Ulrike Eschenbach

Der Vergangenheit dunkle Zeiten


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bei Mutters Abwesenheit ab und an nach uns sah, erzählte Mutter ihr, sie sei zur Arbeitssuche unterwegs.

      Wer aber stellte eine Mutter mit zwei Kleinkindern ein, die dadurch nur bedingt arbeiten konnte? Niemand! Mutter bekam keine Arbeitsstelle, so sehr sie sich auch bemühte. Ferner war die Zeit um 1948 von sehr hoher Arbeitslosigkeit geprägt. Einen Arbeitsplatz bekamen nur jene, die Vollzeit mit mindestens fünfzig Stunden in der Woche arbeiten konnten.

      Mutter wurde nach einigen Wochen der Arbeitssuche klar, dass sie so schnell keine Arbeit bekommen würde. Trotzdem ging sie täglich unter dem Vorwand, sie suche Arbeit, außer Haus. Sie floh vor uns Kindern und vor ihrer Verantwortung. Oftmals lief sie stundenlang in dem kleinen Ort, in dem wir wohnten, ziellos durch die Straßen, immer mit den Gedanken behaftet: Wie soll es weitergehen? Das bisschen Geld, welches sie sich vor meiner Geburt gespart hatte, war fast aufgebraucht. Es musste etwas geschehen! Wir brauchten dringend Kleidung, Nahrung und Holz zum Heizen. Noch war es Spätherbst und halbwegs warm, aber wie sollte es werden, wenn der Winter Einzug hielt? Ein soziales Netz, wie in der heutigen Zeit, gab es damals nicht. Ab und zu brachte uns die Bäuerin, eine gute, sanftmütige Frau, die selbst Mutter von vier Kindern war, ein Töpfchen heiße Suppe, dazu ein Stückchen Brot oder ein paar gekochte Kartoffeln. Für mich gab es dann meist eine leckere, dicke Milchsuppe. Milch, angereichert mit Haferschleim und Honig, die so richtig schön satt und zufrieden machte.

      Mutter war am Verzweifeln; haderte mit sich, mit uns Kindern und der ganzen Welt. Immer öfter, wenn sie so planlos durch den Ort lief, kam bei ihr der Gedanke hoch, sich einfach davonzustehlen. Sich ihrer Verantwortung zu entziehen.

      Das Weihnachtsfest stand vor der Tür. An unserer Situation hatte sich noch nicht viel verändert. Mutter arbeitete zwar jetzt stundenweise auf dem Bauernhof, auf dem wir wohnten, sowie auf dem Nachbarhof. Somit hatten wir wenigstens genug zu essen sowie ein warmes Stübchen. Ansonsten aber herrschte noch die gleiche Verzweiflung und Armut. Zu Heiligabend brachte die Bäuerin meiner Mutter und meinem Bruder einen deftigen Schweinebraten mit Knödeln. Für mich hatte sie einen leckeren Grießbrei zubereitet mit Ei und Honig. Ein Heiligabend-Menü, welches für die damaligen Verhältnisse nicht exklusiver hätte sein können. Wir waren in dieser Heiligen Nacht alle satt und zufrieden, dank dieser lieben Frau.

      Im Januar unterbreitete die Bäuerin, welche ja auch unsere Vermieterin war, meiner Mutter das Angebot, sie könne ja im Sommer voll auf ihrem Hof sowie dem Nachbarhof mitarbeiten, um etwas Geld zu verdienen. Kost und Wohnen für uns wäre zusätzlich frei. Wir Kinder, schlug sie vor, würden dann zusammen mit ihren Kindern von der auf dem Hof lebenden Oma betreut werden. „Dieses Angebot klingt eigentlich sehr gut“, antwortete Mutter. Ihre Gedanken jedoch gingen schon seit Längerem andere Wege. Sie wollte wieder frei sein, keine Verantwortung mehr übernehmen müssen. Das Leben wieder in vollen Zügen genießen können und nicht am Tag hart auf dem Bauernhof arbeiten, um abends dann todmüde noch uns Kinder versorgen zu müssen. Nein! Das wollte sie nicht. Behielt diese Gedanken aber aus gutem Grund für sich.

      Einige Tage später fuhr Mutter mit der Bahn in die nahe gelegene Kreisstadt, in der Hoffnung, vielleicht dort Arbeit zu finden. Arbeit, die nicht so schwer war, wie die auf dem Bauernhof. Doch wiederum kehrte sie am Abend erfolglos zurück. Verzweifelt über ihre Situation, machte sich in ihr immer mehr der Gedanke breit, einfach davonzulaufen und alles hinter sich zu lassen. Mit diesen Gedanken behaftet, setzte sie sich in die Bahnhofsgaststätte, um schnell noch, bevor sie wieder in das Elend zu uns nach Hause musste, einen Kaffee zu trinken. Ein junger Mann, der an der Theke stand, spürte und sah die Niedergeschlagenheit von Mutter. Er sprach sie an und fragte, ob er ihr behilflich sein könne. Mutter schüttelte traurig den Kopf und antwortete: „Mir kann nichts und niemand helfen!“

      „Es gibt keine Probleme, die man nicht lösen kann“, meinte Joe, wie der junge Mann hieß. Es entstand ein nettes Gespräch zwischen beiden, wobei sich Mutter mehr und mehr verstanden und geborgen fühlte. Sie schüttete ihm ihr Herz über ihrer Arbeitslosigkeit, Not und Einsamkeit aus. Was sie jedoch verschwieg, waren wir: ihre beiden Kinder.

      Joe lebte, wie sich herausstellte, im gleichen Ort wie Mutter. Er arbeitete bei den Schaustellern, die mit ihren Wohnwagen den Winter am Rande des Ortes verbrachten. Mutter traf sich von nun an fast jeden Abend mit ihm. Durch ihre nächtlichen Ausflüge waren wir Kinder nun nicht nur tagsüber, sondern auch noch des Nachts sehr oft alleine. Dieses häufige Alleinsein machte uns Angst! Außerdem juckte und biss es uns am ganzen Körper. Von der Kälte, da den Ofen, wenn Mutter nicht anwesend war, ja niemand heizte, ganz zu schweigen. Als Mutter wieder einmal nach durch Gaukelter Nacht frühmorgens nach Hause kam, stand für sie fest: Sie würde ihr Leben ändern!

      Ändern zu ihrem Vorteil. Sie wollte wieder leben, wieder frei sein. Frei, ohne Kinder und Verantwortung. Sie meinte, dem Glanz und Rausch der großen weiten Welt folgen zu müssen. Nachdenklich sah sie auf uns beide herab. Leon, ihren Sohn, dachte sie, liebte sie ja. Das Mädchen aber hasste sie. Es erinnerte sie durch die jetzt schon frappierende Ähnlichkeit mit ihrem Vater stets an den Mann, der sie betrogen und verlassen hatte. Der Schuld an ihrer Not trug. Nein, eigentlich wollte sie keines der beiden Kinder mehr! Sie waren ihr nur ein Klotz am Bein!

      Mutter sprach im Laufe des Vormittags mit der Bäuerin. Erklärte ihr, sie müsse Morgen in aller Frühe ganz dringend, zwecks Familienangelegenheiten, zu ihrer Schwester nach Hamburg fahren und käme erst in ein oder zwei Tagen wieder zurück. Sie bräuchte sich aber nicht um uns Kinder zu kümmern, da eine gute Freundin von ihr uns versorgen würde. Ferner meinte sie, sei sie vielleicht sogar schon am nächsten Tag wieder zurück.

      Am darauffolgenden Morgen verließ uns Mutter. Sie ging, wie sie dachte, in ein schöneres, sorgenfreieres und glanzvolleres Leben. Gewissenlos und ohne sich noch einmal umzudrehen, schloss sie die Tür hinter sich zu, drehte den Schlüssel im Schloss herum, legte diesen unter den Fußabstreifer und verschwand. Sie ließ alles, ihre Kinder kalt und hartherzig ihrem Schicksal überlassend, hinter sich.

      Leon fing gegen Abend an zu weinen. Er fror, hatte Hunger und fühlte sich verdammt einsam. Wo war Mutter? Warum kam sie nicht? Er liebte sie doch so sehr! Doch alles Weinen half nichts. Niemand kam! Leon versuchte verzweifelt, die Tür zu öffnen. Er wollte zur Bäuerin ins Haupthaus laufen und sie um Essen bitten. Doch so sehr er sich auch bemühte, es half nichts. Die Tür war und blieb verschlossen. Das Feuer im Ofen war schon, kurz nachdem Mutter gegangen war, erloschen. Die Außentemperaturen dieser Wintertage betrugen weit unter zehn Grad minus. Unser Zimmerchen wurde kälter und kälter. Ich selbst konnte vor lauter Schwäche, Hunger und Kälte nicht mehr schreien oder weinen, sondern nur noch vor mich hin wimmern. Leon legte sich hoffend, dass Mutter vielleicht des Nachts zurückkäme, zu mir ins Bettchen. So konnten wir uns gegenseitig in dieser eisigen Januarnacht etwas wärmen.

      Ein gleißender Sonnenstrahl stahl sich am nächsten Morgen in unser Stübchen und schmolz mit seinem warmen Lichtstrahl kleine Löcher in die zugefrorene, mit Eisblumen verzierte Fensterscheibe. Blinzelnd blickte Leon in das grelle Sonnenlicht und entdeckte dabei die wunderschönen Eisblumen. Schlaftrunken kletterte er aus unserem Bettchen, um diese aus der Nähe betrachten zu können. Er presste sein Gesicht an die zugefrorene Fensterscheibe und blickte durch das kleine, geschmolzene Eisblumenloch hinaus in den Hof.

      Dort draußen jedoch herrschte Totenstille. Nichts und niemand wart zu sehen. Leon wurde in diesem Moment wieder bewusst, dass wir alleine und eingesperrt waren. Beide empfanden wir mächtigen Hunger und Durst, doch keiner war da, der uns etwas geben konnte. Leon schrie, heulte und stampfte mit den Füßen an die Tür, doch niemand hörte ihn. Entmutigt gab er nach einiger Zeit auf. Verzweifelt fing er an, unser Zimmerchen nach etwas Essbarem zu durchsuchen. Das Einzige, was er fand, war - ein Würfel Rama.

      Bewaffnet mit einem Glas Leitungswasser und dem Rama- Würfel, schlüpfte er zitternd vor Kälte wieder unter meine Bettdecke. Leon schleckte fast die Hälfte des Würfels hungrig in sich hinein. Anschließend schmierte er auch mir jede Menge davon in den Mund. Danach tranken wir Wasser. Unser Bettzeug war mittlerweile von Rama und Wasser gezeichnet. Aber egal, Hauptsache war: Wir hatten etwas zu essen und zu trinken.

      Nach langen, endlos wirkenden Stunden, hörten wir ein Geräusch. Es wurde ein Schlüssel im Schloss gedreht. Wer kam da? War es Mutter? Nein! Die Bäuerin kam, um kurz mal nach uns