Marc Brasil

Geschichten vom Dachboden 2


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gehabt! Sie sind aus Erlangen? Das kenne ich gut. Ich habe dort eine Zeit lang studiert. Ich heiße übrigens Urte Thomaschki!“ „Ute?“ hake ich noch einmal nach, da ich glaube mich verhört zu haben. „Nein, Sie haben schon richtig gehört! Urte Thomaschki!“

      Urte, ein ungewöhnlicher Vorname, geht mir kurz durch den Kopf bevor ich fortsetze: „Hätten Sie denn Interesse an einer guten Kopie der Fotopostkarte? Diese ist übrigens auf den März 1915 datiert und der Absender gibt als Ortsangabe Karpaten an“, füge ich hinzu. „Das ist ja interessant! Wissen Sie, heut zu Tage werden ja keine Briefe und Karten mehr geschrieben. Alle Nachrichten werden nach dem Absenden gleich wieder gelöscht. Mein Vater war 1915 Soldat. Die Karte muss aus seiner Militärzeit während des Ersten Weltkrieges sein“, ergänzt Frau Thomaschki und erinnert sich: „Er war bei den alten 52er Artilleristen und später, während des 2.Weltkriegs dann General der Artillerie, das war der höchste Dienstgrad zu dieser Zeit. Und er hatte auch das Eichenlaub zum Ritterkreuz verliehen bekommen!“, fügt Sie stolz hinzu. Sie bittet mich kurz zu warten, da sie das Fernsehgerät abschalten möchte, welches im Hintergrund dröhnt. Dann setzt sie fort: „Aber groß helfen bei Ihren Recherchen kann ich wohl nicht. Ich sehe schon schlecht und habe vor allem Schwierigkeiten mit dem Schreiben.“ Ich sehe auf die Fotopostkarte und kann ihr bestätigen: „Ja, der Absender der Karte gibt Leutnant Thomaschki und Feld-Artillerie-Regiment 52 an“, und frage: „Gibt es in Ihrer Familie vielleicht Verwandtschaft, welche sich mit Ahnenforschung befasst?“. Die alte Dame erwidert: „Meine Mutter hatte handgeschriebene Tagebücher, hat viel dokumentiert und beschäftigte sich auch intensiv mit Ahnenforschung. Wissen Sie, damals brauchte man ja nur seine arische Abstammung nachzuweisen und dann ging alles einfacher. Leider sind bei einem späteren Umzug alle Aufzeichnungen meiner Mutter weggeworfen worden. Wie schade! Morgen besucht mich meine Nichte, aber ich glaube die ist weniger an der Familiengeschichte interessiert.“ Frau Thomaschki schreibt sich meine Telefonnummer auf und teilt mir Ihre Adresse in einer Hamburger Seniorenwohnanlage mit. Wir verabschieden uns und ich wünsche Frau Thomaschki noch einen guten Rutsch ins Neue Jahr. Gleich nach dem Telefonat fertige ich die Kopie der Fotopostkarte mit einem kurzen Anschreiben für die alte Dame an. Ich weiß, dass sich Urte Thomaschki sehr über das Foto Ihres Vaters freuen wird, welches dieser vor mehr als 100 Jahren im Alter von 21 Jahren anfertigen ließ

      Ich betrachte mir nochmals die Fotopostkarte, auf der Siegfried Thomaschki so schön in die Kamera lächelt. Nicht selten sind solche Belege Unikate gewesen. Sie wurden entweder für die im Feld stehenden Soldaten von Kriegsfotografen hinter der Front angefertigt und verkauft oder es gab Soldaten, die bereits einen eigenen Fotoapparat besaßen und die Bilder als Fotopostkarte entwickeln ließen. Fotografieren war bereits vor dem Kriege zum Freizeitvergnügen geworden. Die technischen Weiterentwicklungen hatten es möglich gemacht, dass der Kauf eines Fotoapparates für nahezu alle Schichten der Gesellschaft erschwinglich war. Mitunter wurde auch ein begabter Soldat von seinen Kameraden zum Regimentsfotografen „gekürt“ und konnte sich durch den Besitz eines Fotoapparates mit dem Verkauf der entwickelten Bilder einen schönen Zuverdienst zum Sold erarbeiten.

      Ein späterer General ist Leutnant Thomaschki, der Absender der Fotopostkarte, also geworden. Ich recherchiere mit den neuen Erkenntnissen nun weiter nach Siegfried Thomaschki und finde heraus: General der Artillerie Siegfried Paul Leonhard Thomaschki wurde am 20.März 1894 in Miswalde geboren. Nach dem Abitur trat er am 4. März 1913 als Fahnenjunker in das 2.Ostpreußische Feldartillerie-Regiment Nr. 52 ein und zog als Ordonnanzoffizier der I. Abteilung seines Regiments 1914 in den Ersten Weltkrieg. Die Fotopostkarte von Siegfried Thomaschki wurde am 29.März 1915 aus den Karpaten geschrieben. Zu dieser Zeit war das mit dem Deutschen Reich verbündete Österreich-Ungarn an der Ostfront in eine bedrohliche Situation geraten. Die russische Armee war seit August 1914 auf dem Vormarsch und tief nach Österreich-Ungarn einmarschiert. Dabei drangen die Russen über die Karpaten, ein europäisches Hochgebirge, vor und belagerten die Festung Przemysl. Ein großer Teil Galiziens wurde von russischen Soldaten besetzt und das Deutsche Reich entschloss sich seinen Bündispartner mit zwei Divisionen zu unterstützen, darunter die 1.preußischen Infanterie-Division, in der sich auch Thomaschkis Artillerie-Regiment befand. Die beiden Divisionen formierten sich Anfang Januar 1915 zur „Deutschen Südarmee“. Am 22. März 1915 fiel die Festung Przemysl in russische Hände. Das deutsche Generalkommando zögerte einen Gegenangriff noch hinaus, da man in dem schwierigen Gelände auf günstigere Wetterbedingungen angewiesen war. Nach längerer Wartezeit konnte am 9.April 1915 mit umfangreicher Artillerievorbereitung der Gegenangriff auf die russischen Gebirgsstellungen in den Karpaten eingeleitet werden. An diesem Angriff war Leutnant Thomaschki als Angehöriger des Stabes der 1.Abteilung seines Feldartillerie-Regiments beteiligt. Während der Vorbereitungen für den Angriff hatte Siegried Thomaschki wohl etwas Zeit gefunden, die Fotopostkarte anfertigen zu lassen. Unter das Foto schrieb er noch mit Ausrufezeichen „Frieden im Krieg!“, was wohl darauf schließen läßt, dass es durchaus auch angenehmere Ruhe-Phasen während dieser Zeit gab. Auf der Rückseite bedankt er sich bei seinem Onkel für ein erhaltenes Paket: „Mit herzlichsten Dank für das schöne Frühstück, dass mir köstlich gemundet, sendet aus dem fernen Karpatenlande einen fröhlichen Ostergruß, euer stolzer Neffe Siegfried!“

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      Siegfried Thomaschki wird noch weitere 3 ½ Jahre im Felde stehen. Nach dem Ersten Weltkrieg bleibt er beim Militär und wird am 15. Oktober 1919 als Regimentsadjutant in das Reichswehr-Artillerie-Regiment 1 übernommen. In die neue geschaffene Wehrmacht eingegliedert, wird er am 16.Oktober 1935 zur Heeres- und Luftwaffen-Nachrichtenschule in Halle an der Saale kommandiert. Im zweiten Weltkrieg ist er seit Januar 1942 Kommandeur der 11. Infanterie-Division und erhält für die Erfolge in der Ladoga-Schlacht und der Schlacht am Wolchow am 1. November 1942 das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes. Am 1.März 1945 noch zum Kommandierenden General ernannt, gerät er im Kurland-Kessel am Tag der Kapitulation in sowjetische Kriegsgefangenschaft. 1949 wird er in Russland zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt und nach Workuta in die Ostukraine deportiert. Erst mit Adenauers „Heimkehr der Zehntausend“ entläßt man ihn im Jahre 1955 aus der Gefangenschaft. Bei seiner Heimkehr warten die alten Kameraden auf den Bahnstationen vom Lager Friedland bis Hamburg, um ihren „Onkel Thom“ in der Freiheit willkommen zu heißen. Er lebt mit seiner Frau Herta und den drei Kindern Urte, Claus-Jürgen-Siegfried und Wilhelm bis zu seinem Tod am 31.Mai 1967 in Hamburg und findet seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf.

      Seine Tochter Urte, Jahrgang 1923, ist erfreulicherweise also noch am Leben und konnte mir mit einer für das Alter erstaunlichen Rüstigkeit bei meinen Nachforschungen weiterhelfen. „Urte“ – ich muss mich doch noch einmal über den Vornamen informieren und finde heraus, dass er dem baltischen Sprachgebrauch entstammt und „Die mit dem Schwert Vertraute“ bedeutet. Am 11.Januar 2017 erhalte ich am Abend einen Anruf von Frau Thomaschki. Sie hat meinen Brief mit der Kopie der Fotopostkarte erhalten. Ich habe wegen ihres schlechten Augenlichts alles in sehr großen Lettern geschrieben und die Fotokarte auf DINA4-Format vergrößert. Sie hat sich sehr darüber gefreut und bedankt sich mehrfach.

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      Unermüdlich schippen die Kanoniere den Sand zur Seite, um die Telefonleitung zu legen. Der neue Beobachtungsstand auf der Düne liegt nur 200 Meter vom Schützengraben des Feindes entfernt und mit dem Scherenfernrohr hat man von dort einen großartigen Blick auf das Gewirr der feindlichen Stellungen, Schanzen und Gräben. Von der Beobachtung aus muss nun eine mehrere Kilometer lange rückwärtige Telefonverbindung geschaffen werden. Es ist stockdunkel und links und rechts von den Soldaten krepieren immer wieder Granaten, doch unbeirrt schuften die Männer weiter. Am Fuß der Düne wird der Boden lehmig bis sumpfig und ist von dürren Büschen durchsetzt. Eine unendliche Plagerei ist es dort zu graben. Zumindest ist das Wetter etwas besser geworden und es hat aufgehört zu regnen. Die letzten Tage mussten die Männer unter freien Himmel ausharren, gestern konnten Sie am Fuß der Düne endlich einen bombensicheren Unterstand errichten, indem Sie nun auch schlafen können. Ab und zu holt