Gunter Preuß

Die Gewalt des Sommers


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meine nur …“ Mathemüller druckste, doch dann verfiel seine an sich hohe Stimme in einen Bass: „Ich habe mich gestern in anderen Pinonierlagern auf der Insel umgesehen. Ich muss sagen, keine Spur mehr von den Sechziger- und Siebzigerjahren. Dort geht es viel – lockerer zu.“

      Unter den Jungen und Mädchen kam Unruhe auf.

      „Schnauze“, gebot Kalinke.

      „Lo – cke – rer“, wiederholte Dschugaschwili, und es klang so, als hätte er das Wort mit Kopfstimme gesungen. „Haben Sie lockerer gesagt, Kollege Müller?“

      „Ich – meinte – wollte sagen … Ja, ich sagte lockerer, Kollege Standke.“

      Im Zelt klapperte Geschirr, dann war es sekundenlang still, schließlich war Standkes rasselnder Atem zu hören, er sagte wie von einem hohen Podest herab: „Es dürfte auch Ihnen, Kollege Müller, als Lehrer für Mathematik, nicht unbekannt sein, was locker für Synonyme hat: lose, nicht fest, durchlässig, wackelig, ja, und lotterig.“

      „Jetzt geht der Müller auf die Bretter“, kommentierte Kalinke. „Der hat doch nichts drauf.“

      Keiner widersprach. Auch Boris schätzte, dass der Mathelehrer nun wieder in der Versenkung verschwinden würde. Umso erstaunter war er, als Müller geradezu temperamentvoll widersprach: „Ich möchte Sie nicht belehren, Kollege Standke. Aber neben den eher negativen sinnverwandten Wörtern, gibt es durchaus auch positive: Aufgelockert. Entspannt. Natürlich. Nicht starr, gelöst. Ungezwungen und unverkrampft.“

      Boris wusste nicht warum, aber er spürte etwas wie Freude, oder war es Genugtuung? Er hatte weder für Standke noch für Müller viel Symphatie, den einen fürchtete er, der andere war ihm gleichgültig. Er hätte gern zu Ulli gesehen, deren Nähe ihn in Aufregung versetzte, die ihn zugleich beglückte wie ängstigte. Aber er wagte es nicht, als könnte er etwas von sich verraten, das ihm selbst noch nicht klar war.

      Standke schnauzte, was sonst nicht seine Art war, da er auch mit gequetschter Stimme nachdrückliche Wirkung zu erzielen wusste. Seine Worte, in kurze Sätze verpackt, waren wie Geschosse, die Müller ein für alle Mal mundtot machen sollten. Er sprach davon, dass die „westliche Lockerheit“ nur alle im menschlichen Leben notwendigen Formen und Normen aufweichen würde. Im „Flitterangebot“ des sogenannten „Freien Marktes“ würden die in Kaufrausch geratenen Kosumenten jeglichen revolutionären Geist verlieren. Der in zwei Weltkriegen missbrauchte Mensch würde wieder zur knetbaren Masse, von den Ausbeutern zu Ausgebeuteten geformt. Lockerheit brächte dem Sozialismus nichts als Instabilität und Zersetzung. Er, Standke, werde es fortan nicht hinnehmen, dass im Lehrerkollegium Ideengut des Klassenfeindes als Möglichkeit sozialistischer Lebensweise angepriesen würde.

      Dschugaschwili hatte nicht lange gesprochen, aber seine Rede schien nachzuhallen, es herrschte im Zelt und davor Schweigen. Alis unterstützende Worte von Disziplin, Selbsthärtung und Kampfeswillen wirkten dagegen nur noch wie ein zu spät kommender überflüssiger Anhang.

      Im Zelt klirrte wieder Geschirr, Kaffeeduft breitete sich aus, jemand kam zum Eingang. Die Lauschaktion wurde augenblicklich beendet, die Beteiligten brachten sich in sichere Entfernung.

      Kalinke beorderte nun zwei Jungen als Späher und Bote zum Essenszelt. So erfuhren alle, um die Feuerstelle sitzend, vom weiteren Verlauf der Verhandlungen. Im Zelt schienen sie zu keiner einheitlichen Meinung zu kommen. Bis schließlich Paulchen mit hoch erhobener Faust gerannt kam und schon von weitem rief: „Ihr müsst nicht nach Hause fahren! Ali hat gegen Dschugaschwili einen Punktsieg gelandet!“

      Boris und Kalinke boxten die Fäuste gegeneinander. Für den Augenblick waren alle Feindseligkeiten vergessen. Wie sich später herausstellte, hatte Frau Wieland das Kräftemessen zwischen Ali und Standke entschieden. Sie war vom Stuhl hochgefahren, hatte sich die Hände auf die Ohren gedrückt und gesagt, dass es nun gut sei, sie wolle nichts mehr von alldem hören. Der mit hohen Auszeichnungen dekorierten Antifaschistin, die selbst mit dem Staatsratsvorsitzenden und maßgeblichen sowjetischen Genossen bekannt war, wagte niemand zu widersprechen.

      7.

      Als der Pionierleiter zu den Mädchen und Jungen trat, wurde er mit Beifall begrüßt. Ali verkniff sich ein Lächeln, winkte ab und sagte, dass die beiden Raufbolde die Angelegenheit sportlich lösen sollten. Es sei Zeit, dass Kalinke wie Boris in einem fairen Boxkampf den eigenen Standort bestimmten. Termin sei in drei Tagen, die beiden hätten also ausreichend Zeit sich vorzubereiten. Frau Wieland würde morgen abreisen, sie sei ja nicht mehr die Jüngste, das Küstenklima mache ihr zu schaffen.

      Hinsichtlich des bevorstehenden Kampfes warf Kalinke seinem Gegner einen triumphierenden Blick zu und stieß kraftvoll die Faust in die Luft.

      Boris verließ den Kreis, stieg die schmale Treppe zum Strand hinunter und kauerte sich vor die gemächlich heranrollenden Wellen. Wenig später hockte Ali sich neben ihn und sagte schroff: „Angst, oder was?“

      „Ich weiß nicht“, antwortete Boris. „Ich habe keine Angst.“

      „Dann was?

      Boris nahm einen Stein auf und warf ihn flach übers Wasser, dass es siebenmal in der untergehenden Sonne bunt aufspritzte.

      „Nur zwei Dinge, die ein Mann zu fürchten hat“, sagte Ali. „Angst und Frauen, weiß ich. Also Frauen.“

      „Weiß nicht.“

      „Ist so.“

      Ali warf einen Stein, der weiter hinten im Meer versank als der von Boris.

      Der Junge dachte, dass für den Trainer alles Kampf war. Da war immer ein Gegner, mit dem er seine Kräfte messen musste. Boris wusste nicht, ob er das auch wollte, ständig kämpfen und siegen müssen. Er nahm einen zweiten Stein, richtete sich auf und warf ihn weiter als die beiden Steine zuvor.

      „Nicht schlecht, Kämpfer. Sag´s doch.“

      Ali wog einige Steine in der Hand, ließ sie fallen, bis er dann einen für gut befand. Er nickte Boris kurz zu. Sein Oberkörper drehte sich geschmeidig zur Seite, und während er wie in Zeitlupe den linken Arm nach hinten streckte, die Hand mit dem Stein auf Kopfhöhe, hob er den gestreckten rechten Arm in scheinbar genau vorgegebenen Winkel. Zwei, drei Sekunden verharrte er. Mit einem Schrei schleuderte er den Wurfarm nach vorn und schnellte gleichzeitig mit dem Oberkörper in seine Ausgangslage zurück, wobei er den anderen Arm steil abfallend nach hinten riss. Sie hatten Mühe, mit ihren Blicken den Flug des Steines zu folgen. Aufschlagen sahen sie ihn nicht.

      Boris nickte zugleich bewundernd und beschämt. Es machte keinen Sinn, noch einen Wurf zu versuchen, so weit würde er in seinem ganzen Leben keinen Stein werfen können. Er war erleichtert, dass das Kräftemessen vorüber war. Manchmal hatte er versucht, sich auszumalen, wie es wäre, wenn er Kalinke, ja vielleicht sogar Ali besiegen würde. Er hatte das nicht zu Ende gedacht, denn die Welt, von der er sich mühsam ein Bild machte, wäre nur wieder in Unordnung geraten. Zu oft schon musste er sich neu orientieren und Menschen und Dinge einordnen, um sich halbwegs zurechtzufinden.

      „Was ist, also?“, fragte der Trainer nach.

      „Ich weiß nicht“, sagte Boris, er wollte ja reden, ja. Ali wusste immer, wo es lang ging, selbst beim Nachtmarsch, wenn alle die Orientierung verloren hatten und keine Karte und kein Kompass mehr was nützten.

      „Ich weiß nicht, was ist.“

      „Weißt schon.“

      „Da gibt es - ein Mädchen. Eigentlich sind es zwei. Die eine hier. Die andere dort. Weißt du, es ist – ich habe keine Ahnung, was da ist.“

      Ali nickte. Sie zogen die Schuhe aus und liefen nebeneinander im seichten Wasser. Es dämmerte, ohne dunkel zu werden. Vom Lager klang Lachen über die Klippe. Hier und da stand ein Angler im Wasser. Ein zottiger Hund lief schnüffelnd am Fuß des Steilhangs entlang. Ein paar Hundert Meter weiter blitzte es in unregelmäßigem Abstand vom Klippenrand auf. Der blendend gelbe Strahl eines Suchscheinwerfers huschte über sie weg den