Petra Mayr

Innen


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wollte das fremdartige Wesen dort beweisen, dass es etwas zu bieten hatte, ließ es Philipp Zeuge seines lebensgefährlichen Umzugs werden.

      Der Krebs spazierte, ja stolzierte, sichtlich aufgeregt durch den Sand und betastete eilig aber sehr gezielt mit seinen roten Scherenhänden die Form, aber vor allem die Öffnung anderer Schneckenhäuser. So, wie manche Frauen im Kaufhaus Pullover begutachteten, sie an sich hielten, sich dabei drehten und wendeten und aus jedem Blickwinkel prüften, ob dieses Modell das richtige war.

      Dann hatte sich der Einsiedler entschieden. Blitzschnell schleuderte der nunmehr Hysterische sein Hinterteil aus seinem gedrehten Gehäuse und steckte es panisch in das neue Schneckenhaus.

      Philipp atmete auf. Er konnte gerade noch den fleischig gelben Körper sehen, bevor dieser in seiner neuen Unterkunft verschwand. Sabrina war seinen Blicken gefolgt, als wollte sie seine Gedanken lesen. Das tat sie immer, wenn er ihr nicht ungeteilt seine Aufmerksamkeit schenkte, ihr zu entgleiten drohte.

      Eine ihrer Disziplinierungsmaßnahmen, die Philipp nicht ausstehen konnte. Nun schien sie überrascht und sprachlos. Noch nie, seit sie den Krebs hatte, — er war am Fenster ihres Wohnzimmer einquartiert und konnte, wenn er auf einen Stein kletterte mit seinen Stilaugen einen Blick in den Garten werfen —, noch nie jedenfalls, hatte er sich getraut, sein Haus zu wechseln.

      „Aus Angst vor Verletzung“, dachte Philipp und ihm wurde klar, dass es genau das war, was ihn mit dem Einsiedlerkrebs verband. Genauso wie dieser Krebs fühlte er sich. Der Einsiedlerkrebs hatte einen verletzlichen Kern, den er um alles in der Welt schützen musste.

      „Mir geht es doch ebenso, oder nicht?“, er stellte sich selbst diese Frage, die er ohne nachzudenken auch schon beantwortet hatte.

      Sabrina suchte etwas im Kühlschrank. Er konnte das Gefühl nicht loswerden, dass ihm diese Frau, wie schon einige andere, immer wieder seinen Schutzpanzer entreißen wollte und er ständig kämpfen musste um seine lebenswichtige Hülle.

      Als Sabrina mit einem Kännchen Milch an den Tisch zurückkam, suchte Philipp in ihrem Gesicht etwas Mitfühlendens oder doch zumindest Verständnisvolles. Er konnte aber nichts dergleichen finden. Letztlich endete auch diese Sache wie schon viele vorher.

      Jetzt, wo er an Sabrina dachte, schien sie auf das Wesen im Terrarium geschrumpft zu sein. Er sah dann entweder einen bedauernswerten Krebs, der schlapp und ziellos ohne Gehäuse umherirrte. Oder, manchmal, je nach Stimmung, geisterten auch zwei Frauenhände durch seinen Kopf, die dem Einsiedler gewaltsam das Schneckenhaus vom Leib rissen.

      Aber das alles war eine uralte Geschichte und längst vorbei.

      Es war eine Vergangenheit, die nichts mehr mit ihm zu tun hatte. Erst jetzt, wo er sie wieder hervorgeholt hatte, wurde es ihm klar. Es schien als läge eine dicke Staubschicht auf seiner Erinnerung. Nur hier und da trat der Anflug eines alten Gefühls hervor. Obwohl es auch nicht wirklich ein Gefühl war, sondern nur die Erinnerung an ein Gefühl. Das alles war so weit weg, so schemenhaft, so unwirklich.

      Mittlerweile war er sich noch nicht einmal mehr sicher, ob wirklich er es war, der das alles erlebt hatte.

      2. Zwei Welten

      „Man kann sich auf zwei Arten irren. Man kann glauben, was nicht wahr ist, oder man kann sich weigern zu glauben was wahr ist.“

      Søren Kirkegaard, Philosoph

      Philipp überholte den Chrysler. Er musste den Hebel für den Blinker per Hand zurückstellen, der Rückholmechanismus war defekt. Als das klickende Geräusch stoppte und er an einem Birkenwäldchen vorbeirauschte, fiel ihm auf, dass er lange nicht darüber nachgedacht hatte, wie gut es ihm mit Gil ging.

      Ja, er war sich genau genommen noch nicht einmal sicher, ob ihm das jemals bewusst war. Warum auch?

      Wer fragt sich schon, wenn hohes Fieber überstanden ist, nach dem Grund der Genesung? So sehr uns auch das Schlechte mitnimmt, so flüchtig nehmen wir das Gute entgegen. Da war Philipp nicht anders als jeder x-beliebige.

      Philipp hätte es nicht sagen können, warum das Leben mit Gil so gut funktionierte, obwohl ihm das vorher mit keiner anderen geglückt war. Aber, wie gesagt, er hatte auch nicht ernsthaft darüber nachgedacht, was wohl kein Fehler war. Hätte er es getan, dann, ja dann, wäre er vielleicht auf den Grund dafür gestoßen. Aber wäre das gut gewesen? Eher nicht.

      Auch, wenn Philipp das Ideal einer romantischen Liebe zuweilen bis ins Lächerliche übertrieben schien, hätte es sein können, dass der Grund für sein geglücktes Zusammenleben ihm dann doch zu banal erschienen wäre.

      Es lag nämlich nicht an Gils Person, wie er immer vermutete, oder doch zumindest nicht direkt.

      Was sich für viele andere Paare eher zu einem Hindernis entwickelte, entpuppte sich bei diesem Paar zum fulminanten Vorteil. Zwei Menschen mit unterschiedlicher Muttersprache. Hier war es ein echter Segen. Wenn Philipp und Gil über ihre Liebe zu Bäumen sprachen, dann schwebten Gil die uralten, riesigen Mammutbäume vor, während Philipp an Pappelreihen oder Buchenwälder dachte.

      Man kann sich denken, was passierte, wenn beide über Gefühle sprachen.

      Gils Deutsch war mittlerweile hervorragend, Philipps Englisch war besser geworden.

      Das tat der ganzen Sache allerdings keinen Abbruch. Jeder hatte seine eigene Vorstellung, sein eigenes inneres Bild von diesem oder jenen. Unschärfe, Mehrdeutigkeit und der letzte Rest von Diffusem, die einer Fremdensprache immer anhaften, bewahrten Philipps empfindlichen Kern vor Zudringlichkeiten, ohne dass er davon wusste.

      „Nehmen sie die Ausfahrt“, tönte die Stimme aus dem Navigationsgerät. Nach ein paar Kilometern Landstraße, war er angekommen. Er fuhr durch knisternden Kies und parkte auf einem kleinen Vorplatz direkt vor einem Bauernhaus aus alten roten Ziegelsteinen, die Philipp so sehr mochte.

      Dezente Farbunterschiede der schmalen Ziegel gaben der Wand Struktur, ließen sie lebendig erscheinen. Manche Steine hatten einen Stich ins Orangefarbene, bei anderen tendierte der Grundton ins Bräunliche.

      Insgesamt aber hätte man die komplette Hauswand als rot bezeichnet.

      An die matte Oberfläche der Steinwand hatte sich eine wilde Rose gelehnt, die offenbar provozieren wollte. An ihrem letzten Blütenkelch waren Blätter in kräftigem Pink.

      Irgendetwas leuchtete noch am Armaturenbrett. Philipp stellte den Blinker zurück. Er war ein wenig zu früh angekommen, was oft der Fall war, denn er hasste es, zu spät zu sein. Wer zu spät kam, der verfügte über die Zeit der anderen, dachte er sich nämlich immer.

      Er lehnte sich im Auto etwas zurück, betrachtete noch einmal die Rose vor den alten Klinkersteinen, entdeckte nun auch knallrote pralle Hagebutten und dachte über sein Leben und die Herausforderungen seines Berufes im Besonderen nach.

      Je nach Persönlichkeitsstruktur der Bauherren mutierte die Planung eines Hauses zu einer Traumfabrik. Das wusste jeder erfahrene Architekt. Aus den tiefsten Schichten des Selbst meldeten sich unerwartet Wünsche zu Wort, die hin und wieder weder umsetzbar noch alltagstauglich waren.

      Von Euphorie bis Größenwahn. Das war die Phase eins.

      Ein guter Architekt, das wusste Philipp, versuchte diese Ideen seiner Kunden zurechtzustutzen und mit den Bedürfnissen in ihrem Alltag in Einklang zu bringen.

      Ein guter Architekt wurde zum Therapeuten.

      Dass wusste Philipp von seinem großen Vorbild. Richard Neutra ließ seine Kunden ausführliche Dokumentationen ihres Tagesablaufes schreiben. Dann entwarf er dazu das passende Haus, die passende architektonische Lösung. Neutra, das wurde ihm plötzlich klar, tastete die Gedankengebäude seiner Kunden ab, wie der Einsiedlerkrebs die neuen Schneckenhäuser.

      Filigrane Bungalows, lichtdurchflutet und übernatürlich schwebend sollten wie eine zweite Haut das Leben ihrer Bewohner umhüllen. Neutra schlich auf Grundstücken umher wie ein Schmetterlingsfänger.

      Er setzte sich ins Gras, beobachtete genau