Ulrike Eschenbach

Der Vergangenheit dunkle Zeiten


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Schmerz selbst zufügte. Dass ich mich fest und tief stach, was sogar ein leichtes Glücksgefühl in mir aufkommen ließ. Als Mama merkte, dass keine Reaktion von mir kam, ließ sie allmählich von mir ab und ging wortlos aus dem Zimmer.

      Noch lange danach lag ich auf meinem Bett und überflog gedanklich mein bisheriges Leben. Ich war nun zwölf Jahre alt und konnte die schönen Stunden, die ich in meinem jungen Leben erlebt hatte, an fast nur einer Hand abzählen. Was würde ich noch erleben müssen? War solch ein Leben überhaupt lebenswert? Oftmals, wenn ich des Nachts im Bett lag und an den scheußlichen Wasser-Traum dachte, den ich hin und wieder immer noch träumte, stellte ich mir vor, den Traum zur Wirklichkeit zu machen. Das wäre die beste Lösung, um in eine andere, bessere Welt zu gehen. Ich dachte bei mir: „Sich einfach in ein großes Wasser fallen lassen. Schwimmen kann ich eh nicht, also würde das Ganze wie in meinem Traum enden. Aber was kommt danach? Und wie ist diese andere Welt? Bestraft mich der liebe Gott dann, wenn ich dies mache? Nein, ich darf das nicht tun! Ich möchte ja auch leben!“ Meine nächsten Gedanken waren: Irgendwann bin ich volljährig, dann gehe ich. Aber was wird dann aus Papa? Nun ja, eigentlich liebe ich sie ja beide. Es sind ja meine Eltern. Und Mama mag ich auch irgendwie. Sie hat auch gute Seiten. Wenn sie nur nicht manchmal so verdammt streng und oftmals auch ungerecht wäre. Vielleicht, wenn ich mich in der Schule etwas mehr anstrenge, wird Mama zufriedener und ist dann nicht mehr so zornig. Und ich könnte auch gar nicht weggehen. Papa würde ohne mich noch mehr trinken, als er es eh schon tut.

      Gedanken über Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Oh! Ich hörte Papas Stimme. Er war nach Hause gekommen. Leise schlich ich mich zu meiner nur angelehnten Zimmertür und lauschte den ziemlich lauten Worten meiner Eltern. Der Lautstärke nach, dachte ich, geht es mit Sicherheit um mein mieses Zeugnis. Ich versuchte, Papas Stimme zu erlauschen, um zu hören, wie er reagierte. Was ich jedoch nun zu Ohren bekam, hing zwar mit meinem Zeugnis zusammen, ließ mir aber bei jedem Wort, das ich hörte, den Atem mehr stocken.

      Mein Gott! Tante Gerda war also meine leibliche Mutter! Ich hatte nichts und war ein Nichts! Kam mit null Habe aus einem Heim. Besaß denselben schlechten Charakter wie meine leibliche Mutter. Jene war eine Lügnerin, eine Hure, ein Abschaum der Gesellschaft. „Wie kann da das Kind anders sein?“, hörte ich Mama zu Papa sagen. Der nächste Satz von Mama war: „Wir werden noch viel Ärger mit Ulrike bekommen, sie hat die ganzen schlechten Eigenschaften ihrer Mutter geerbt, zudem ist sie auch noch strohdumm und faul. Wir hätten nie ein Kind adoptieren sollen. Man weiß eben nie, was man für einen Bastard groß zieht, das siehst du ja jetzt an Ulrike.“ Wie Papa darauf reagierte, beziehungsweise antwortete, registrierte ich nicht mehr. Das Gehörte brannte wie loderndes Feuer in mir. Tante Gerda war meine leibliche Mutter… Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Schlagartig wurde mir nun auch klar, warum mich die Kinder im Dorf des Öfteren „Stiefmütterchen“ nannten. Fragte ich, warum sie mich so nannten, bekam ich zur Antwort: „Du bist halt ein Stiefkind!“ Was aber ein Stiefkind war, konnte oder wollte mir keines der Kinder erklären. Jeder in unserem Ort wusste also, dass ich ein Adoptivkind war, nur ich selbst wusste es nicht. Ich kam mir in dem Moment belogen und betrogen vor. Wie in Trance schlich ich zurück in mein Zimmer und legte mich wieder auf mein Bett. Mein Kopf und meine Seele waren wie ausgebrannt. Ich lag da, starrte an die Decke meines Zimmers und fragte mich nur immer wieder: „Was kommt noch?“

      Mittlerweile war es Abend geworden. Immer noch lag ich auf meinem Bett und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Irgendwann hörte ich Papa rufen: „Ulrike, komm essen!“ Zögernd, da ich nicht wusste, ob ich jetzt zu ihnen gehen sollte oder nicht, stand ich auf. Erst als Papa nochmals rief, ging ich dann doch in die Küche zum Abendessen. Jeder Schritt, den ich machte, schmerzte. Mir war in diesem Moment jedoch nicht klar, was mehr weh tat: die vorher erhaltenen Prügel oder meine Seele. Stumm setzte ich mich an den Abendbrottisch. Weder Mama noch Papa sagten ein Wort zu mir. Mein Blick schweifte verstohlen über die beiden Menschen, die ich bis heute als meine Eltern bezeichnet hatte. Mit einem Schlag wurde mir klar, warum ich bei Tante Gerda immer das Gefühl der Liebe und Geborgenheit verspürte. Warum mir jeder Abschied nach ihren Besuchen weh tat. Es war das Blut, das zu Blut zog!

      Bei Mama, auch wenn ich längere Zeit keine Schelte und Prügel bekam und sie mich dann ab und an auch mal herzte und küsste, spürte ich immer eine gewisse Kälte. Anders bei Papa, bei ihm spürte ich trotz alledem immer Wärme, Offenheit und Liebe, vor allem, wenn er nicht getrunken hatte. An diesem Abend stand für mich fest: Ich gehe! Ich gehe zu meiner leiblichen Mutter!

      Kapitel 5

      Tags darauf lief ich zum Bahnhof, um mich nach den Abfahrtszeiten sowie den Fahrkarten-Preisen zu erkundigen. Sorgfältig schrieb ich mir alle Zeiten sowie Umsteigemöglichkeiten auf einen Zettel auf. Gott sei Dank besaß ich etwas gespartes Geld, um mir eine Fahrkarte kaufen zu können. Jedes Jahr pflückte ich mit Mama eimerweise Heidelbeeren, die wir dann an die hiesige Marktfrau verkauften. Was ich hierbei verdiente, durfte ich auch behalten. Mein größter Wunsch war, mir Rollschuhe zu kaufen. Also sparte ich eisern jedes Zehnpfennigstück dafür. Leider musste ich nun auf diese noch etwas länger sparen, aber dafür fuhr ich ja zu meiner Mutter. Da ich noch nie alleine mit einem Zug unterwegs gewesen war, beschlich mich des Nachts zuvor große Angst, die lange Zugfahrt nicht zu schaffen.

      Die Schule hatte Herbstferien und Mama sowie Papa waren arbeiten, so konnte ich meinen Plan ungestört durchführen. Notdürftig packte ich einige persönliche Sachen zusammen und lief los zum Bahnhof. Überglücklich landete ich Stunden später bei meiner Mutter. Jene nahm mich weinend vor Rührung und Freude in die Arme. Mutter setzte sich sofort telefonisch mit dem Jugendamt auseinander und gab dem Amt alles, was ich erzählt hatte, weiter. Schon eine knappe Stunde später stand ein Mitarbeiter des Jugendamtes vor Mutters Tür. Mit versteinerter Miene hörte er sich an, was ich ihm erzählte. Zur Bestätigung zeigte ich ihm noch meine Prügelstellen, die mittlerweile in den Farben eines Regenbogens auf meinem Rücken schillerten.

      Jener Jugendamt-Mensch meinte daraufhin jedoch: „Wahrscheinlich waren diese Prügel nicht ganz unberechtigt. Ihr beide, deine Mutter sowie du, seid uns hinlänglich bekannt.“ Barsch sagte er dann noch zu mir: „Entweder du gehst zurück zu deinen Adoptiveltern oder du kommst in ein Schwererziehbaren-Heim. In diesem“, blaffte er mich an, „herrschen noch viel strengere Regeln.“ Außerdem erklärte er mir: „Bei deiner leiblichen Mutter kannst und darfst du nicht bleiben. Das schreibt das Gesetz nach einer Adoption so vor.“ Zu meiner Mutter gewandt meinte er: „Und sie hätten sich das mal früher überlegen sollen, wem sie ihr Kind anvertrauen. Sie hatten alles selbst in der Hand. Jetzt jedoch ist es zu spät. Sie haben keinerlei Rechte, über das Leben sowie den Aufenthalt ihrer Tochter zu bestimmen. Falls sie sich nicht an die Gesetze halten, leiten wir strafrechtliche Maßnahmen gegen sie ein. Zudem machen sie sich schon mal mit dem Gedanken vertraut, ihre Tochter heute zum letzten Mal gesehen zu haben. Eine Adoption“, setzte er noch barsch hinzu, „ist unwiderruflich und endgültig.“

      Über die Worte jenes Jugendamt-Mitarbeiters geschockt, waren wir beide unfähig, etwas darauf zu antworten. „Lieber, lieber Gott“, dachte ich, „warum? Warum darf ich alles, was mir lieb ist, nicht behalten?“ Unendliche Wut stieg in mir auf und ich maulte den Jugendamt-Menschen ohne darüber nachzudenken mit den Worten an: „Auch sie haben nicht über mich zu entscheiden. Ich gehe dahin“, trotzte ich, „wohin ich will, und wenn es sein muss eben in ein Heim!“

      Entsetzt über meine Reaktion schrie er mich daraufhin an, ich solle die Klappe halten, sonst würde er mich sofort in ein Erziehungsheim einweisen. Mutter, die durch das ganze Szenario nur noch am Heulen war, versuchte, indem sie mich umarmte, mich zu beruhigen. Doch ich war derart aufgewühlt und aufgebracht, dass ich mich ziemlich unwirsch aus ihren Armen löste und sie anschrie: „Hättest du mich nicht einfach hergegeben, wäre alles anders.“

      Für den Jugendamt-Menschen war ich durch diesen Auftritt erst recht ein ungezogenes Gör, wie er sagte. Noch am gleichen Tag abends musste ich auf Geheiß des Amtes wieder zurück nach Hause. Gegen zehn Uhr abends kam Mama, die zwischenzeitlich ein Taxi geordert hatte, um mich zurückzuholen. Mutter nahm mich ein letztes Mal in die Arme. Tränenüberströmt sagte sie zu mir: „Mädel, ich habe dich lieb! Der größte Fehler meines Lebens war, dich zur Adoption frei zu geben.