Gunter Preuß

Die Gewalt des Sommers


Скачать книгу

Wenn sie feucht ist oder warm, wird sie leichter. Bisher war sie ihm schwerelos vorgekommen, aber heute drückte sie auf seine Schultern. War er etwa nervös wegen des bevorstehenden Kräftemessens? Im Moment war ihm der Kampf eher gleichgültig, was ein Schuldgefühl gegenüber dem Trainer hervorrief. Er sagte beschwörend: „Du wirst kämpfen und siegen! Wir oder die!“ Schon nach ein paar Schritten war er wieder ohne Antrieb. Es war ihm angenehm, wie die Heidekrautbüschel nass und struppig seine nackten Füße streiften.

      Diesmal schnellte er herum. War da nicht eine Gestalt? Aber da war alles nur Grau. Ging man durch den einen Regenschleier, war man im nächsten. Vielleicht suchte Ralle ihn? Oder waren Kalinke und Horst hinter ihm her? Blödsinn. Es wurde Zeit, dass der Kampf stattfand. Der würde alles klar machen. Was denn klar? „Nicht fragen, tun“, sagte Ali seinen Schützlingen. „Ist so.“

      Boris musste sich „hungrig“ machen. „Du musst siegen! Du wirst siegen!“ Aber die verlangte Leidenschaft wollte sich nicht einstellen. Es waren ja noch ein paar Stunden Zeit, der „Biss“ würde schon kommen.

      Er erreichte ein paar kastenförmige Wohnblocks, wo im Erdgeschoss eine kleine Kaufhalle, ein Schuhgeschäft und ein Friseur untergebracht waren. Die paar Mal, die er hier vorbeigemusst hatte, waren seine Schritte schneller geworden. Manchmal kamen Menschen aus den Häusern oder gingen hinein. Nie hatte einer ihn angesehen. Einmal hatte ein Junge vor der Kaufhalle auf einem Ball gesessen. Boris hätte ihm gern was zugerufen, aber es war ihm nichts eingefallen.

      Ein paar Hundert Meter weiter breitete sich die hiesige Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft mit ihren ehemals weißgetünchten Gebäuden aus. Der Kalk war stellenweise abgeblättert und ließ bröckelnde rote und gelbe Ziegel sehen. Eine gewaltige windschiefe Scheune zog gleich den Blick auf sich. Ihr fehlte stellenweise das Dach, aus den Öffnungen stiegen helle Dampfsäulen, die sekundenlang durchs Grau des Regens gaukelten, bis sie aufgesogen waren. Nach einem weiträumigen Maisfeld standen wie Vorboten die ersten Häuser von Dranske. Das alte Fischerdorf zog sich zu beiden Seiten der Hauptstraße zwischen Meer und Bodden schmal und lang hin. Die unzähligen Schlaglöcher waren mit dunklem Regenwasser gefüllt. Zwischen wie hingehockten Häusern mit blanken Fensterscheiben blieben ein paar Quadratmeter Platz für ein paar Obstbäume und Gemüsebeete.

      Boris ging mitten auf der Straße. Ab und zu kam ein „Trabant“ angetuckert, dem er rechtzeitig Platz machte. Der Ort wirkte wie verlassen, Konsum und Kiosk hatten geschlossen, in dem winzigen Hafen am Bodden waren ein Fischkutter und ein paar Boote vertäut. Im mageren Grasboden am Ufer steckten Stangen, zwischen denen Netze gespannt waren. Möwen hockten auf den Stangenenden, den Kopf zwischen die Flügel gezogen. Unmittelbar am Wasser saß jemand, vermutlich ein Mann, nicht größer als ein Zehnjähriger. Er hockte etwas vornübergebeugt auf einem weißen Küchenstuhl, der mit den Füßen in den feuchten Sand gesunken war. In unregelmäßigen Abständen winkte er auf den Bodden hinaus, als wischte er über eine Scheibe, um klarer sehen zu können. Im Ferienheim der Gewerkschaft, dessen Außenwände leuchtend gelb gestrichen waren, saßen im Erdgeschoss Urlauber hinter den Fenstern und schauten aufs Boddenwasser. Auf dem Vorplatz war an einem hoch aufragenden Fahnenmast die schwarz-rot-goldene Staatsflagge mit ihrem Emblem aus Ährenkranz, Hammer und Zirkel aufgezogen. Sie war in einen kaum sichtbaren Rahmen gespannt, dass es selbst bei Windstille aussah, als würde sie straff wehen.

      Boris fand nichts, wo es ihn stehen bleiben ließ. Alles erschien ihm unwirklich, so stellte er sich die Kulisse für einen Film vor. Er fand sich da hineingestellt. Vielleicht war er selbst ja auch nicht echt. Alles war nur gemacht. Aber zu welchem Zweck? Für wen? Boris fröstelte, wie manchmal nachts, wenn er durch das alte Haus geisterte.

      Da schob sich etwas aus den Kulissen heraus. Noch war nicht mehr als ein Umriss zu erkennen. War da doch jemand hinter ihm gewesen? Eine Gestalt kam leichtfüßig auf ihn zu. Sie schüttelte sich wie eine nasse Katze, ein herausforderndes Lachen ...

      „Du?“, entfuhr es ihm.

      Das Mädchen zog ihre Strickmütze vom Kopf, klopfte sie auf ihrem Oberschenkel aus und steckte sie in eine Seitentasche ihres Anoraks. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die schwarzen Locken, dass sie knisterten, und sagte: „Na du?“

      „Ja“, sagte Boris. Ob denn auch diese Begegnung unwirklich war? Vielleicht gehörte ja alles, sein ganzes Leben, zu einer Rolle, die er spielen sollte und nicht verstand. Aber dieses Mädchen war echt. Da gab es keinen Zweifel.

      „Der blöde Film“, sagte Ulli leichthin. „Den hab ich schon zweimal gesehen. Dachte, gehst mal los.“

      „Das hab ich auch gedacht.“

      Boris wollte weitergehen, aber er rührte sich nicht. Es war nicht richtig, dass er mit einem Mädchen hier stand, wenn doch in ein paar Stunden der Kampf stattfand.

      „Gehen wir ein Stück“, sagte Ulli. „Bevor wir hier anwachsen.“

      Sie ging gezielt zu dem kleinen Hafen und lief wie im Tanz über den Bootssteg. Am Ende angekommen, drehte sie sich um und wies einladend auf einen rotbraunen Kutter, der längsseits des Stegs vertäut war.

      Sie sprang auf das Fischereifahrzeug und streckte ihm die Hand entgegen. Er übersah sie und stieg umständlich an Deck. Sie kletterte wie ein Junge auf dem Kutter umher und erkundete alles.

      Er sah ihr zu. Es freute ihn, dass sie sich begegnet waren. Ebenso ärgerte es ihn, dass er nicht besser aufgepasst hatte und ihr nicht ausgewichen war. Wenn Ali ihn hier so sehen würde. Er trat hinter eine Plane und suchte das Ufer ab.

      „Komm schon. Komm!“

      Sie hatte die Tür zum Ruderhaus aufbekommen, huschte hinein, streckte ihren erhitzten Kopf heraus. Ihre vom Regen krausen Haare glänzten tiefblau. Noch nie hatte er etwas Lebendigeres gesehen als ihre Augen. Er war zutiefst beunruhigt. So hatte ihn noch nie jemand angeschaut.

      Boris folgte ihr zögerlich. Er verglich ihr Lachen, das immer wieder hell aufklang, mit dem von Vera. Beide Mädchen lachten ohne Scheu und auffordernd, und doch war da ein Unterschied. Veras Lachen war Boris vertraut, es gehörte in die Welt der Kinder, in der er sich auskannte. Ullis Lachen klang dunkler, wie das einer Frau, es lockte ihn. Aber er misstraute der Lockung. Sie kam aus der Fremde. Es war nicht richtig, dass er hier war. Er musste sich nur umdrehen und weggehen. Das war ganz einfach. Er brachte es nicht fertig.

      „Hier bin ich“, rief sie und hielt ihm die Tür auf.

      Boris atmete schwer, bückte sich, trat vorsichtig ein. Die Kabine war winzig und niedrig. Das Mädchen setzte sich auf eine Blechkiste neben dem Steuerrad. Sie rückte an den äußersten Rand, klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich.

      Der Himmel riss auf. Das durch die Glasscheiben hereinflutende Licht reflektierte in den Messingstreben des Steuerrades Ullis Gesicht. Wie aus einer Vielzahl von kleinen Spiegeln, von denen bald die einen und bald die anderen aufblitzten, kam es ihm verzerrt entgegen. Gleich zog sich der Himmel wieder zu. Wieder bedeutete Ulli ihm, sich neben sie zu setzen.

      Boris blieb an der Tür stehen, schob seine Hände tief in die Hosentaschen und presste seine Lippen aufeinander. Es ist wie im Kampf, dachte er und hörte Ali sagen: „Keine Blöße geben, nie. Doppeldeckung, oben behalten, logisch.“

      Obwohl er sie nicht ansah, spürte er eine Veränderung bei ihr.

      „Was ist los, Junge?“, sagte sie geradezu. „Ich meine mit dir?“

      „Nichts“, entgegnete er grob. Die Tür war hinter ihm ins Schloss gefallen. Das Mädchen, ihre Nähe bedrängte ihn. Er konnte sie riechen. Er atmete tief ein. Seine Mutter, sie hatte nach – ja, nach Lindenblüten gerochen. Das Mädchen, diese Ulli, sie roch wie – er fand kein Wort dafür. Nach etwas, das ihm zu schaffen machte.

      „Und doch ist was“, sagte Ulli. „Ist es die Klopperei mit Kalinke heute Abend?“

      Boris dachte, dass er von hier weg musste. Einfach abhauen? Das wäre feige. Ali würde wollen, dass er geht. Aber er wollte nicht, dass sie dachte, er sei feige.

      „Nun sag doch was, Junge.“

      Sollte er nicht doch alles auf den bevorstehenden