Ulrike Eschenbach

Der Vergangenheit dunkle Zeiten


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zu Bett.“

      Aus Angst um Papa konnte ich jedoch nicht schlafen. Gegen Morgen überwogen meine Sorgen um ihn und ich schlich mich aus dem Haus, hinüber zur Werkstatt. „Papa, Papa“, rief ich, als ich vor der verschlossenen Tür stand. Von drinnen hörte ich Papa sagen: „Mein Mädel, lass gut sein. Geh zu Bett, mir geht es schon wieder gut!“ Aufatmend schlich ich ins Haus zurück. Wieder im Bett liegend, dankte ich Gott, dass alles, wie schon so oft, doch mal wieder gut ausgegangen war.

      Kapitel 4

      Ein frühzeitiger, strenger Winter mit reichlich Schnee hatte eingesetzt. Für uns Kinder war die Freude groß. Endlich ging es nach dem langweiligen Herbst wieder mit Schlittenfahren und Schlittschuhlaufen los. Für mich sollte dieser Winter jedoch wenig Erfreuliches bringen. Nach einem fröhlichen Nachmittag auf dem Schlittenberg kam ich steif gefroren wie ein Brett nach Hause. Hose und Jacke standen durch die gefrorene Feuchtigkeit von alleine. Gott sei Dank! - Mama war nirgends zu sehen. Schnell schlüpfte ich zu Papa in die warme Werkstatt. Als er meinen robotermäßigen Gang sah, fing er lauthals an zu lachen und sagte: „Du bist ja ein richtiger Eisklumpen! Komm, zieh dich aus, ich hole dir trockene Kleidung, bevor Mama kommt.“ Zu spät! Die Tür ging auf und Mama stand vor uns. „Was ist denn hier los?“ Und dann: „Ulrike, wie siehst du denn aus? Sieh ganz schnell zu, dass du ins Haus kommst“, fauchte sie mich an. Zu Papa gewandt sagte sie in einem sehr barschen Tonfall: „Du brauchst weder darüber zu lachen, noch brauchst du Ulrike in Schutz zu nehmen. Ich hatte ihr ausdrücklich untersagt, sich nass und schmutzig zu machen, aber sie kann ja einfach nicht gehorchen.“ Ihr Gezeter beendete sie mit einem: „In Zukunft werde ich dafür sorgen, dass sie so nicht mehr nach Hause kommt“.

      Frierend schälte ich mich in unserer Küche aus den steif gefrorenen Klamotten. Als Mama meine blau gefrorenen Beine samt den Kleidern sah, begann sie wieder, mit mir zu schimpfen. „Du gehst heute ohne Essen zu Bett, damit du lernst, was Gehorchen heißt“, keifte sie mich an. „Mama, bitte, ich habe aber noch Hunger! Ich möchte nur noch schnell etwas essen und trinken. In Zukunft werde ich auch ganz folgsam sein. Bestimmt!“, bettelte ich sie an. Doch Mama ließ sich nicht erweichen. „Du gehst jetzt ins Bett und zwar schnell, sonst setzt es noch etwas“, waren ihre Worte. „Mama, bitte, ich möchte nur eine Tasse warmen Kakao, dann geh ich auch gleich zu Bett.“

      „Nein! Wer nicht folgt, geht hungrig zu Bett, oder soll ich die Peitsche holen?“ Warum nur war sie immer so streng? Heiß schossen mir die Tränen in die Augen. Gleichzeitig legte sich ein bleiernes Band um meinen Brustkorb und ich kämpfte mit starker Atemnot. Als sie sah, wie schwer ich atmete, forderte sie mich erneut auf: „Schauspielere jetzt bitte nicht und geh zu Bett.“

      Ich wollte ihr antworten, doch mir fehlte die Luft dazu. Außerdem wurde mir von jetzt auf gleich übel und schwindelig sowie mein Gesicht schneeweiß. Mama bemerkte, dass mit mir wirklich etwas nicht stimmte. Sie holte Papa aus der Werkstatt, der sofort einen Arzt benachrichtigte. Als jener eintraf, hatten sich meine Lippen durch die immer stärker werdende Atemnot schon bläulich verfärbt. Die Diagnose: Asthma! Eine Cortison- und Beruhigungsspritze brachte mir Erleichterung. Zwei Stunden später war alles vorbei und mir ging es wieder gut. Nach mehreren eingehenden Untersuchungen stand fest, dass keine Bronchial- oder Lungen-Erkrankung dahintersteckte. Die einstige, ständig immer wiederkehrende Bronchitis im Kleinkindalter war seit Längerem ausgeheilt. Kein Arzt fand je heraus, woher diese Bronchialverkrampfungen kamen. Die Anfälle häuften sich zwar, doch nach Einnahme von Medikamenten, die ich immer nur im akuten Fall nehmen musste, klang alles ziemlich schnell wieder ab. Mama war jetzt sehr besorgt um mich. Schimpfe und Prügel gab es von nun an keine mehr.

      Als der Winter, den ich durch meine nicht diagnostizierbare Krankheit nur täglich eine halbe Stunde erleben durfte, zu Ende war, schickte man mich zu einer vierwöchigen Kinder- Kur. Dort wurde, da ich in den vier Wochen Kuraufenthalt trotz Sport und sonstiger körperlicher Belastungen keine Anfälle mehr hatte, die Diagnose „psychisch bedingt“ gestellt.

      Diese vier Wochen Kur waren für mich der Himmel auf Erden. Ich genoss es, mal so richtig mit anderen Kindern toben und spielen zu dürfen, ohne ausgeschimpft zu werden. Ich fühlte mich überaus glücklich. Besonders erfreut war ich, dass ich nun auch das Einnässen im Griff hatte. Mehr als super und wohltuend empfand ich auch die Abende in diesem Kinder-Kurheim. Nach dem Abendessen saßen wir Kinder mit unseren Betreuerinnen bei Kerzenschein in der Runde. Es wurden Geschichten vorgelesen oder mit Begleitung einer Gitarrenspielerin im Reigen gesungen. Anschließend brachten uns die Betreuerinnen liebevoll zu Bett. Diese mir im Kurheim entgegengebrachte Liebe und Geborgenheit stabilisierte mich körperlich sowie seelisch.

      Wieder zu Hause, holte mich ganz schnell das alte Leben wieder ein. Durch die Diagnose „psychisch bedingtes Syndrom“ unterstellte mir Mama des Öfteren, ich sei eine Schauspielerin und genauso raffiniert wie die Alte. Wieder dieser Satz. Diese Alte. Diese Andere. Wenn ich Mama danach fragte, wer diese Andere oder Alte denn sei, bekam ich zur Antwort: „Ach, du bist manchmal genauso wie Tante Gerda!“

      Tante Gerda? Ja, sie kam immer noch hin und wieder zu Besuch. Ich liebte sie nach wie vor sehr. Jedes Mal, wenn sie nach ihren Besuchen bei uns wieder nach Hause fuhr, gab es bei ihr und mir reichlich Tränen. Aber was sollte ich mit ihr gemeinsam haben? Ich verstand dies nicht!

      Mama ging seit Kurzem halbtags arbeiten, was für mich bedeutete, etwas weniger unter ihren Argusaugen zu stehen. Meine Psyche hatte sich mittlerweile wieder etwas beruhigt. Die Anfälle verringerten sich mehr und mehr. Was ich aber trotz halbwegs guter Psyche nicht in den Griff bekam, waren meine schulischen Leistungen. Mathe und Deutsch lagen meist bei vier oder fünf. Ich konnte mich noch so anstrengen, es klappte nicht. Mir fehlte es an der Konzentration. Tausend Gedanken sausten durch meinen Kopf, nur nicht die Mathe-Zahlen.

      Wieder einmal hatte ich eine Fünf in Mathe geschrieben. Noch abends, als ich schon im Bett lag, haderte ich mit mir, dass es wieder nur eine Fünf war. Wie würde da das Zeugnis ausfallen? Was wird Mama dazu sagen? Gibt es wieder Prügel von ihr? An all dies denkend, sah ich auf meinen Nachttisch das Handarbeitszeug aus meiner Schule liegen. Obenauf steckte eine große Sticknadel. Gedankenverloren nahm ich sie und setzte sie an meinen Oberschenkel an. Schmerzen durchzogen mein Bein, als ich die stumpfe Nadel in die Haut und dann weiter ins Gewebe bohrte. Es war ein einmalig schöner, wohltuender Schmerz. Von diesem Abend an war das Stechen in meine Oberschenkel oder Arme ein fast allabendliches Ritual. Je stärker ich den Schmerz spürte, desto besser fühlte ich mich. Die Materialien bestanden mittlerweile aus größeren Stopfnadeln, feinen Stricknadeln oder Nagelscheren. Dieses Stechen gab mir eine gewisse Befriedigung sowie Kraft und innere Ruhe. So zumindest empfand ich es damals.

      Es hatte Zeugnisse gegeben. Oh Gott, mein Zeugnis war, wie zu erwarten gewesen, grottenschlecht. Was kam da nun wieder auf mich zu? Langsam und mit einem unguten Gefühl im Bauch schlenderte ich nach Hause. Erwartungsvoll und forschend zugleich sah mich Mama, als ich die Küche betrat, an. „Ich habe die Versetzung geschafft!“, erklärte ich ihr zaghaft.

      „So, na dann lass mal sehen.“ Mama las es, sah mich an und schon legte sie los. „Du faules Stück, du bist es nicht wert, dass wir dich aus dem Dreck gezogen haben. Du bist nicht nur verlogen und frech, sondern auch noch strohdumm und faul. Das ist der Dank dafür, dass wir dich großgezogen haben. Wir hätten dich lassen sollen, wo du gewesen bist.“ Enttäuscht und entsetzt über Mamas Worte kroch unwahrscheinlicher Zorn in mir hoch. Mit den Füßen aufstampfend erwiderte ich: „Ich mag nicht mehr, ich gehe zu meiner Patin Helene oder zu Tante Gerda, dann kannst du mich nicht mehr schimpfen und schlagen.“

      Oh nein! Das hätte ich nicht sagen sollen! Mama griff nach der Hundepeitsche, die wie immer in der Küche parat hing. Was dies nun bedeutete, wusste ich leider zu genau. Ich rannte, so schnell ich konnte, in mein Zimmer und warf mich bäuchlings auf mein Bett. Hinter mich langend, zog ich meinen Schlüpfer vom Po und wartete mit zusammengebissenen Zähnen auf die Hiebe, die da nun kommen würden. Mama war von meiner Reaktion derart geschockt, dass sie erst mal einige Sekunden reglos hinter mir stand. Dann jedoch schlug sie mit einem unvorstellbaren Jähzorn auf mich ein. Ich hatte das Gefühl, dass meine Passivität sie noch mehr anstachelte. Sie schlug mich dieses Mal nicht nur auf den Po, sondern verteilte