Mona Gold

Die Blutsippe


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könne es zu spät sein. Ich war müde, hatte einen anstrengenden Tag hinter mir und wollte sie zuerst stehen lassen. Doch etwas in ihrem flehenden Blick erweckte mein Mitgefühl. Ich ließ sie in mein Büro. Es war genau hier in diesem Zimmer, dass ich ihre Geschichte hörte, zumindest den winzigen Teil, den sie mir zu erzählen bereit war - und das war nicht viel. Trotzdem schien sie große Angst zu haben, sie sagte, sie sei auf der Flucht, habe mit allen aus ihrem früheren Leben gebrochen und müsse sich nun verstecken. Ihre größte Sorge jedoch galt Ihnen, ihrer kleinen Tochter. Sie sagte, dass Sie unter allen Umständen fern von der Familie aufwachsen müssten und dass es ihr lieber wäre, wenn Sie nie etwas über die Herkunft Ihrer Mutter erführen.“

      Anna schaute irritiert. Von solch Geheimniskrämerei hatte sie noch nie etwas gehalten. „Was war denn an der Herkunft meiner Mutter so problematisch? Habe ich vielleicht ein Krematorium oder so etwas geerbt? Oder eine Geisterbahn?“ - „Letzteres ist vielleicht gar nicht so weit von der Realität entfernt.“ Der Notar hatte diese Worte mehr zu sich selbst gesprochen, doch offenbar nicht leise genug, denn Annas Augenbrauen fuhren irritiert in die Höhe. Jedoch bevor seine Klientin irgendwelche Fragen stellen konnte, fuhr er schnell fort. „Aber lassen Sie uns doch mit der Verlesung des Testaments beginnen.“ Hektisch begann er in der Mappe, die er beim Betreten des Büros unter seinem Arm hatte, zu kramen. Als er die richtigen Blätter gefunden hatte, setzte er eine für sein breites Gesicht viel zu kleine Nickelbrille auf und räusperte sich umständlich, bevor er mit der Verlesung des Testaments begann. „Ich, Maria Wolfstöter, setze mein einziges Kind, meine Tochter Anna Wolfstöter, als alleinige Erbin ein. Bevor meine Tochter jedoch ihr Erbe antreten kann, mache ich es zur Bedingung, dass sie erst dem das Testament verlesenden Notar den Brief vorliest, den ich für sie im Falle meines Ablebens zusammen mit meinem Testament bei Selbigem deponiert habe.“

      Skeptisch verzog Anna das Gesicht. Was war denn das für eine eigenartige Bedingung? Als sie den Notar danach fragte, lächelte der nur und zuckte mit den Schultern. „Über ihre Beweggründe hat mich Ihre Frau Mutter nur so weit wie nötig informiert. Was den Brief betrifft, wollte sie sicherstellen, dass Sie den Inhalt auch wirklich zur Kenntnis nehmen und den Brief nicht einfach in Ihrer Manteltasche verschwinden lassen würden. Warum all diese Vorsichtsmaßnahmen?“ Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Das hat sie mir nicht mitgeteilt. Ich weiß nur noch, dass sie große Angst vor ihrer Familie hatte.“ Während er das sagte, beobachteten seine Augen Anna, keine Regung in ihrem Gesicht schien ihnen zu entgehen. Bei seinen letzten Worten war Anna zusammen gezuckt.

      „Was soll das heißen 'Sie hatte große Angst vor ihrer Familie'?“ - „Das sagte mir Ihre Frau Mutter auch nicht. Im Gegenteil. Sie hielt sich sehr bedeckt mit Informationen über ihren familiären Hintergrund.“ - „Dann sollte ich das Erbe vielleicht besser ausschlagen.“ - „Oh, nein! Diesen Schritt sollten Sie gut überdenken. Wissen Sie, es handelt sich dabei um ein nicht unbedeutend großes Erbe, das überwiegend aus Grund und Boden besteht. Schuldenfrei. Gut erhalten. So viel vorab.“ Anna zog kritisch die Augenbrauen zusammen. „Was stimmt nicht mit dem Erbe?“ Allmählich wurde sie doch misstrauisch. Der Notar schaute sie sehr ernst an, bevor er tief seufzte und schließlich zu einer Antwort ansetzte. „Leider kann ich Ihnen dazu auch nicht mehr sagen, da das alle Informationen sind, die ich von Ihrer Frau Mutter zu diesem Punkt erhalten habe. Unglücklicherweise ist sie viel zu früh von uns gegangen, von ihrem Erbe hat sie leider nichts gehabt. Laut dem Testament ihres Vaters, also Ihres Großvaters, hat nur derjenige einen Anspruch auf die Pachteinnahmen u.s.w., der auch dauerhaft auf der Ritterburg lebt. Und das hat sich Ihre Mutter ja nun beileibe nicht vorstellen können. Im Gegenteil. Ihre Familie durfte zeitlebens nicht erfahren, wo sie sich aufhielt. Von Ihrer Existenz, Frau Wolfstöter, wissen die Verwandten bis heute nichts. Das war der Wunsch Ihrer Mutter. Sie hat ausdrücklich verfügt, dass ich erst dann Kontakt mit der Familie aufnehmen soll, wenn Sie sich für die Annahme des Erbes entschieden haben.“

      Mit einem traurigen Lächeln schob er ihr einen übergroßen Briefumschlag entgegen. Das Papier war vergilbt, das Siegelwachs dunkelrot mit dem Abdruck irgendeines Wappens. Oder war es ein Symbol? So genau konnte Anna das nicht erkennen. Mit zitternder Hand griff sie nach dem Brief. Ein wenig mulmig war ihr doch zumute, als sie das Siegel brach und ein mindestens ebenso vergilbtes Blatt Papier herauszog. Sofort erkannte sie die schön geschwungene Handschrift ihrer Mutter.

       Meine liebe Tochter!

      

       Nun ist es geschehen! Da Du diesen Brief in den Händen hältst, bin ich von dieser Welt gegangen, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, Dich einzuweihen.

      

       Einzuweihen in das düstere Geheimnis meiner, nein, unserer Familie. Zumindest teilweise. Alles werde ich Dir hier nicht mitteilen können, handelt es sich doch um Dinge, die nicht auf Papier gebracht werden sollten. Dinge, die Dein ganzes Leben verändern können und werden, falls Du - wie von mir befürchtet - das Erbe annehmen wirst.

      

       Sollte Letzteres eintreten, hast Du Dich zweifelsohne von der Verlockung des Geldes verleiten lassen, die zugegebenermaßen groß sein wird, werde ich Dir doch nicht viel bieten können außer einem Leben in Freiheit. Einer Freiheit, die ich hier nicht näher beschreiben kann, die Du aber noch zu schätzen wissen wirst, solltest Du Dich für das Erbe entscheiden.

      

       Auf den ersten Blick wird alles wunderbar erscheinen, Dir wird die Hälfte einer Ritterburg sowie die dazugehörigen Ländereien und Immobilien gehören. Jedoch hat es seinen Preis, einen unaussprechlichen Preis, der Teil des dunklen Geheimnisses unserer Familie ist und mich von meiner Familie wegtrieb.

      

       Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, bin ich bereits fast zwei Jahre von meiner Familie weg. Zwei Jahre, in denen ich stets auf der Flucht war, Deinen Vater geheiratet habe, schwanger wurde und Dich geboren habe.

      

       An keinem Ort bin ich länger als ein paar Wochen oder Monate mit Dir geblieben, zu groß ist die Angst, dass die Familie mich aufspürt und dann von Deiner Existenz erfährt. Die habe ich nämlich bis jetzt geheim gehalten. Das werde ich auch nicht ändern. Besser, sie wissen nichts von Dir!

      

       Du siehst, noch hast Du die Chance, einfach das Erbe auszuschlagen und Deiner Wege zu gehen. Du wirst nicht reich sein, aber frei. Mein rastloses Leben hat nun ein Ende, viel werde ich Dir abverlangt haben, bevor Du ein eigenes Leben wirst beginnen können.

      

       Deine Schulzeit wird von ständigen Umzügen gezeichnet sein. Selten wird es mal ein Jahr geben, in dem Du nur ein oder zweimal die Schule wirst wechseln müssen. Stets werde ich mit Dir auf der Flucht sein, hoffentlich ohne dass Du auch nur den leisesten Verdacht hegst.

      

       Aber glaub mir, all das wird nur zu Deinem Besten sein, nur so kann ich Dich ohne den Einfluss unseres dunklen Familiengeheimnisses aufziehen! Ein dunkles Familiengeheimnis, das nicht gleich offenbar wird, jedoch wenn man länger auf der Burg verweilt.

      

       Vielleicht bereits nach ein paar Wochen, eventuell aber auch erst nach einigen Monaten. Es ist so unglaublich, so gut geschützt, dass Du es vielleicht erst bemerken wirst, wenn es zu spät ist. Leider handelt es sich um ein Geheimnis, das man nicht aufschreiben kann.

      

       So bedaure ich nun unendlich, Dir nicht früher alles erzählt zu haben. Wir hatten genug Zeit in all den Jahren, die seit dem Schreiben dieses Briefes und meinem Tod vergangen sein werden. Aber da Du jetzt diesen Brief in Händen hältst, werde ich offenbar all die Jahre nicht