auch nicht nötig, denn alles sprudelte aus Sabine von allein heraus.

      Zum Abschluss ihres Berichts bat die Freundin: „Tanja. Ich bitte dich, du musst kommen. Du bist Polizistin. Nur du kannst mir helfen.“

      „Ich kann in Frankreich nichts ausrichten. Meine Befugnisse enden an der Grenze.“

      „Natürlich kannst du. Mehr als diese bornierten Gendarmen, die nicht mal ein Wort Deutsch reden. Du kannst perfekt Französisch.“

      „Die Gendarmerie ist aber in Frankreich zuständig. Nicht die Kriminalpolizei von Saarbrücken. Wenn ich dort auftauche, schicken die mich sofort wieder nach Hause.“

      „Bitte komm“, flehte Sabine, als hätte sie Tanjas Erklärungen gar nicht gehört. Und wurde mit dem nächsten Satz ihrer Freundin endgültig in die Defensive gedrängt: „Stell dir mal vor, deine Lara verschwindet spurlos?“

      „Nein. Lieber nicht.“

      „Also. Ich bitte dich.“

      Damit hatte sie gewonnen. Obwohl Tanja wusste, dass sie nicht einfach ins Elsass spazieren und dort eigenmächtig ermitteln konnte, sagte sie ihrer Freundin zu.

      3

      Sabine Radeks Erbe stellte sich als rustikales Sandsteinhaus heraus, dessen schmutziggrauer Verputz teilweise abbröckelte. Es befand sich in einer Linkskurve ein gutes Stück abseits der Straße, mit einem Vorgarten, den ein kleiner, baufällig wirkender Holzzaun einrahmte. Die Scheune auf der linken Seite verdarb den ersten nostalgischen Eindruck. Zerfallen lehnte sie sich an die starke Hauswand zur Ostseite. Breite Risse ließen einen baldigen Einsturz befürchten. Der mit Steinplatten ausgelegte Weg zur Haustür war vom Regen der vergangenen Tage spiegelglatt. Tanja musste aufpassen, nicht zu stürzen.

      Kaum hatte sie geklingelt, stand Sabine schon in der Tür. Beim Anblick ihrer Freundin wusste Tanja, dass es richtig gewesen war, hierherzukommen. Sabine sah so schlecht aus, dass es Tanja einen schmerzhaften Stich versetzte. Die Freundin fiel ihr zur Begrüßung in die Arme. Außer Weinen brachte sie keinen Ton heraus.

      Es dauerte eine Weile, bis Tanja endlich das Haus betreten konnte. In der Küche wartete eine Überraschung auf sie. In dem mit neuen glänzenden Küchenmöbeln in sanften Terrakottafarben eingerichtetem Raum wartete bereits ein ein Gendarm in dunkelblauer Uniform. Er umrundete den Tisch, der das Zentrum des großen Raums bildete, trat auf Tanja zu und begrüßte sie mit einem knappen Nicken.

      „Warum ist der Gendarm hier im Haus?“, fragte Tanja, nachdem Sabine sich endlich ein wenig beruhigt hatte. „Glauben die etwa, du hältst dein Kind hier versteckt?“

      „Pssst. Der versteht jedes Wort.“

      „Am Telefon sagtest du, die sprechen kein Deutsch“, murrte Tanja.

      „Le Commandant ist unterwegs“, mischte sich der Uniformierte mit dunkler Stimme in das Gespräch der beiden Frauen ein.

      „Wird der Commandant den Fall übernehmen?“

      „Oui, Madame.“

      „Komm, ich zeige dir, wo der Stall liegt“, drängte Sabine.

      „Das geht doch nicht“, widersprach Tanja. „Der zuständige Beamte ist auf dem Weg hierher. Mit ihm musst du zum Stall gehen. Er ist es, der über alles informiert werden muss.“

      „Le Commandant wurde von uns über alles informiert“, meldete sich der Gendarm erneut ohne Aufforderung zu Wort.

      „Also. Sieh es dir bitte an.“

      „Aber Sabine. Wir müssen doch hier sein, wenn er eintrifft.“

      „Bis dahin sind wir längst wieder zurück.“

      „Okay. Danach erzählst du mir aber der Reihe nach alles, was passiert ist“, verlangte Tanja und folgte ihrer Freundin.

      Sie traten durch die große gläserne Terrassentür in einen verwilderten Garten. Vor Tanjas Augen erschien alles nur noch Grün - in einem wilden Durcheinander. Seitlich davon passierten sie den angebauten Stall, dessen Zustand von hinten genauso marode wirkte wie von vorne.

      Die Dorfstraße war so wenig befahren, dass sie ohne Besorgnis auf ihrer Mitte gehen konnten. Tanja dachte, dass es hier sehr schön sein könnte, wenn da nur nicht diese Geschichte mit Annabel wäre.

      Eine gefällte Birke säumte an einer Stelle den Bürgersteig. Einige Häuser weiter entdeckte Tanja abgesägte Äste einer Buche, die aufgetürmt am Straßenrand lagen. An der Weggabelung fiel ihr Blick auf das Eckhaus, ein Restaurant mit dem Namen „Chez Ernest“. Teure Autos standen auf dem kleinen Parkplatz davor. Direkt neben dem Restaurant sah es jedoch ähnlich aus wie hinter Sabines Haus: ein halb zerfallenes Mauerwerk, das nur noch an vereinzelten Stellen mit dem Hauptgebäude verbunden war; das Dach hing schief, von unten zog Nässe in die Steine.

      „Hier ist sie rechts reingelaufen.“ Sabines Stimme riss Tanja aus ihren Beobachtungen. „Ich weiß nicht, wie sie den Stall so schnell finden konnte.“

      Wie ein Wasserfall sprudelten die Worte aus Sabine heraus. Wieder schilderte sie in allen Einzelheiten die quälende Suche nach Annabel und ihre Hilflosigkeit, als sie das davon stürmende Pony gesehen hatte. Sie folgten der scharfen Rechtskurve, bis sie vor einer Reitanlage standen. Sie war klein, wirkte ungepflegt. Der strenge Geruch nach Pferdedung schwängerte die Luft. Schlammlöcher erschwerten ihnen den Weitermarsch.

      „Ich glaube, ich habe genug gesehen“, erklärte Tanja. „Wie Pferde in einem Stall aussehen, weiß ich.“

      Sabine schaute Tanja eine Weile zweifelnd an, bevor sie fragte: „Hilfst du mir bei der Suche nach Annabel?“

      Tanja setzte an, ihrer Freundin zu erklären, warum das nicht möglich war, aber das wollte Sabine nicht hören.

      Auf dem Rückweg fragte sich Tanja fieberhaft, wie sie es anstellen sollte, damit sie hier vor Ort ermitteln durfte. Sie wagte sich nicht, Sabine ins Gesicht zu schauen. Der Schmerz, der sich darauf abzeichnete, die Hoffnungen, die Sabine mit Tanjas Eintreffen verband, das alles konnte Tanja kaum ertragen.

      Um sich erste Eindrücke der Umgebung zu verschaffen, schaute sie sich um. Sie musste vorbereitet sein, denn – egal wie sich ihr Chef in dieser Angelegenheit entscheiden würde – wusste sie jetzt schon, dass sie hier nach Annabel suchen wollte. Fachwerkhäuser standen Steinhäusern gegenüber. Scheuneneingänge waren zu Garagen umfunktioniert. Hier und dort parkten Traktoren, das Muhen von Kühen erfüllte die Dorfstraße. Doch zu Tanjas Erstaunen roch es nicht nach dem Dung von Kühen, sondern nach Verbranntem. Sie schaute sich suchend um und entdeckte zwischen zwei Häusern Flammen, die aus einer Tonne schlugen und hellen Rauch erzeugten. Dieser Rauch verbreitete sich immer mehr, wurde immer dichter, bis Tanja den Eindruck bekam, durch eine Nebelwand zu schauen. Sie beobachtete die wenigen Dorfbewohner auf der Straße und erkannte schnell, dass sich niemand daran störte. Im Gegenteil. In Gespräche vertieft standen sie grüppchenweise zusammen und starrten Tanja und Sabine neugierig hinterher.

      4

      Jean-Yves Vallaux legte behutsam den Hörer auf. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, das auch seine Augen erreichte. Ein zufriedenes Lächeln, so zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Obwohl der Anlass traurig war. Ein vierjähriges Mädchen war in Potterchen spurlos verschwunden. Ein deutsches Mädchen. Die Kriminalpolizei - La Direction Interregional de Police Judiciaire - in Strasbourg hatte bei der Vergabe der Ermittlungen sofort an ihn gedacht, weil er