Gunter Preuß

Die Gewalt des Sommers


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fanden auch die morgendlichen Appelle statt. Am Waldrand stand eine hüfthohe und mehrere Meter lange Zinkwanne. Über ihr verlief ein Rohr mit eine Reihe von Wasserhähnen, von denen nur noch ein paar gebrauchsfähig waren. Am Ende der Lichtung standen neben einem Abfallcontainer zwei aus Bohlen und Brettern zusammengenagelte Toilettenhäuschen. In das raue Holz waren jeweils die Symbole für Frauen und Männer und eine Vielzahl eher karikaturistischer Abbildungen des Geschlechts eingeritzt. Etwas weiter weg befand sich ein drittes etwas komfortableres Häuschen, für das nur die Betreuer einen Schlüssel hatten. Jeden Morgen standen an den beiden Häuschen Mädchen und Jungen in getrennten Reihen Schlange, erzählten Witze, lachten lauthals und tauschten Neuigkeiten aus. Ab und zu rannte ein Junge oder Mädchen mit auf den Unterleib gepressten Händen in den Wald, vom Johlen der Zurückgebliebenen begleitet.

      Das Mondlicht fiel auf einen Spiegel, der an einem überhängenden Ast mit einer Schnur befestigt war. Das Glas war stellenweise trübe, an den Rändern waren noch Spuren eines goldlackierten Holzrahmens. Als Boris an den Spiegel herantrat, begann der lautlos zu drehen. Der Junge hielt ihn fest und näherte sein Gesicht vorsichtig dem Glas. Noch nie hatte er so bewusst in einen Spiegel geblickt. Er sah in ein fremd anmutendes Jungengesicht: Helle, wegen der ungeliebten Locken kurz geschnittene Haare. Auf der Nase und auf den Wangen unter der Bräune Sommersprossen. Trockene, leicht geöffnete Lippen. Ein ausgeprägtes Kinn, aus dem Ali auf starken Willen und „Nehmerqualität“ geschlossen hatte.

      Boris blickte seinem Gegenüber in die Augen, sagte leise: „Na du?“ Das vertrauliche Augenzwinkern erwiderte er nicht.

      Die Gesichter der beiden Mädchen waren in den Hintergrund gerückt. Im Vordergrund war das Gesicht des Jungen aus dem Spiegel. Er ging zurück ins Zelt, es dauerte nicht lange, da war er eingeschlafen.

      6.

      Am nächsten Morgen, beim Appell unter der blauen Fahne der Thälmannpioniere, fing Boris einen Blick Ullis auf. Die beiden Mädchengesichter verdrängten wieder sein eigenes Bild. Die Unruhe kehrte in ihn zurück, eine Frage bedrängte ihn, die er nicht formulieren konnte.

      Er blickte zu Ali, der schallend sein Lieblingslied anstimmte: „Von all unseren Kameraden ...!“

      Die Jungen und Mädchen stimmten willig ein, dass der Chor weithin schmetterte: „ ... war keiner so lieb und so gut, wie unser kleiner Trompeter, ein lustiges Rotgardistenblut ...!“

      Ullis dunkle Augen, in denen ein Lachen hüpfte, blickten Boris unverwandt an.

      „... Da kam eine feindliche Kugel bei einem fröhlichen Spiel; mit einem seligen Lächeln unser kleiner Trompeter, er fiel!“

      Boris hatte Mühe einen Rempler auszubalancieren. Kalinke hatte sich vor ihm aufgebaut. Er war etwas kleiner als Boris, aber muskulöser, sein Gesicht war hart und kantig, als sei es aus hartem Holz und noch nicht fertig geschnitzt.

      Kalinke drohte mit mühsam beherrschter Stimme, die männlich tief, aber zwischendrin mädchenhaft hoch klang: „He, Pflaume, geh mir aus dem Weg. Misch dich bloß nicht ein.“

      „Da nahmen wir Hacke und Spaten und gruben ihm morgens ein Grab, und die ihn am liebsten hatten, sie senkten ihn stille hinab!“

      Boris erschauerte jedes Mal, wenn sie das Lied sangen. Er konnte nicht verstehen, dass sie so laut und fröhlich sangen, wo doch einer von ihnen tot war.

      „Du bist doch kein Idiot.“ Kalinke drückte ihm die Faust in den Rücken. „Oder soll ich dich erst fertigmachen?“

      „Schlaf wohl, du kleiner Trompeter, wir waren dir alle so gut, ...“

      Boris verstand nicht. Das war auch egal. Er konnte Kalinke einfach nicht ausstehen. Schon bei ihrer ersten Begegnung im Klassenzimmer hatte der Kraftprotz ihm zu verstehen gegeben, dass er das Sagen hatte. Kalinke war immer verschwitzt, in der Schule hatte er jeden Tag ein frisches Hemd an. Boris fand, er roch dennoch wie ranziges Fett.

      „... schlaf wohl, du kleiner Trompeter, du lustiges Rotgardistenblut!“

      Boris sah zu Ulli hinüber und sagte: „Du stinkst, Kalinke.“

      Kalinke schlug zu. Boris konnte noch die Deckung hochreißen. Doch der folgende Haken traf seine Leber, der Schmerz krümmte ihn, er umklammerte seinen Gegner, kippte aber doch weg. Kalinke schlug weiter, er war wegen seiner Gewaltausbrüche auch von den Älteren gefürchtet. Es hieß, dass er sich eher totschlagen lassen als aufgeben würde.

      In Boris rotierten rote Spiralen. Er wurde hochgerissen. Der Pionierleiter hatte ihn und Kalinke an den Kragen ihrer Trainingsanzüge gepackt und schüttelte sie wie junge Hunde. Frau Wieland, eine greisenhaft wirkende Betreuerin, die man auch „das Denkmal“ nannte, bekam einen Schreianfall. Sie konnte sich nicht wieder beruhigen, kreischte, heulte und zuckte am ganzen Körper. Standke und eine junge Lehrerin führten sie weg. Noch von weitem klang es wie eine Sirene durchs Lager.

      Alle blickten befremdet zu Boden. Von Frau Wieland wusste man, dass sie wegen ihrer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei und ihrem Widerstand gegen die Nazis ins KZ Buchenwald gekommen und erst am Kriegsende befreit worden war. Sie war mehrfach in die Schule eingeladen worden, um von ihrer Leidenszeit im Konzentrationslager zu berichten. Als sie in der Aula vor all den Lehren und Schülern stand, hatte sie kein Wort rausgebracht und war schließlich von der Bühne gewankt.

      Die Aufregung legte sich langsam, allgemeine Verwirrung blieb zurück. Die Gruppe unternahm einen Ausflug in ein Waldstück, wo ein Geländespiel vorbereit war. Der Pionierleiter hatte Boris und Kalinke mit Lagerarrest bestraft. Sie mussten inzwischen die Plumpsklos leeren und Wasserhähne reparieren. Ali wollte am Abend die „Latrinen piekfein wie im Interhotel“ vorfinden.

      Für Ali wäre der Vorfall damit erledigt gewesen. Aber Standke, den die Schüler insgeheim „Dschugaschwili“ - nach dem Geburtsnamen des ehemaligen Sowjetdiktators Stalin - nannten, mischte sich ein. Dschugaschwili galt als „harter Hund“, er nahm alles politisch und war für strenge Strafen als „erzieherisches Mittel proletarischer Bewusstseinsbildung“. Dem aschgrauen Gesicht des Geschichtslehrers konnte man keine Regung ansehen. Seine Stimme, Dschugaschwili war Kettenraucher, klang heiser, wie von einem alten Tonband, das Höhen und Tiefen nur noch verwischt wiedergab. Wenn er sich aufregte, schnappte sie manchmal in ein ebenso lächerliches wie unerträgliches Fisteln über.

      Dschugaschwili erklärte: „Die beiden Rowdys müssen umgehend nach Hause geschickt werden. Sie haben beim Morgenappell die Fahne der Pionierorganisation geschändet. Der zunehmend ins sozialistische Lager herüberschwappenden westlichen Verderbtheit der Jugend muss entschieden Einhalt geboten werden.“

      Der Lehrer ordnete eine Versammlung der Erwachsenen im Essenszelt an, das auch zum Verarzten von kleinen Verletzungen diente. Bei schlechtem Wetter saßen hier die Betreuer bis in die Nacht zusammen. Auf einen Wink Kalinkes schlich Horst, sein ständiger Begleiter, zu dem großen Zelt und presste seinen Kopf seitlich an die Plane. Bald gab er aufgeregt Zeichen, und nach Kalinke pirschten sich auch die anderen ans Zelt heran. Drinnen wurde gestritten, hauptsächlich waren Alis und Dschugaschwilis erregte Stimmen zu hören. Dann rief jemand dazwischen, noch unsicher, aber beim zweiten Zwischenruf entschiedener. Es war Mathemüller, der im Unterricht strohtrocken, aber gut nachvollziehbar die Rechenwege erklärte und sonst taub und stumm zu sein schien. Er klang wie beim Unterrichten sachlich, aber jetzt auch zögerlich, als er sagte: „Bitte, Kollegen, wir sollten nicht zu streng urteilen. Es sind immerhin noch – Kinder. Und wer von uns ist schon ohne Fehl und Tadel.“

      Boris und Kalinke tauschten einen ungläubigen Blick. Von der Seite hatten sie keine Hilfe erwartet.

      „Mathemüller“, raunte Kalinke verächtlich. „Der soll sich bloß nicht die Kreide abbrechen.“

      Dschugaschwili hatte etwas geantwortet, was nicht zu verstehen gewesen war. „Maul halten“, drohte Kalinke den anderen Lauschern, obwohl er ja dazwischengesprochen hatte.

      Der Mathelehrer sprach weiter, seine Stimme klang jetzt fester: „Und überhaupt, Kollegen. Ist das nicht ein bisschen zu viel – Drill