Janine Zachariae

Lydia - die komplette Reihe


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ist sie sonst? Verständ’ge Raserei

      Und ekle Gall und süße Spezerei.«

       William Shakespeare, ›Romeo und Julia‹

      ***

      »Weil sie eben unsere Lydia ist. Für sie ist Liebe nun mal stärker als alles andere. Aber sei vorsichtig! Sie ist verletzlicher, als sie es sich selbst eingesteht. Sie würde nie ein schlechtes Wort über uns denken, und doch wird sie das Gefühl haben, hintergangen worden zu sein. Wir haben sie in dem Moment im Stich gelassen, als Vater beschloss sie wegzuschicken.«

      »Wir hatten keine Wahl.«

      »Es gibt immer eine Wahl«, meinte Michael ernst.

      ***

      Text und Idee: Janine Zachariae

      Bilder: Zedge und Pixaby

      Cover: Janine Zachariae

      

      Prolog

      

       2009

      Geschichten entwickeln sich meist wie von selbst. Irgendwie sind sie schon da, bevor man sie niederschreiben will. Sie sind präsent in Gedanken und im Handeln. Jeder von uns hat eine, jeder trägt sie mit sich. Doch kaum jemand glaubt, seine wäre es wert, aufgeschrieben zu werden.

      »Was sind schon meine Sorgen, gegenüber dem, was in der Welt geschieht?«, dachte Lydia. Sie war gerade mal 15 Jahre alt und hatte noch ihr ganzes Leben vor sich.

      Gut, bis zu jenem Zeitpunkt wusste sie nicht, dass ihre Geschichte eine ganz besondere war. Sie glaubte, ihre einzige Sorge wäre die nächste Mathematikprüfung.

      Wenn sie geahnt hätte, wie schnell sich alles verändern würde, wäre sie vorsichtiger gewesen.

      Wenn sie geahnt hätte, dass ihr Leben innerhalb der nächsten Tage auf den Kopf gestellt wird, wäre sie nicht so locker gewesen.

      Zum Glück aber konnte niemand in die Zukunft blicken, denn so blieb Lydia noch für wenige Tage ein ganz normales Mädchen, das ihr Leben so mochte, wie es war - ohne Kompromisse, ohne Herzschmerz und ohne das Gefühl so tief zu sinken, dass sie nichts mehr halten konnte ...

      *

      Drei Brüder hatte Lydia, aber nur Sam wohnte noch im Haus des Vaters mit. Nicht mehr lange, und er würde sein Jura - Studium antreten.

      Während der 21-jährige Stephen eine Art Überflieger war, einige Semester überspringen und seinem Traumjob nachgehen konnte, war der älteste, Michael, bereits seit einigen Jahren glücklich verheiratet und ebenfalls erfolgreich in seinem Job.

      Die Mutter der Kinder war kurz nach Lydias Geburt weggegangen und kam nie wieder zurück.

      Nur ihr Vater hatte noch Kontakt zu ihr.

      »Warum willst du uns nicht sagen, wo sie ist?«, waren immer wieder die Fragen der Jungs.

      »Ihr würdet es nicht verstehen, glaubt mir. Aber es geht ihr gut«, antwortete er ein jedes Mal.

      Lydia selbst hatte von alledem noch nie etwas mitbekommen.

      Es war eine Abmachung, die stattfand, als das Mädchen mit drei Jahren begann, neugierig zu werden. In der Schule aber wollte sie mehr erfahren, doch auch hier bekam sie nie eine zufriedenstellende Antwort. Sie hörte die Kinder über ihre Mütter sprechen und fühlte sich ein jedes Mal ausgeschlossen und seltsam leer. Sie wusste nicht, wieso, aber es schmerzte sie. Doch hatte sie ihre großen Brüder und diese waren für sie da, wenn sie wieder einmal traurig von der Schule nach Hause kam.

      Irgendwann begriff Lydia, dass es nicht ihre Schuld war und sie dankbar für das sein sollte, was sie hatte: Brüder, die sie beschützten und ein Vater, der alles ermöglichte. Es ging ihr gut und sie verdrängte die trüben Gedanken an eine Mutter, die sie scheinbar nicht mehr lieb hatte.

      Sie war ein lebensfrohes Kind. Ihr Vater verwöhnte sie und sie bekam alles, was sie sich wünschte. Dennoch war die Kleine bescheiden, da sie wusste, wie die Finanzen waren. Schließlich würde Sams Jura-Studium nicht billig werden.

      Auch die anderen Jungs genossen kostspielige Ausbildungen, die ihre Zukunft absicherten, ganz gleich, welche Krise das Land heimsuchte. Steve war Journalist und Michael Immobilienmakler.

      1. Zukunftsträume

      

      Manchmal kam auch Lydia der Gedanke, dass sie studieren könnte. Sie liebte Musik, Bücher und Kunst. Sie selbst war in keinem Gebiet gut, aber sie interessierte sich dafür. Ob sie überhaupt das Gymnasium besuchen wollte, nachdem sie bereits fast zehn Jahre die Schulbank gedrückt hatte, wusste sie auch noch nicht. Ihre Noten hätten dafür ausgereicht, aber eigentlich wollte sie sich lieber direkt in eine Ausbildung stürzen. Sie spürte den Drang nach Unabhängigkeit.

      »Papa, ich hab nachgedacht«, sagte Lydia eines Abends. Sam und ihr Vater schauten Fußball im Fernsehen, aber sie wartete bis zur Halbzeit, ehe sie ihnen ihre Entscheidung mitteilte. »Also«, sie holte tief Luft, »ich werde nicht das Abitur machen und demnach auch nicht studieren.«

      »Wieso nicht?« Ihr Vater war überrascht und schaltete den Ton aus.

      »Schau, ich hab überschlagen, was dich die Jungs gekostet haben. Du hast viel Geld in ihre Ausbildung gesteckt - gut, Michael hat es dir zurückgegeben, aber das wolltest du ja nicht. Die Wirtschaftskrise wird sicherlich noch lange Nachhallen und wer weiß, ob du nicht auch in einem halben Jahr Kurzarbeit leistest oder halt weniger Aufträge bekommst. BAföG will ich nicht beantragen, da man das immer zurückzahlen muss, ganz gleich, ob man es kann oder nicht. Meine Brüder haben alle ein Ziel gehabt, als sie bereits in meinem Alter waren. Sie sind auf ihren Gebieten talentiert. Ich weiß nicht, was ich machen will. Daher wäre es nicht gerecht, wenn ich noch zwei oder drei Jahre zur Schule gehe, um anschließend noch einige Semester studiere.

      Deshalb habe ich mich umgesehen, Bewerbungen verschickt und warte nun auf Antworten. Es ist ja noch etwas Zeit.«

      Manchmal, wenn Lydia etwas wirklich wichtig war, überschlugen sich ihre Gedanken.

      Die zwei starrten sie nur perplex an und es dauerte einige Augenblicke, ehe Sam endlich etwas dazu sagen konnte:

      »Schwesterchen, wie kommst du denn auf solche Gedanken?«

      »So was passiert, wenn man den Kindern seinen eigenen Fernseher gibt!«, lachte Lydia und sah demonstrativ zu ihrem Dad und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Im Ernst, ich hab das alles mit der Krise verfolgt, schon seit Monaten. Klar, US-Präsident Obama hat schon viel erreicht in seiner kurzen Amtszeit und auch Kanzlerin Merkel versucht irgendwie etwas zu machen. Aber die wirtschaftliche Lage ist nicht lustig und viele Jobs sind betroffen. Ich habe absolut keine Ahnung, was ich später studieren will. Ich möchte lieber eine Lehrstelle.

      Lernen macht mir eh keinen Spaß, das wisst ihr. Und wenn ich dran denke, vielleicht noch fünf, sechs Jahre büffeln zu müssen, ohne zu wissen, ob ich später überhaupt eine Arbeit erhalte, werde ich nur traurig. Sams Noten sind super, er muss studieren«, während sie das letzte sagte, machte sie große Augen und sah ihren Bruder an.

      »Lydia, du bist klüger als die meisten, die ich kenne, und jünger als jene, die glauben, die Welt nach ihrem Studium ändern zu können.« Sam stand von seinem gemütlichen Sofa auf und ging zu ihr.

      »Was soll’s. Drei von vier Schaf-Kinder sind Genies. Das ist doch sehr gut.« Sie brachte ihre Familie immer zum Lachen, egal, wie wichtig ein Gespräch war. »Aber macht euch mal keine Gedanken. Das Spiel fängt wieder an. Ich werde zurück in mein Zimmer gehen und etwas fernsehen.«

      »Aber keine Nachrichten mehr!«, rief ihr Bruder hinterher. Er