Öffentlichkeit zeigen, dass sie mit ihrem Gefährten genauso verfuhr wie mit jedem anderen, der sich des Verdachts auf Verrat schuldig machte. Sie war kein dummes Mädchen, das man nach Belieben um den Finger wickeln konnte. Sie war Magus Secundus Minor Lucretia L’Incarto.
Langsam stand sie auf und faltete ihre Hände ineinander.
„Es tut mir leid, Stowokor. Aber als Kommandantin dieser Expedition muss ich darauf bestehen, dass du dich einer Befragung durch die Magier unterziehst.“
Aus Stowokors Gesicht wich jede Farbe. Lucretia war klar, warum.
„Du willst mich einer magischen Befragung unterziehen?“, flüsterte er. Lucretia entging nicht, dass seine Hände zu zittern begonnen hatten.
„Ja.“ Natürlich wusste Stowokor, dass es nicht irgendeine, sondern eine peinliche Befragung war und dass die Tatsache, dass diese mittels Magie durchgeführt werden sollte, selbige noch qualvoller ausfallen ließ. Dieses grauenvolle Wissen stand nun im Raum und schnitt sich, einer kalten Klinge gleich, zwischen sie und den Mann, der ihr zum treuen Begleiter und Freund geworden war.
Stowokors bebende Hand glitt zu seinem Mund. Seine Schultern sackten nach unten. Jetzt wirkte er wie ein Kind, nicht wie der fähigste Informationsmagier, der sich innerhalb dieser Flotte befand. Wäre er doch nur unfähig! Dann hätte man den nächstbesten Informationsmagier darauf ansetzen können, seine Antworten auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Mehr wäre nicht nötig. Aber da keiner der Spezialisten auf diesem Gebiet Stowokor das Wasser reichen konnte, blieb nur noch die peinliche Befragung.
„Du willst das wirklich tun, nicht?“, murmelte er mit gebrochener Stimme. Fast hätte er sie damit zum Umdenken bewegt. Fast.
„Ich muss.“ Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Vielleicht, um sich selbst davor zu bewahren, ihn zu umarmen und damit Gefahr zu laufen, ihre Standhaftigkeit einzubüßen. „Ich werde Ahrsa Kasai informieren und ihn um die zu einem Verhör befähigten Zauberkundigen bitten.“
Stowokor atmete tief durch. Dann stemmte er sich schwerfällig hoch, warf ihr einen letzten Blick zu und verließ wortlos die Kajüte.
Als die Tür zugefallen war, ließ Lucretia sich auf ihren Hocker sinken, nahm ein Stück Pergament und verdrängte jeden Gedanken an den Moravi, sein Lächeln, seine Umarmungen, seine Küsse … eben alles, womit er ihre Welt ein wenig heller gemacht hatte.
Sie tunkte ihre Feder in das Tintenfass und setzte sie auf ein Stück Pergament:
Was soll das? Was wollt Ihr von mir?
Wumm machte es und Chara schreckte von ihren Aufzeichnungen hoch.
„Was ist?“, rief sie durch die Tür, die unter dem heftigen Schlag von Noks Faust erzitterte.
„Ben Yussef!“, donnerte der Dad Siki Na.
„Kann reinkommen!“ Chara beugte sich wieder über ihr kleines schwarzes Buch und schrieb den begonnenen Satz zu Ende.
Als sie erneut aufsah, war die Tür hinter Kerrim bereits geschlossen.
„Er möchte jetżet sprechen mit dir.“ Kerrim schob den Riegel vor und zog irgendein rundes Ding aus den Falten seines Gewandes. Es handelte sich dabei um eine Art Holzgestell und eine Kugel aus geschliffenem Kristall.
„Wer?“, fragte sie mit einem mulmigen Gefühl im Bauch.
„Al’Jebal.“
„Der Namai?“
„Kħennst du sonst noch jemanden, der ħaißet Al’Jebal?“ Er setzte sich auf den Boden, überkreuzte die Beine und stellte den Gegenstand vor sich ab. Die Kugel hatte einen Durchmesser von etwa einer Handbreit und lag nun auf dem einfachen dreieckigen Holzgestell, wo sie fast wie eine Einladung zum Anfassen wirkte.
„Kħomm schon, Chara!“
Sie fühlte sich ungelenk, als sie sich vom Bett erhob.
„Und jetzt?“, fragte sie und blickte unschlüssig auf ihn hinab. „Was genau soll ich tun?“
„Setże dich mir gegenüber.“
Chara warf einen prüfenden Blick zur Tür und glitt dann auf den Boden.
„Und weiter?“
„Du musst berühren die Kħugel mit dainen Fingern.“
Sie ergab sich ihrem Schicksal und tat, wie ihr geheißen. Innerlich versuchte sie, sich mit dem Gedanken anzufreunden, gleich Al’Jebals Stimme zu hören. Magie hatte schon etwas Befremdliches. Ein Kontakt mit Tamang vom weiten Ozean aus? Das konnte einem durchaus Respekt einflößen.
Der Kristall unter ihren Fingerspitzen erwärmte sich, kaum dass sie ihn berührte. Doch erst als Kerrim ihn anfasste, änderte sich seine Oberfläche wahrnehmbar. Ein blauer Lichtschimmer bildete sich um das Artefakt und schien die Kugel wie ein feines Netz einzuspinnen. Ein schwaches, verschwommenes Bild manifestierte sich im Kern, wurde allmählich schärfer, größer, breitete sich über die Einfassung hinweg aus. Etwas Rotes blitzte auf, und Charas Herzschlag setzte aus. So war das also. Sie würde Al’Jebal sehen. Er würde sie sehen.
Eine Gestalt im schwarzen Sessel nahm Kontur an … das ernste Gesicht, die unvergleichlichen Augen …
„Chara.“
„Al’Jebal.“
Kerrim zog eine Hand zurück und ließ sie in seinen Schoß fallen. Die andere beließ er auf dem Sockel des Artefakts. Als wollte er sich aus dem Gespräch rausnehmen. Und tatsächlich, Al’Jebal reagierte gar nicht auf seine Anwesenheit.
„Berichte“, drang er sofort zum Kern der Sache vor – jenen Dingen, über die sie nur ungern sprach.
„Wir haben einen Verräter in der Flotte.“
„Ja.“
Na sicher. Er bekam ja alles mit. Jedenfalls bis an die Grenze des Großen Abgrundes.
„Noch haben wir diesbezüglich keine Ergebnisse.“ Chara versuchte zu ignorieren, dass sich ihr Herz mit jedem Blick in seine Augen ein wenig mehr aufblähte.
Er beugte sich kaum merklich vor. „Chara, es ist nicht nur einer.“
Ach. „Wie viele sind es?“
„Einige. Ich weiß schon eine Weile, dass sich innerhalb der Allianz Spitzel des Chaos aufhalten. Ich musste sie loswerden.“
„Ihr sprecht vom Bündnis.“
„Waren wir beide nicht schon weiter?“
Chara wusste sofort, was er meinte. „Tut mir leid, es fällt mir immer noch schwer. Ich meine … du bist Al’Jebal.“
Ein knappes Nicken, dann kam er zum Thema zurück.
„Ja, ich spreche vom Chaosbündnis.“
„Dann ist diese Expedition nur ein Köder?“
„Die Expedition ist, was sie ist. Doch innerhalb einer Flotte sind die Verräter leichter zu finden und zu eliminieren als in einer Organisation von der Größe der Allianz.“
„Verstehe.“ Chara schluckte und wartete auf Anweisungen. Verstörenderweise kamen keine.
„Was willst du, das ich tue?“ Die Frage war nur natürlich. Umso befremdlicher war Al’Jebals Antwort.
„Das wirst du entscheiden müssen, Chara.“
Chara spürte, wie ihre Finger steif wurden. Wollte er ihr keinen Befehl erteilen? Nicht einen?
„Ich muss dir was sagen…“ Es musste endlich raus, lastete schwer wie Blei auf ihren Schultern. „Ich … ich habe eines deiner Geheimnisse verraten.“
Al’Jebal lehnte sich zurück. „Ich weiß.“
Und?
„Du hast schon so viele Fehler gemacht, Chara. Da kommt es auf einen mehr nicht an.“