Werner Heinemann

Spuren von Gestern


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      Und Opa hatte bestätigt: „Ja, meine Kleine hat sich ganz schön rausgemacht und wenn sie erst das Brautkleid anhat, dann werde ich auch noch mal jung.“

      Oma konterte darauf: „Wozu das denn?“

      „Damit ich noch einmal mit der schönsten Braut tanzen kann“, hatte Opa stolz und überzeugt geantwortet.

      Rambo knurrte und brachte Ria in die Jetztzeit zurück. Er war aufgestanden und angriffslustig. „Schhh“, beruhigte ihn Ria. Der junge Mann, der ein Fahrrad schob, war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt und als er ihre Höhe erreicht hatte, blieb er hinter Opas Staketenzaun stehen.

      „Guten Tag“, sagte er, „hier geht’s doch zum Landgasthaus Schöne Aussicht.“

      Ria erhob sich, Rambo machte neben ihr Sitz. „Nein“, bedauerte Ria, „hier geht’s zu den Fischteichen und danach ist Schluss“. Sie dachte, was er doch für schöne weiße Zähne hat, eine gesunde braune Haut und diese Augen, die sie so ansahen.

      „Au Mann“, sagte er, „heute ist nicht mein Tag!“

      Ihr war nicht richtig bewusst, dass sie auf den kleinen Steinplatten direkt auf ihn zuging. Rambo, ganz Herr der Lage, schritt dicht an ihrer Seite. Zwischen ihnen der Zaun. Sie musste ein wenig zu ihm aufsehen, als sie erklärte: „Nach der Ortsausfahrt hättest du – ich meine Sie – gleich die erste Abfahrt nehmen müssen, dort ... und dann bergauf im Wald ... ich meine da drüben ... das ist die Schöne Aussicht.“

      Er sah in die Richtung, entdeckte sein entferntes, verfehltes Ziel und stellte trocken fest: „Na, dann habe ich ja noch was vor mir.“

      Rambo machte Sitz und verfolgte das Geschehen aufmerksam.

      Ria hatte die Augen gesenkt und ging mit sich selbst ins Gericht. Was stammelte sie nur für ein wirres Durcheinander? Warum stand sie hier am Zaun? Was war los mit ihr? Und was er für schöne, gepflegte Hände hatte. Diese tiefe Stimme, die stoisch feststellte: „Na, dann habe ich ja noch was vor mir.“ War ihr heiß oder kalt? Sie wollte ruhiger atmen als ihr Herz schlug. Das gelang ihr nur, weil das Herz zu rasen begann.

      Als sie ihn reden hörte, hob sie wieder ihre Augen. Sie hörte wohl, aber verstand ihn nicht. Er musste sie für blöd halten. Sie stellte fest, dass sie bejahend mit dem Kopf nickte. Oh, wie peinlich! Das Fahrrad, was war mit dem Fahrrad? Ach, er hatte einen Platten. Dieses uralte Fahrrad hatte mit Sicherheit nicht den ersten Platten. Sie musste ihm helfen. Er durfte unter keinen Umständen mit einem platten Reifen wieder davon schieben.

      „Ja, ja. Natürlich, ich hole Ihnen Wasser“, brachte Ria immer noch ganz neben sich heraus.

      Aber er hielt sie zurück: „Wir waren doch eben schon beim Du.“

      Beim Du? Ja, sie hatte öfter zustimmend mit dem Kopf genickt. Ja, ja, sagte sie sich, tausendmal Ja! Und sie stammelte: „Oh ja“.

      „Übrigens, ich heiße Jonas“, sagte er und sah sie dabei mehr lieb als nur freundlich an.

      Er heißt Jonas, schoss es ihr durch den Kopf. Und innerlich flehte sie: Bleib hier, ich hole dir Wasser. Aber er ließ sie nicht gehen. „Und? Und wie heißt du?“, wollte er wissen.

      „Ria“, sagte sie und dachte: Jonas, ich heiße Ria.

      Jonas glaubte: „Ria ... das ist schön kurz, das kann ich mir merken.“

      Sie sahen sich an. Und sie sahen sich ganz bewusst in die Augen. Ria glaubte sich in seinen zu verlieren. Sie rettete sich gerade noch: Das Wasser, das Wasser. Ich muss Jonas in einer Schüssel das Wasser holen, damit er nicht mit einem platten Reifen wieder davonziehen muss.

      Ria lief davon und rief in sich hinein: Das ist sie. Das ist die Liebe. Ich bin verliebt. Ich liebe Jonas.

      Rambo entschied sich, den Kerl auf der anderen Zaunseite weiter streng zu beobachten. Jonas war so klug, die Staketen nicht zu berühren, denn Rambo hätte die schwere Grenzverletzung aggressiv beantworten können. Er holte stattdessen aus der kleinen ledernen Tasche am Fahrradsattel das Flickzeug.

      Alles wird jetzt anders sein, Ria, sagte sich Ria. Wie schnell doch das mit einem passiert. Und wie völlig neben sich der Verstand gerät. Nur noch diese Gefühle im Bauch, im Kopf, im Herzen, sie alle jubilieren Jonas, Jonas, Jonas. Ja, Liebe hat etwas von glücklich sein.

      Aber auch Ria erfuhr schnell, wie die Sorge um das Glück aller Liebe einen bittersüßen Beigeschmack untermischte. Kann sie sich denn seiner Liebe überhaupt sicher sein? Nein, seine Liebe zu ihr setzte sie voraus und seine Blicke will sie falsch verstehen, glaubte sie. „Aber er sieht mich doch so an, so ... ich weiß nicht wie. Da irre ich mich nicht“, sagte Ria halblaut und wenig überzeugt zu sich selbst.

      Was aber, wenn Jonas den Fahrradschlauch reparierte, sich für die Hilfe bedankte und auf Nimmerwiedersehen davonradelte? Ria beschwor sich: Das muss ich verhindern. Ich muss ihm zeigen, wie gern ich ihn habe, obwohl ich ihn doch erst seit ein paar Minuten kenne. Er wird mich verstehen, er muss mich verstehen. Und er sieht mich doch auch so an.

      Die Befürchtung, dass er schon eine Freundin hat, ließ nicht lange auf sich warten. Es schmerzte schon, bevor es überhaupt sicher war, dass er vergeben war. Nein, ich will nicht dran denken. Ich will, das Jonas mir gehört, sagte sich Ria entschlossen und fügte flüsternd an: „Ich kämpfe um ihn.“ Dabei ballte sie eine kleine Faust.

      So ungeschickt hatte sie sich selbst noch nicht erlebt. Beinahe hätte sie das Wasser vergossen. Ria stellte die Schüssel ab. Jonas war schon fertig und pumpte den Schlauch auf. Rambo strich hinter dem Zaun auf und ab. Die Lage hatte sich anders entwickelt, als er angenommen hatte. Zudem war Ria zu dem Kerl auf der anderen Seite des Zauns gewechselt. Entspannung war angesagt, auch wenn’s dem Hund schwerfiel.

      Jonas kniete auf einem Bein, ihm gegenüber tat’s ihm Ria nach, zwischen ihnen die Schüssel. Rambo kam dazu und zeigte sich interessiert. Jonas zog prüfend den aufgepumpten Schlauch langsam durchs Wasser.

      „Da! Da sind sie!“, sagte Ria und wies mit dem Finger auf aufsteigende Luftblasen. Ihre Blicke fanden sich wieder kurz, es tat so gut, es war so schön. Lächelte er sie an oder amüsierte er sich über sie?

      Plötzlich schoss es siedend heiß durch ihren Körper. Sie spürte, wie ihr Gesicht rot anlief. Ria wurde bewusst, dass sie lediglich in engen, alten Jeans, deren Hosenbeine sie sehr hoch abgetrennt hatte, und einem sparsamen Top leicht bekleidet von den Augen des Geliebten gesehen wurde. Hier draußen, wo immer nichts passierte, war die Kleidung gleichgültig, Hauptsache bequem und dem Wetter angepasst, aber was sollte Jonas von ihr denken? Er musste denken, sie sei so eine, so ein leichtes Mädchen. Wie sollte sie es ihm erklären, dass es sich nicht so verhielt? Aber seine Augen, die sie so ansahen, die sagten etwas ganz Anderes als leichtes Mädchen. Und das spürte und beruhigte Ria.

      Jonas testete den geflickten Fahrradschlauch. „Der ist dicht“, sagte er, ließ die Luft ab und baute alles wieder zusammen.

      Rambo schlabberte zwischendurch Wasser aus der Schüssel. Ria sah Jonas zu und wollte helfen, aber er brauchte ihre Hilfe nicht. Jonas war fertig und Ria sah, dass er sich nicht einmal seine schönen, gepflegten Hände schmutzig gemacht hatte und sie trotzdem in der Schüssel abspülte.

      Mit Blick auf das Landgasthaus Schöne Aussicht sagte Jonas: „Seit ein paar Tagen habe ich da oben einen Job. Heute, an meinem freien Tag, wollte ich mal mit dieser Gurke die Gegend erkunden.“

      Er schwang sein Bein über den Sattel und sah sie lächelnd an: „Vielen Dank für die Hilfe!“ Ria flehte innerlich: Fahr nicht, bitte fahr nicht so einfach weg!

      Ria hätte nicht so besorgt sein müssen, denn so wie er sie die ganze Zeit angesehen hatte, war klar, dass er nicht so einfach wegfahren würde. „Ria“, sagte Jonas, „ich glaube, heute ist doch mein Tag.“

      „Ja“, bestätigte sie, „meiner auch.“

      Er reichte ihr die Hand. Sie nahm sie und hielt sie fest. „In einer Woche habe ich wieder meinen freien Tag. Wenn du willst, komm ich wieder. So gegen drei?“