Werner Heinemann

Spuren von Gestern


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entzog ihr seine Hand, trat in die Pedale und radelte davon.

      Ria, ihr Glück kaum fassend, sah ihm gemeinsam mit Rambo nach. Er sah sich nicht mehr um, wurde kleiner und kleiner, bis er nur noch als winziger Punkt zu sehen war.

      Als sie sich umwandte, stand Opa mit verschränkten Armen in der Hofeinfahrt und Ria ahnte, was er dachte: Wie alt mag er sein, so neunzehn, zwanzig? Also Bauer ist der jedenfalls nicht.

      Auf dem Balkon

      Sie standen in Hemd und Hose auf dem Balkon und sahen in den späten Abend hinein. Sie im kurzen Hemd und er in einer kurzen Hose, die man spätestens seit dem verlorenen Krieg auch in der deutschen Heimat vornehmlich Shorts nennt. Sie rauchte und er dachte: Muss sie denn ausgerechnet jetzt rauchen, wo ich ihr doch den Antrag machen will?

      Beide blickten in den sich zunehmend verdunkelnden Himmel, der sich über der etwas heller abgesetzten mediterranen Landschaft wölbte. Die ersten Sterne deuteten sich zaghaft an; der Mond war nicht zu sehen, weil er sich ganz, ganz blass ihrem Blickfeld entzog. Ihr fror in ihrem kurzen Hemdchen, das man spätestens seit dem verlorenen Krieg auch in der deutschen Heimat vornehmlich Shirt nennt. Es war nämlich schnell kühler geworden.

      Er dachte: Wenn wir ein Zimmer auf der anderen Hotelseite hätten, hätten wir den Sonnenuntergang über dem Meer miterleben können. Sie geht aber nicht im Osten unter und Seeblick ist nun mal teuer. Manchmal spart man am falschen Ende, aber so war es auch schön. Wie so ganz anders es hier roch! Ganz anders als zuhause. Auch die Geräusche jetzt am späten Abend klangen völlig fremd.

      Sie fragte: „Weißt du noch? Im Mai in Hamburg auf der Parkbank an der Binnenalster? Erinnerst du dich? Es war so warm. Wir hätten die ganze Nacht dort sitzen können, ohne zu frieren.“

      Und ob er sich erinnerte. So lange war das ja nun auch nicht her, die paar Monate seit Mai. Es hatte nach einem Duftmix aus Flieder, Kirsche, Kastanie und Alsterwasser gerochen. Oder etwa so in der Art; jedenfalls so wie es im Mai an der Binnenalster gewöhnlich riecht. Doch irgendetwas fehlte ...

      Er fragte zurück: „Kannst du dich an Vogelgesang, Motorenklang oder Menschengemurmel erinnern? Meine Maierinnerung ist ganz ohne Ton. Das ist sinnlich irgendwie inkomplett.“

      Sie drückte die Zigarette auf der leeren Zigarettenschachtel aus und balancierte sie auf dem Geländer. „Nein, ich habe nur noch deine Stimme im Ohr. Ich hatte mich ganz auf dich konzentriert und wollte wissen, ob ich dich wirklich haben will“, antwortete sie und blickte wieder in den späten Abend.

      Oh, dachte er, sie war anfangs noch unentschieden, ob sie die ganze lange Nacht ohne zu frieren mit mir auf der Parkbank oder im sündhaft teuren Hotelzimmer verbringen wollte.

      „Was gab denn den Ausschlag, deine folgenschwere Entscheidung für mich zu fällen?“, wollte er wissen.

      Sie drängte dicht an seine Seite und konterte: „Wer sagt dir denn, dass ich mich überhaupt schon für dich entschieden habe?“

      Ihre Hand strich über seinen nackten Rücken. Das fühlte sich trotz ihrer kalten Finger angenehm an. Er sagte: „Du hast kalte Hände.“

      „Ja“, bestätigte sie, „und die Füße sind noch viel, viel kälter. Ich friere. Und du musst meine Finger wärmen.“

      Ihre Hand fuhr vom Rücken unter die kurze Hose. Sie lachte: „Da ist nicht viel dran. Aber schön warm ist es hier.“

      Er dachte: Man müsste das jetzt festhalten können, für immer, für ewig, nicht bloß als Erinnerung, mehr so als wieder abrufbares erneutes Erleben. – Sie riecht so gut. Wie würde ich sie und ihre Stimme vermissen, wenn wir mal getrennt sein sollten. – Aber sie friert leicht, besonders an den Füßen. Sie wird sich hier draußen noch erkälten.

      Er sagte: „Deine Hand ist wirklich kalt, eiskalt.“

      Jemand versuchte sich auf einer Geige. Schräg quietschend lagen die Misstöne in der Luft und wollten nicht so recht zum späten Abend passen. Zwei Kater hatten sich seit geraumer Zeit stumm und bewegungslos drunten auf dem Parkdeck gegenübergesessen. Aus heiterem Himmel schrien und schlugen sie sich plötzlich.

      „Einer von den beiden hat ganz offensichtlich die Nerven verloren“, kommentierte er das Geschehen.

      Dicht an seinem Ohr hörte er sie deutlich atmen, als sie ihn mit gedämpfter Stimme aufforderte: „Komm, wir spielen Verstecken unter der Bettdecke. Ich erfriere hier ja sonst noch.“

      „Nein, erfrieren darfst du mir nicht“, antwortete er.

      Und beim Versteckspielen unter der Bettdecke vergaß er ganz und gar, dass er ihr doch an diesem späten Abend einen Antrag machen wollte.

      Blues

      Wenn einst die Nachwelt Lust verspürt, ihn aufarbeiten zu wollen, beginnen die problematischen Recherchen schon mit seiner Geburt. Man wird sein Geburtshaus nicht mehr ausfindig machen können, denn er kam in einer Nissenhütte zur Welt. Draußen vor der Stadt, wo sich heute das großflächige Gewerbegebiet erstreckt, hatte man diese Wellblechunterkünfte für die ausgebombten Bewohner, deutsche Flüchtlinge und Heimatvertriebene errichtet. Das ist aber schon ein ganzes langes Leben her.

      Dass er seine eigene Geburt überhaupt überlebte, verdankte er der Hebamme Leopolda, einer stillen, zierlichen Oberschlesierin, die später den Lottohauptgewinn kassierte und auf Nimmerwiedersehen verschwand. Die Nabelschnur drohte ihn zu erwürgen. Leopolda gelang es, dies ohne ärztliche Hilfe zu verhindern. Und nachdem sie ihn minutenlang bearbeitet hatte, brach aus dem ins Leben Geretteten der Weltschmerz heraus. Er schrie ausdauernd und fiel anschließend erschöpft in einen ersten Schlaf.

      „Von Anfang an ging es sofort mit der Scheiße los“, wird er nicht müde, seine eigene Geburtsstunde zu kommentieren.

      Tatsächlich tat er sich schwer, fasste nur mühsam Fuß und es ging ihm nichts von der Hand. So steht er bis heute immer im Abseits, am Rand, allein, kontaktlos. Er ist ein verschlossener Eigenbrötler, der in seinem eigenen, für niemanden zugänglichen Universum lebt. Gelingt es eine Bresche in seine abwehrenden Mauern zu schlagen, wird er etwas zugänglicher, aber lässt dennoch niemanden wirklich an sich heran. Dann aber übertreibt er drastisch: „Von der Scheiße, die niemals aufhört, Scheiße zu sein.“

      Dörrmeier, sein Flurnachbar, sagt: „Eine Traurigkeit beherrscht ihn; er ist traurig, einfach immer nur traurig.“

      Von den wenigen Leuten, denen er nicht gleichgültig zu sein scheint, raten schon mal welche, dass er seine Schwermut behandeln lassen müsse. Doch dann blockt er sofort ab und antwortet darauf nichts. Die meisten Leute nehmen ihn gar nicht wahr. Er weiß, was die Übrigen von ihm halten. Da ist die Rede von:

      „Dieser selbstmitleidige Tropf ...“

      „Der hat bestimmt was auf dem Kerbholz ...“

      „Ein derart ausuferndes Minderwertigkeitsgefühl ...“

      „Selbstverachtung äußert sich oft arrogant ...“

      „Ein unheimlicher Menschenhasser ...“

      „Duckmäuser markieren immer ein Stück Unnahbarkeit ...“

      „Ein schweigsamer, beleidigender Ignorant ...“

      „Stellt eine schwermütige Zumutung dar ...“

      „Ein Schläfer, ein gefährlicher Vulkan ...“

      Und so weiter, und so weiter ...

      Flurnachbar Dörrmeier sagt: „Er hat den Blues, aber hat dennoch Humor. Er ist eben einfach nur traurig. Warum? Wer weiß?“

      Nun ist er in Rente und geht trotzdem morgens wie bisher, die alte Aktentasche unterm Arm, aus dem Haus. Aber jetzt taucht er später als früher im Viertel wieder auf. Er steht in Hansis Zapfhahn an der Theke und trinkt wie immer wortkarg und brummig ein Bier, das er stets