Mona Gold

Die Blutsippe


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Wolf den Zug und wolle zu uns ins Abteil springen. Leuchtend blaue Augen hat er gehabt. Können Sie sich das vorstellen? Ein Wolf, der blaue Augen hat und einen Zug verfolgt?“ Er lachte in sich hinein. „Es wird Zeit, dass ich in Rente gehe. Bin schon 64.“ Während er sprach hatte er mit einem verärgerten Gesichtsausdruck das Chaos im Abteil betrachtet, so dass ihm Annas erschreckte Reaktion verborgen blieb, als er erwähnte, einen Wolf gesehen zu haben. Er hielt es für Einbildung, wusste nicht, dass auch Anna denselben Wolf gesehen hatte. „Das wird teuer für die Eisenbahngesellschaft und wieder einmal gibt es keinen, den man zur Kasse bitten könnte.“ Er sprach mehr zu sich selbst, schien seinen jungen Fahrgast neben sich völlig vergessen zu haben.

      Anna schluckte betreten. Sollte sie zugeben, dass auch sie denselben Wolf gesehen hatte? Doch selbst wenn sie den Zugbegleiter davon überzeugen konnte, dass es keine Einbildung war, wer sonst würde ihnen beiden glauben? Niemand! Sie würden nur wie zwei Narren da stehen. Verunsichert presste sie die Lippen aufeinander. Nein, sie würde nichts sagen. Ein Ruck ließ sie aufblicken. Auch der Schaffner schaute auf. „Der Lokführer hat bereits das Tempo gedrosselt, jetzt sind es nur noch ein paar Minuten bis Rittertal.“ Erleichtert über diese Information raffte Anna, immer noch von Panik erfüllt, ihre Sachen zusammen und ging Richtung Abteiltür. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt und viel Spaß beim Antiquitätenkauf! Obwohl es dafür noch zu früh ist. Der Antikmarkt öffnet jedes Jahr immer erst Ende Oktober.“

      Irritiert drehte Anna sich noch einmal um. „Wie bitte? Was für Antiquitäten?“ Der alte Mann stutzte und betrachtete Anna mit zusammengekniffenen Augen: „Sie waren noch nie hier, nicht wahr? Wenn dieser Ort auch sonst ein gottverlassenes Nest mit einer grauenvollen Vergangenheit ist, so ist er doch berühmt für seinen Antikmarkt. In meinen ganzen 48 Dienstjahren habe ich noch nie jemanden auf dieser Strecke erlebt, der nicht den Antikmarkt kannte. Seit jeher überwintert hier eine uralte Händlerdynastie und richtet während der kalten Jahreszeit den Antikmarkt aus. Aus der ganzen Welt strömen die Besucher hierher! Das wissen Sie nicht? Was wollen Sie denn sonst hier?“ Anna war immer noch verwirrt. „Nein. Nein, ich… besuche hier jemanden. Vielleicht bleibe ich auch länger. Das weiß ich noch nicht genau.“ - „Länger bleiben? Du liebe Güte! Noch etwas, das mir in meinen 48 Dienstjahren noch nicht begegnet ist. Jemand, der auch noch freiwillig hierher zieht. Dann noch so jung. Außer einer Dorfkneipe gibt es hier nicht viel für junge Leute. Aber Sie werden schon sehen, was ich meine. Gucken Sie sich erst mal bei Tageslicht in Ruhe um, dafür dürfte es ja nun schon ein bisschen spät sein.“

      Mit aufmerksamem Blick spähte er nach draußen. Der Zug fuhr gerade in das Dorf ein. Zumindest musste es das Dorf sein, das in diesem Tal lag und in dessen Mitte sich der Bahnhof befand, an dem man Anna abholen würde. Unscharfe Konturen unterschiedlich großer Gebäude zogen an ihr vorbei. Dank einer fehlenden Straßenbeleuchtung konnte sie nur Schatten erkennen. Dann endlich erhellten sich die Gleise vor ihr und gaben den Blick frei auf ein altes, einstöckiges Bahnhofsgebäude. Mit quietschenden Rädern hielt der Zug. Anna stieg mit ihren wenigen Habseligkeiten aus.

      Kaum hatte sie ihre letzte Tasche aus dem Wageninneren gehoben, schlossen sich die Türen auch schon wieder hinter ihr und der Zug setzte sich in Bewegung. Anna sah ihm nach, bis er am Horizont verschwunden war. Langsam drehte sie sich um. Suchend wanderte ihr Blick über das Bahnhofsgebäude. Alles war dunkel und verlassen. Über einem Fenster hing ein Schild. „Information“ stand dort in großen Buchstaben. Jedoch war dahinter ebenfalls alles düster. Ratlos sah sich Anna um. Sie war allein. Mutterseelenallein auf dem leeren Bahnhof. Niemand war gekommen, um sie abzuholen. Dabei hatte ihre Tante doch sogar persönlich kommen wollen. Suchend blickte sie sich um. Eine einzige Laterne erhellte den Bahnsteig. Es gab nicht einmal eine Sitzgelegenheit. Hinzu kam, dass es mittlerweile stockdunkel geworden war. Nebelschwaden zogen auf und von irgendwoher ertönte der Ruf einer Eule. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper und ihr war absolut nicht wohl bei dem Gedanken, hier weiterhin alleine zu warten. Doch mangels etwaiger Alternativen ging sie ungeduldig auf und ab. Dabei stieg mit jeder Minute, die verging, ihre Nervosität. Ständig kehrten die Erinnerungen an den Wolf mit den leuchtend blauen Augen, der in das Zugabteil gesprungen war, in ihr Bewusstsein zurück. Bereits nach wenigen Minuten Wartezeit war ihre Angst so übermächtig geworden, dass jedes Geräusch sie zusammenzucken ließ.

      Nein, hier konnte sie keine Sekunde länger bleiben. Energisch fegte sie ihre Angst vor dem einsamen Heimweg in der Dunkelheit zur Seite und marschierte mit ihrem Gepäck los. Die Tür zum Bahnhofsgebäude war verschlossen. Also musste sie einem kleinen Trampelpfad folgen, der rechts um das Bahnhofsgebäude herum führte. Nach ein paar Schritten war sie um die erste Ecke herum und fand sich in völliger Dunkelheit wieder. Ohne das helfende Licht der Straßenlaterne tastete sie sich vorsichtig Schritt für Schritt weiter, bis sie um die nächste Ecke des Gebäudes herum war. Endlich kam wenigstens wieder der Mond zum Vorschein und gab den Blick frei auf eine ungepflasterte Dorfstraße, die nur von wenigen Straßenlaternen erhellt wurde. In deren Schein konnte Anna zumindest einen Großteil ihrer Umwelt ausmachen. Und was sie sah, entsprach genau dem Klischee eines kleinen, verschlafenen Dorfes, das erst vor wenigen Jahren ans öffentliche Stromnetz angeschlossen wurde. Die Häuserreihen zu beiden Seiten bestanden größtenteils aus kleinen, gedrungenen Fachwerkhäusern. Das Bahnhofsgebäude schien eines der wenigen Gebäude aus Stein zu sein. Vom Bahnhof aus führte eine breite Straße weiter ins Dorf hinein. Sie bestand vollständig aus platt gestampftem Sand. Dass es so etwas noch gab? Das konnte ja heiter werden. Mit gemischten Gefühlen blickte sie die Straße herunter. Ein Stück weit von ihr entfernt befand sich ein erhelltes Gebäude. Wenigstens ein Lichtblick. Vielleicht waren die Bewohner noch wach, so dass sie ihr den Weg zur Ritterburg beschreiben konnten. Gerade als sie erleichtert darauf zu gehen wollte, vernahm sie neben sich im Gebüsch ein Geräusch.

      Neugierig trat sie näher und sah ein Pärchen verborgen hinter einigen Büschen stehen, völlig auf sich fixiert. So sehr, dass sie ihre heimliche Zeugin sie nicht einmal bemerkten. Die betrachtete die beiden genauer, konnte jedoch nur wenig erkennen, da durch wild wuchernde Hagebuttensträucher das Meiste der beiden verdeckt wurde und Anna nur einen kurzen Blick auf die Schulter der Frau erhaschen konnte. Dort prangte eine Tätowierung in Form einer Fledermaus. Dunkel und scharfkantig hob sie sich von der blassen Haut ihrer Trägerin ab und gab so ein unverwechselbares Erkennungsmerkmal, denn vermutlich gab es in diesem kleinen Nest eher wenige Menschen, die genau dieselbe Tätowierung hatten. Was hatte sie im Internet gelesen? 400 Einwohner zählte das Dorf, das vorerst ihre neue Heimat sein würde - falls sie sich zum Bleiben entschied, hieß das.

      Den besten Eindruck hatte sie nicht. Langsam ließ sie ihren Blick über das schäbige Bahnhofsgebäude gleiten, die ungepflegten, wild wuchernden Sträucher rechts und links. Seufzend griff sie nach ihrem Gepäck, um ihren Weg fortzusetzen. Dabei streifte ihr Blick noch einmal das Pärchen vor ihr und ließ sie auf dem eher schmalbrüstigen Oberkörper des Mannes ein eigenartig geformtes Muttermal über seiner linken Brustwarze entdecken. Es hatte die Form eines kleinen Mondes. Die großen, grobschlächtigen Finger der Frau strichen nun mit ihren spitzen Nägeln über seine Brust, über seine Schulter, um dann mit einem der spitzen Fingernägel ein tiefe lange Schramme auf seinen Oberarm zu ziehen. Ein dünnes Rinnsal Blut lief nun dem Arm des Mannes herunter und hinterließ eine schmale rote Linie. Anna schluckte und starrte wie gebannt auf den Arm des Mannes. Direkt vor ihren Augen schloss sich nun der tiefe Kratzer wie von Geisterhand und verheilte innerhalb weniger Sekunden vollständig als ob es nie eine Verletzung gegeben hätte! Anna unterdrückte einen Aufschrei. Wie war diese Blitzheilung nur möglich? Sie hatte es selbst gesehen! Es war ein tiefer Kratzer aus dem Blut quoll. Angewidert schüttelte sie sich und machte auf dem Absatz kehrt. Hektisch hastete sie mit ihren Gepäckstücken die spärlich beleuchtete Dorfstraße entlang.

      Sie kam an etlichen dunklen, abweisenden Häuserfassaden vorbei, bis sie endlich das erleuchtete Haus erreichte. Das musste die Dorfkneipe sein, von der der Schaffner gesprochen hatte. Über ihrem Kopf hing ein altes, dunkelrotes Schild auf dem eine dicke golden schimmernde Sonne prangte. Ein leicht aufkommender Wind ließ es quietschend hin und her schaukeln. Über dem Eingang stand in dicken goldenen Lettern „Zur Sonne“. Eigenartig. Einen solchen Namen für ein Wirtshaus hatte Anna noch nie gehört. Auch sonst sah das Gebäude nicht einladend aus. Die Fensterläden hingen schief in