Mona Gold

Die Blutsippe


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war der kalte Angstschweiß auf die Stirn getreten. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie hier unten bereits herumirrte. Anfangs hatte sie sich vorsichtig in die Richtung zurück getastet aus der sie gekommen war. Aber dort hatte sie in völliger Dunkelheit nichts finden können, um den Mechanismus zur Öffnung der Tür in Gang zu setzen. Ihr Weg zurück zur Wendeltreppe war auch nicht erfolgreicher.

      Also hatte sie die Flucht nach vorn angetreten und war langsam tastend und sich ganz auf ihren Instinkt verlassend die Wendeltreppe hinuntergeschlichen. Irgendwann war diese zu Ende und seitdem bewegte sich Anna ebenerdig weiter. Bestimmt war sie schon zwei oder drei Stunden unterwegs, als sie mit dem Kopf gegen etwas Hartes stieß. Schmerzvoll rieb sie sich die Stelle an ihrer Schläfe und strich vorsichtig mit den Fingerkuppen über den lädierten Bereich. Bereits diese winzige Berührung ließ Anna schmerzhaft das Gesicht verziehen. Hoffentlich gab es nicht noch eine Beule.

      Ein plötzliches Geräusch ließ Anna zusammenfahren. Wie elektrisiert verharrte sie. Ihr Herz begann zu klopfen. Schweiß rann ihre Schläfen herab. War sie vielleicht nicht allein? Wer war außer ihr noch hier unten? Und wieso hatte sie plötzlich solche Angst? Sollte sie nicht froh sein, wenn man sie hier fand und aus dieser ausweglosen Situation befreite? Noch während sie ihren Gedanken nachhing und sich über ihr ungutes Gefühl in der Magengegend wunderte, griff plötzlich etwas nach ihrem Arm, wirbelte sie herum und drückte ihr den Mund zu. Klauenartige Hände krallten sich um ihren Leib und hielten sie wie ein Schraubstock fest. Anna roch einen warmen, fauligen Atem an ihrer Halsbeuge. Ein tiefes, wildes Knurren direkt neben ihrem Ohr ließ sie erschaudern. Etwas Nasses berührte sie am Hals. Immer wieder. War das etwa eine Zunge, die über ihren Hals schleckte? Das Knurren wurde tiefer und grollender. Anna begann zu zittern. Sie war wie gelähmt. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen. Noch während sie völlig konfus versuchte zu überlegen, wie sie dem Angreifer entkommen konnte, spürte sie einen brennenden Schmerz am Hals. Etwas bohrte sich blitzschnell in ihre Halsbeuge und saugte! Direkt neben Annas Ohr erklang ein gieriges Schlürfen und Schmatzen! Gleichzeitig spürte sie etwas Warmes an ihrem Hals herunterlaufen. Sie nahm einen eisenartigen Geruch wahr. Ob das ihr eigenes Blut war? Ihr wurde schlecht und sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe, als sie ein wütendes Fauchen vernahm.

      Gleich darauf wurde sie losgelassen und sackte zu Boden. Völlig geschwächt und mit einem hundsmiserablen Gefühl in der Magengegend hockte sie auf dem Fußboden und lauschte mit zunehmenden Schrecken dem Gefauche und dem Wortgefecht, das nun direkt neben ihr in der Dunkelheit einsetzte. „Lass sie in Ruhe!“ Anna fuhr zusammen. Sie kannte die Stimme. Es war Leo. Leo war hier unten und hatte sie gerettet! Ob man ihm gesagt hatte, dass sie ihn suchte? Aber woher wusste er, dass sie sich im unbewohnten Südflügel befand? Sie hatte niemandem gesagt, wohin sie ging. „Du machst dich lächerlich, Cousin! Sie ist doch nur ein Mensch!“ Nur ein Mensch? Was sollte sie denn sonst sein? Wieder ertönte ein wütendes Fauchen, begleitet von einem lauten Poltern.

      „Bleib weg von ihr. Verschwinde!“ Das war wieder Leos Stimme. Er war hier und beschützte sie. Doch schien sich der unbekannte Gegner Leos nicht groß von seinen Drohgebärden beeinflussen zu lassen, sondern lachte nur schäbig und dreckig in die Dunkelheit hinein. „Irgendwann wirst du auch wieder zu den alten Riten zurückfinden!“ - „Niemals! Und jetzt verschwinde. Lass dich hier nie wieder blicken.“ Statt einer Antwort ertönte wieder das hämische Lachen, gefolgt von lauten, polternden Schritten. Dann war alles ruhig.

      Ein Licht wurde angezündet. Anna hörte noch das Zischen eines Streichholzes, dann sah sie, dass tatsächlich Leo vor ihr stand und eine der Kerzen angezündet hatte. Diese waren hier in regelmäßigen Abständen zusammen mit je einem Päckchen Zündhölzer in kleinen Nischen aufgestellt. Im Kerzenlicht sah sie nun, wie Leo neben ihr kniete und ihren Hals untersuchte. „Dieser Schuft! Glücklicherweise bin ich noch rechtzeitig gekommen.“ Anna blinzelte irritiert. „Rechtzeitig? Er hat mich doch schon angefallen. Was hätte denn noch passieren sollen?“ Leo sah ihr tief in die Augen. Ganz zart legte er seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und hob es so an, dass sie ihm in die Augen blicken musste. Tief in die Augen blicken musste, die smaragdgrün im zarten Kerzenlicht schimmerten und sie teils streng, teils besorgt anblickten. „Das möchtest du gar nicht wissen, glaube es mir!“ Die Worte des Angreifers kamen ihr in den Sinn. „Was hat der andere Mann gemeint mit 'zu den alten Riten zurückkehren' und 'sie ist doch nur ein Mensch', was sollten ich und du denn sonst sein?“ Bei ihren letzten Worten hatte es amüsiert um Leos Mundwinkel gezuckt, bevor er zu einer Antwort ansetzte. „Auch das möchtest du nicht wirklich wissen!“ Zärtlich strich er mit seinem Daumen über ihren Mund und schüttelte lächelnd den Kopf. „Vertrau mir, kleine Anna.“ Immer noch lächelnd stand er auf und zog sie dabei mit sich in die Höhe. Als sie mühsam wieder auf beiden Beinen stand, lehnte sich Leo mit ernstem Gesicht an die Felswand.

      „Wie geht es dir? Kannst du laufen?“ Noch immer von leichten Schwindelgefühlen geplagt, nickte Anna vorsichtig und hielt sich Hilfe suchend an seinem muskulösen Unterarm fest. Wieder blickte er ihr tief in die Augen. Anna wurde ganz mulmig zumute. Das Grün seiner Augen war so intensiv, sie könnte ihn ewig so anschauen… Leicht amüsiert räusperte Leo sich. „Da ist noch etwas. Wir müssen uns eine Erklärung überlegen, warum du diese beiden Löcher am Hals hast. Von dieser Begegnung solltest du besser niemandem erzählen. Es würde dir ohnehin niemand glauben. Die Leute würden dich für verrückt erklären, wenn du ihnen von einem blutsaugenden Fremden, der in euren Kellern herumschleicht, erzählen würdest.“ Daran hatte Anna noch gar nicht gedacht. Sie würde diesen Übergriff der Polizei melden müssen. „Aber ich habe doch einen Zeugen! Du hast es doch auch gesehen!“ Leo hob eine Augenbraue. Ein trauriger Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. „Bedaure, aber ich werde mich nicht lächerlich machen. Solltest du jemandem etwas davon erzählen, werde ich nur bestätigen, dich blutend allein am Boden gefunden zu haben.“ Schockiert starrte Anna ihn an. Hatte sie eben gerade richtig gehört? Leo wollte ihr nicht helfen? Als habe er ihre Gedanken gelesen, strich er ihr liebevoll über die linke Wange. „Verzeih, aber ich habe meine Gründe. Gründe, die du nicht verstehen würdest.“

      Nicht verstehen würdest? Aber hatte nicht die andere Person ihn mit „Cousin“ angesprochen? Ungläubig schüttelte Anna den Kopf und stieß Leos Hand weg. „Was soll das heißen, du hast deine Gründe? Der Mann, der mich vor einigen Minuten attackiert hat, sprach dich mit 'Cousin' an. Du weißt also sehr wohl, wer das eben gerade war und willst es nicht bei der Polizei bestätigen.“ Bitterkeit stieg in ihr auf, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ausgerechnet jetzt fiel ihr in diesem Zusammenhang auch noch ihr fehlendes Alibi für die zwei Stunden am gestrigen Abend ein. Was, wenn Leo ihr auch hierbei nicht helfen würde? Ihr Entsetzen musste sich wohl auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn Leo sah sie fragend an. „Ist noch was?“ Sie wollte sich abwenden, doch er hielt sie am Oberarm fest. „Was ist los?“

      Mit vor Wut blitzenden Augen starrte sie ihn an, nahm seine Hand von ihrem Arm und machte auf dem Absatz kehrt. Zumindest versuchte sie es, aber sie hatte nicht mit Leos Reaktionsschnelle gerechnet. Blitzschnell hatte er seinen Arm um ihre Taille geschlungen und drehte sie zu sich um. Mit der anderen Hand hob er wieder ihr Kinn an und zwang sie, ihn anzusehen. „Was ist los? Du kannst es mir ruhig sagen, wenn du ein Problem hast.“ Als Anna ihn so vor sich stehen sah, konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Vielleicht lag es aber auch an dem Übergriff des Fremden von vorhin, schließlich war es nicht alltäglich, von einem blutsaugenden Unbekannten angegriffen zu werden. Schniefend nickte sie und begann mit knappen Worten vom Besuch der Polizei und deren Verdacht, sie könnte an dem plötzlichen Verschwinden ihrer Tante beteiligt sein, zu erzählen. Als sie fertig war, lächelte Leo sie an.

      Beruhigend fasste er sie bei den Schultern. „Ungelogen habe ich dich gestern Abend bereits eine Weile beobachtet, genauer gesagt seitdem du die Hauptstraße entlang kamst und in den Wald gelaufen bist. Ich wollte mich nicht aufdrängen, also habe ich dich nicht angesprochen. Erst als ich dich vor dem Wolf beschützt habe, habe ich mich zu erkennen gegeben. Du siehst also, dass du dir keine Sorgen machen musst.“ Anna fiel ein Stein vom Herzen. Also hatte sie tatsächlich einen Zeugen, der ihre Unschuld bei der Polizei bestätigen konnte. Vielleicht würde er es sich mit dem Überfall heute ja auch noch einmal anders überlegen… Als sie eine Frage in dieser Hinsicht stellte, erntete sie jedoch nur erneute