Ulrike Eschenbach

Der Vergangenheit dunkle Zeiten


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Freundin würde sich um uns kümmern und uns versorgen. Mit Entsetzen erkannte sie, dass wir den ganzen vergangenen Tag sowie die darauf folgende Nacht frierend und hungrig in unserem kalten Zimmer, alleine und eingesperrt, verbracht hatten. Sofort heizte sie den Ofen an und brachte uns etwas Warmes zum Essen. Sie nahm uns in die Arme und gab uns Trost. „Mutter“, meinte sie, „kommt bestimmt bald zurück.“ Was sie zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht wusste oder ahnte, war, dass weder sie noch wir Kinder Mutter so schnell wiedersehen würden.

      Mutter war nun schon seit vier Tagen verschwunden. Keiner wusste, wo sie war und wie es weitergehen sollte. Da weder unsere Mutter noch die sogenannte gute Freundin auftauchte, kümmerte sich, soweit es ihr möglich war, unsere Vermieterin, die Bäuerin, um uns. Mit Bestürzung stellte sie fest, wie verdreckt und verwahrlost wir gelebt hatten. Unsere Köpfe waren von Läusen und Wanzen zerfressen. Die Körper von Leon und mir übersät mit Krätze. Mein Po und das Geschlechtsteil waren durch das ausgebliebene Säubern von Urin und Kot entzündet und eitrig.

      Fünf Tage nach dem Verschwinden meiner Mutter verständigte die Bäuerin die Gemeinde unseres Ortes. Jene wiederum gab die Sachlage an das Jugendamt sowie die Polizei weiter. Daraufhin wurden wir in ein nahegelegenes Kinder- und Waisenheim gebracht. Die Bäuerin ließ es sich aufgrund der Nähe nicht nehmen, uns einmal wöchentlich dort zu besuchen. Somit war sie über das Haus sowie unseren weiteren Werdegang informiert.

      Jahrzehnte später erzählte mir die Tochter der Bäuerin, Frau Zach, alles hier vorab Geschriebene. Da sie damals unsere Situation hautnahe miterlebt hatte, konnte sie mir bis ins kleinste Detail darüber berichten. Laut der Ärzte, erinnerte sie sich, hätte ich angeblich nur durch das Essen der Rama und Trinken des Wassers überlebt. Ihre Mutter, meinte sie, wäre auch sehr um mich und mein weiteres Wohl besorgt gewesen. Als sie erfuhr, dass ich in eine Pflegestelle vermittelt worden war, setzte sie alle Hebel in Bewegung, mich auch in jener besuchen zu können. Ihre Gedanken waren stets: Sollte sich für das kleine Mädchen kein geeignetes Zuhause finden lassen, würde sie es, trotz ihrereigenen vier Kinder, zu sich nehmen. Leider, erzählte Frau Zach, hätte ihre Mutter mich in der Pflegefamilie nur ganze zwei Mal besuchen dürfen. Jene Familie hätte panische Angst gehabt, mich wieder hergeben zu müssen. Aufgrund dessen verboten sie ihr jegliche weiteren Besuche.

      Was mich bei den Erzählungen beziehungsweise den Gesprächen mit Frau Zach sehr traurig machte, war, dass mich ihre Mutter bis zu ihrem Tod nicht vergessen hatte. Trotz des Besuchsverbots meiner zukünftigen Adoptiveltern fragte sie bei jenen noch einige Male nach meinem Befinden. Sehen durfte sie mich nicht mehr. In all den Jahren hatte sie immer wieder über Umwege versucht, etwas von mir zu erfahren.

      Ihre Worte in schon sehr hohem Alter waren: „Ich möchte nur eines wissen: Ist mein kleines Mädchen glücklich geworden? Hat sie gut sorgende Eltern bekommen? Und wie sieht sie heute aus?“ Leider, und dies bedauere ich sehr, wollte es das Schicksal nicht, dass sie mich je wieder sah. Letzteres machte mich trauriger als das von Frau Zach über uns Kinder erzählte.

      Wie sich anhand von polizeilichen Nachforschungen ergab, hatte sich unsere Mutter mit Joe, der gebürtiger Franzose war, nach Frankreich abgesetzt. Eine Freundin gab es zu keiner Zeit. Wie es aussah, wollte Mutter mit dieser angeblichen Freundin nur Zeit gewinnen, um einen Vorsprung zu haben. Zu diesem Zeitpunkt war ich knapp fünf Monate alt und hatte schon sehr viele Unschönheiten des Lebens kennenlernen müssen.

      Kapitel 2

      Ein neues Leben fing an! War dieses Leben viel besser als das bei unserer Mutter? Nein, das war es nicht! Wir wurden zwar nun immer satt, hatten warme Kleidung, ein warmes Zimmer und wurden gepflegt, doch auch hier gab es niemanden, der uns in die Arme nahm, uns Liebe und Geborgenheit schenkte.

      In der Nachkriegszeit waren die Kinderheime oft bis zum Bersten gefüllt. Manche der Eltern waren im Krieg oder durch Krankheit ums Leben gekommen. Viele Familien wurden auch durch die Kriegswirren getrennt. Kinder, die dadurch auf der Strecke blieben, wurden somit in Heimen untergebracht. Es herrschte ein sehr rauer Ton in unserem Haus. Bei jeder Kleinigkeit hagelte es harte, schon fast brutale Strafen. Mein Bruder Leon konnte und wollte vor lauter Trauer um seine Mutter sowie wegen der ganzen Situation nicht essen. Zur Strafe wurde er kurzerhand für ein paar Stunden in den Keller gesperrt. Dort war es dunkel, nass und kalt. Leon war zwar nicht alleine in diesen Kellerräumen, denn es wurden ständig Kinder, die etwas ausgefressen hatten, nicht gehorchten oder sich einfach nicht fügten, aus sogenannten erziehungstechnischen Gründen dort unten eingesperrt. Auch waren Prügel mit irgendwelchen Stöcken und Ruten an der Tagesordnung. Für meinen Bruder Leon, der dies alles mit seinen etwas über drei Jahren schon relativ bewusst erlebte, war es die absolute Hölle.

      Mein Gesundheitszustand hatte sich im Großen und Ganzen unter der Pflege des Heimes etwas stabilisiert. Die Haare, die mir aufgrund des Wanzen- und Läusebefalls abgeschoren worden waren, wuchsen langsam wieder nach. Die offenen Stellen am Körper, die sich zum Teil schwerwiegend entzündet hatten, heilten allmählich auch ab. Von meinem Bruder Leon wurde ich allerdings getrennt. Leon wurde in ein Zimmer zu gleichaltrigen Jungs gesteckt, und ich bezog ein Baby-Zimmer mit etwa zehn Bettchen. Den größten Teil des Tages wurden hier die Babys mit Mullbinden an die Gitterstäbe ihrer Bettchen festgebunden. Für ein Kleinkind eine äußert brutale Methode der Ruhigstellung. Dieses Leben hieß im Klartext: essen, schlafen und ruhig sein, ähnlich einem angeketteten Tier.

      Mittlerweile zählte ich acht Monate. Des Öfteren kamen jetzt Menschen, um mich anzusehen. Dazu wurde ich jedes Mal fein zurechtgemacht und in einen Kinderwagen gesetzt. Das Gute an der Sache war: Ich sah dabei immer meinen Bruder sowie er mich. Auch er wirkte dann meist wie aus dem Ei gepellt. Er musste sich bei diesen Aktionen still und brav neben den Kinderwagen, in dem ich saß, stellen. Was wollten diese Menschen von uns? Warum sah man uns wie ein Stück Schlachtvieh von allen Seiten an? Alle schüttelten den Kopf und gingen wieder. Oft hörten wir auch den Satz: „Nein, zwei wollen wir nicht!“ Aha… Wir sollten in eine Pflegefamilie vermittelt werden. Deshalb dieses Herausputzen und zur Schau stellen.

      Im Juni 1949 veränderte sich mein Leben von einer Stunde auf die andere grundlegend. Wieder wurden wir einem Ehepaar vorgestellt. Die Frau: etwa um die 35 Jahre alt, etwas herrisch wirkend und Hausfrau. Der Mann: ein sehr weichherziger, sensibler Mensch, etwa um die 50 Jahre alt, von Beruf eigenständiger Licht- und Wasserinstallateur. Beiden gefiel besonders ich sehr gut. Auch sie wollten nur ein Kind, da, wie die Frau meinte, sie ja selbst eventuell noch Kinder bekommen könne. Außerdem, erklärte sie der Heimleitung, wolle sie sowieso nur ein Mädchen, ein Junge käme für sie absolut nicht in Frage. Da es in dieser Zeit extrem schwierig war, Kinder zur Adoption oder Pflege zu vermitteln, gab die Heimleitung ihren Grundsatz, uns nur zusammen zu vermitteln, auf und stimmte somit einer Pflegschaft in dieser Familie zu. Sie waren froh, wieder ein Kind vermittelt zu haben. Wie schon gesagt waren erstens die Heime nach Kriegsende mehr als überfüllt, zweitens lebten viele Familien durch die Kriegsjahre noch getrennt und drittens wusste niemand so recht, wie sich die weltliche sowie wirtschaftliche Lage in nächster Zukunft entwickeln würde.

      Für mich hieß diese Vermittlung: Trennung! Endgültige Trennung von meinem Bruder. Tags darauf trat ich mit meiner kleinen Habe - einem Kleidchen und ein paar Schuhen - den Umzug zu meinen neuen Eltern an. Meine neue Mama nahm mich freudestrahlend und herzlich küssend in ihre Arme. Papa streichelte mir liebevoll über den Kopf und meinte: „Mein kleines Mädchen, jetzt wird alles gut“. Beide waren mächtig stolz, nun eine kleine Tochter zu haben!

      Endlich durfte ich die ersehnte Wärme und Geborgenheit, die ich so lange vermisst hatte, verspüren. Von allen Seiten wurde ich verwöhnt, geherzt und geliebt. Die körperlichen wie auch die seelischen Wunden heilten allmählich ab. Das Sitzen, welches ich im Heim mit meinen nun schon fast acht Monaten durch das ständige ans Bett gefesselt sein noch nicht konnte, beherrschte ich nun auch so langsam. Ich war überglücklich und fühlte mich geborgen! Diese Harmonie sollte mir aber nur in den ersten Jahren meines Lebens vergönnt sein.

      Eineinhalb Jahre nach meinem Einzug bei meinen Pflegeeltern wurde meine leibliche Mutter bei einer Polizeikontrolle verhaftet. Bei ihrer Vernehmung gestand sie, sich mit jenem Schaustellerburschen nach Frankreich abgesetzt zu haben. Immer häufiger von starken Schuldgefühlen