J. H. Praßl

Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto


Скачать книгу

entwaffnet. Nur seine Magie konnte ihr gefährlich werden. Aber dagegen war sie gewappnet. Magier brauchten Zeit für ihren Spruch. Für einen tödlichen Hieb brauchte man lediglich einen Herzschlag.

      Eigentlich wollte sie nicht hinsehen. Eigentlich war es ratsam, sich diesem Anblick nicht auszusetzen. Doch sie folgte Stowokors Blick. Sie sah, was er sah: Lucretia, wie sie zwischen Tauron und Kasai auf dem Poopdeck stand und der Situation Herr war oder dies zumindest vorgab. Ihre roten Locken glänzten sogar in dem trüben Licht eines wolkenverhangenen Tages. Schönheit war so relativ wie alles andere. In diesem Fall war sie vom Einfallswinkel des Lichts abhängig.

      „Ich liebe dich, Lucretia“, murmelte Olschewski, und Chara lenkte ihren Blick zurück auf den Ozean. „Egal, was passiert.“

      Egal, was passiert …

      „Nimm ihn fest, Chara!“, übertönte Lucretias harte Stimme das leise Geständnis. „Bringen wir es hinter uns!“

      Wenn Stowokor nicht zuvor schon bar jeder Hoffnung gewesen war, dann war er es jetzt. Als er sich umdrehte, hatte sich sein Gesicht vor Schmerz verzerrt. Eine Träne stahl sich aus seinem Auge und blieb an seinen Wimpern hängen.

      Nicht doch.

      Irgendetwas in Chara rebellierte. Irgendetwas legte sich quer.

      „Er wird sich nicht festnehmen lassen, Lucretia!“, rief sie zum Poopdeck hoch.

      „Es wird ihm nichts anderes übrig bleiben!“, warf Lucretia gnadenlos zurück. „Seit wann bist du so zimperlich, Chara? Du hast ihn im Pass von Cunair Tarr ohne Hemmungen bewusstlos geschlagen.“

      Chara spannte sich an. Der trockene Boden der Pragmatik verwandelte sich in ein unwirtliches Gelände, auf dem jeder Schritt zu einem Balanceakt wurde. Zorn keimte auf dem Feld nüchterner Berechnung und trübte die Wahrnehmung.

      „Ich glaube, du verstehst nicht ganz, Lucretia“, knirschte sie und spürte, wie ihr die Hitze den Leib hochkroch. „Er wird sich unter – keinen – Umständen – festnehmen lassen!“

      „Hör auf zu reden und mach deine Arbeit!“

      Chara holte tief Luft. Von mir aus. Deine Entscheidung.

      Sie hatte sich gerade so weit, Stowokor zu packen und ihm das Messer aus der Hand zu winden, da zog er eine Schriftrolle aus seinem Gürtel.

      „Würdet Ihr Lucretia diesen Brief geben?“, fragte er und schob ihr die kleine Schriftrolle zu.

      Wie mechanisch nahm sie das Pergament entgegen und ließ es in ihrer Manteltasche verschwinden.

      „Versprecht es mir.“

      „Ich verspreche es.“ Einem Sterbenden schlug man keine Bitte aus. Besonders, wenn er unter solchen Umständen zugrunde ging.

      Ein Drachenboot näherte sich, drehte aber Augenblicke später wieder ab. Tauron hatte Flaggensignal geben lassen.

      „Wirst du mich aufhalten, Sandkorn?“, murmelte Stowokor mit schmerzlichem Lächeln.

      Chara spürte, wie ihre Augen schmal wurden. Gerade war es zwischen ihr und dem Magus sehr privat geworden.

      „Willst du dich nicht einfach von deinen Leuten befragen lassen, Stowokor?“, unternahm sie einen letzten Versuch. „Vielleicht wird es ja nicht so schlimm, wie du befürchtest.“

      „Wo liegt das Problem, Chara?“, flüsterte die Stimme in ihr.

      Stowokor schüttelte schwach den Kopf und die Träne fiel von seinen Wimpern auf das Kinn, wo sie sich zitternd an den kaum vorhandenen Bartstoppeln festklammerte.

      „Wieso nennst du ihn plötzlich Stowokor? War er nicht immer der schwächliche Olschewski?“

      Die Frage war berechtigt. Trotzdem spürte sie das leise, nagende Verlangen, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen und damit zu verhindern, was er gerade zu tun gedachte. Aber wieso sollte sie? Oder besser, wie konnte sie? Es war seine Entscheidung. Sein Leben. Seine Wahl.

      „Du kannst … das nicht verstehen, Chara. Es geht nicht darum, dass ich Angst vor der Folter habe. Schon, aber das ist es nicht …“

      „Was dann?“ Irgendwie wusste sie es, irgendwie auch wieder nicht. Die Frage war, warum sie es ganz genau wissen wollte.

      „Ich kann es dir nicht erklären. Vielleicht findest du es irgendwann selbst heraus. Wünschen tu ich es dir nicht.“ Er schloss die Augen, umfasste den Dolch fester.

      Chara spähte zu dem Drachenboot, das jetzt nur noch ein kleiner schwarzer Punkt in der Ferne war. Hätte es Stowokor geschafft, mit dem Boot zu fliehen, würden sie und die Hatschmaschin jetzt hinter ihm her sein. Im Zweifelsfalle würden sie ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, töten. Doch das hier war etwas anderes. Hier stand der Verdächtige und plante, sich das Messer selbst in den Leib zu stoßen. Seltsamerweise glaubte sie ihm, dass es nicht die Angst vor der peinlichen Befragung war. Ginge es hier um Angst, würde sie nicht zögern. Sie hätte auch kein Problem damit, ihn hier und jetzt umzubringen. Der Angst begegnete sie mit Gnadenlosigkeit.

      Doch etwas in ihr hatte sich auf Weigerung eingestellt. Sie weigerte sich, Lucretias Befehl nachzukommen. Sie weigerte sich, Stowokor dabei zuzusehen, wie er sich den Gnadenstoß verpasste. Dabei wollte sie nichts so sehr, wie diese Situation beenden. Doch da war dieser Knoten in ihrem Bauch. Und da war der Gedanke, dass dieser Moment einer der lehrreichsten in ihrem erbärmlichen kleinen Leben sein könnte. Plötzlich fühlte sie eine tiefe Abneigung gegen Lucretia.

      „Chara?“, vernahm sie Stowokors gebrochene Stimme und sie sah zurück in seine Augen. Er schwieg und hielt ihr seine freie Hand entgegen. Da war kein Zorn in seinem Blick. Nur tiefe Trauer, ein Schmerz, der ins Bodenlose zu gehen schien. Ein Schmerz, den sie nie fühlen wollte.

      Sie griff nach seiner Hand und blickte zurück auf das Meer. Eine Welle schlug die Bordwand hoch und zog sich glucksend wieder zurück. Dann ein Ruck, und Stowokors Finger schlossen sich schmerzhaft um ihre. Chara ließ es zu, dass er sich an ihr festhielt. Sie ließ es zu, dass sie ihn festhielt. Als seine Hand aus ihrer glitt, als er den Halt verlor und Richtung Boden sackte, packte sie seine Unterarme und ging mit ihm in die Knie. Ihre Blicke kreuzten sich. Ein letztes Zwinkern. Dann löste sich die verkrampfte Hand von dem Dolch in seiner Brust. Stowokors Augen wurden glasig, die Finger um ihre Arme erstarrten.

      Sachte ließ sie seinen Körper auf die Planken gleiten. Sie zog den Dolch aus seiner Brust und drehte die Spitze der Klinge nach unten. Stowokors Blut floss in einem Rinnsal durch die Hohlkehle ab und tropfte auf die Planken. Einen Augenblick blieb sie hocken und beobachtete, wie sich die dunkelrote Lache in das spröde Holz soff.

      Als sie aufstand, herrschte eine fast greifbare Stille über dem Deck der Meerjungfrau. Chara drehte sich zum Poopdeck um, hob langsam die blutige Klinge über den Kopf und rief:

      „Deine Leiche, L’Incarto!“

      Bei nächtlichem Glas, da halte ich Wacht

      Die Besprechung, die am Tag nach Olschewskis Ableben gehalten wurde, verlief so, wie man es hätte erwarten können. Lucretia L’Incarto saß steif wie die Präparation einer Leiche an der Tafel und wunderte sich darüber, warum ihre Haut an Geschmeidigkeit verloren hatte. Von ihrer eigenen Starre in tiefe Besorgnis gestürzt, versank sie mehr und mehr in sich selbst. Sie ließ sich von ihren Gedanken fortreißen. Die Gefühle hatten mit einem Mal an Attraktivität verloren, fühlten sich an wie abgestorben. Was beinahe ein Hohn war. Also denken, nicht fühlen. Doch der Gedanke, oder besser, die Frage, die unablässig wiederkehrte, war keine willkommene:

      War es tatsächlich geschehen? War der einzige, der sie je erreicht, der sie je wirklich geliebt hatte, von ihr gegangen?

      Jedes Mal, da Lucretia sich diese Frage stellte, bestand die Antwort aus einem lauten, herzlosen Ja. Und jedes Mal, da sie dieses Ja als gegeben akzeptierte, verabschiedete sie sich mehr von dieser Welt.

      Ja, Stowokor ist tot. Und nein, das war so nicht geplant. Und überhaupt, das konnte doch unmöglich ihre Welt sein. Richtig, sie hatte sich diese ja auch nicht ausgesucht.