Marc Brasil

Geschichten vom Dachboden 2


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Taschenlampen-Modell mit Abblendvorrichtung und Schraube zum Andrehen ist wesentlich praktischer als das mit dem Knopf zum Einschalten, welches ihm in der Jackentasche ständig von selbst angegangen ist. Als der Morgen graut, schleppen sich die Kanoniere an den Minenwerferstellungen vorbei zu ihrem Unterstand und sinken todmüde auf die Strohsäcke. An den Donner der Geschütze sind sie bereits gewöhnt und fallen trotz der zahlreichen Granateinschläge und dem Rattern der Maschinengewehre in einen tiefen Schlaf. Morgen ist Ablösung und endlich hat die Schufterei, zumindest für einige Tage, ein Ende.

      Am nächsten Morgen zündet einer der Soldaten eine Kerze im Unterstand an und schiebt die leichten Lederschuhe von den Füßen. Die völlig verdreckte Wäsche packt er in einen Sack und zieht sich die lehmigen Stiefel an. Jeden Moment erwartet er die Ablösung und er muss dringend einige Kilometer zurück zur Batterie, um beim Marketender etwas einzukaufen, die Wäsche abzugeben und nach Post zu sehen. Die Feldpostkarte, die er vor einigen Tagen begonnen hatte, steckt immer noch unvollendet in der Jackentasche. Auch ans fotografieren war überhaupt nicht zu denken und den Apparat hat er gleich im Unterstand zurückgelassen. In der Batterie sind bestimmte Lebensmittel noch günstig zu bekommen: Bevor er die Feldpostkarte hastig fertig schreibt und dem Postboten, der gerade die Post verteilt, in die Hände drückt, kauft er sich drei Eier zum Stückpreis von 8 Pfennige, einen Liter Milch zu 16 Pfennige und ein halbes Pfund Butter für eine Mark. Auch für ihn sind heute ein großes Paket und ein Brief aus der Heimat dabei, welche er sogleich erwartungsvoll öffnet. Die Eltern haben an alles gedacht: etwas Käse, Wurst und zwei Fischdosen holt er heraus. Die Zigaretten und Zigarren haben auf dem Transport sehr gelitten und sind ziemlich plattgedrückt. Schon mehrmals hat er nach Hause geschrieben, die Waren doch besser zu verpacken. Die drei Kerzen, welche unversehrt im Paket liegen, kann er dringend gebrauchen, da sie hier kaum zu bekommen sind. Ein kleines Büchlein, eine Kriminalhumoreske, löst bei ihm nicht gerade Begeisterung aus. Der Brief mit den Neuigkeiten aus der Heimat, die der junge Kanonier sofort liest, enthält erfreulicherweise noch zwei Mark Taschengeld vom Vater. Die nächsten Tage in Ruhe will der sportliche junge Mann mit Lesen und trotz der zurückliegenden anstrengenden Tage mit Aktivitäten wie Reiten und Fußballspielen verbringen.

      Seine eilig abgeschickte Feldpostkarte wird einige Tage später seine Eltern erreichen, die sich wegen ausbleibender Post ihres Sohnes schon Sorgen gemacht haben und sehnsüchtig auf Nachricht warten.

      9.Juli 1915, Pierre Kapelle

      Liebe Eltern!

      Auf Lektüre warte ich mit Schmerzen. Ich möchte auch meinen alten Wunsch zum 1000ten Male wiederholen, mir einen Kriminalroman zu schicken. Es gibt doch diese Serien à einer Mark, zum Beispiel Lux oder irgendeine andere. Wenn er auch von Conan Doyle ist, so einen möchte ich sogar am liebsten. Tut mir doch den Gefallen. Stattdessen bekomme ich immer diesen Blödsinn von Reclam: Kriminalhumoresken, etc. Sonst gibt es nichts Neues zu vermelden. Mit Kriegsgruß, euer Wolf.

      E:\FP\Buch_Verkaufte Geschichte\Buch_Bilder_Wolfgang_Schucht\Fotos_JPG\St_Pierre-Kapelle.JPGDer Absender der Feldpostkarte schreibt aus St. Pierre Kapelle, in der Nähe der kleinen belgischen Stadt Dixmuiden in Wesflandern, welche ungefähr zehn Kilometer vom Ärmelkanal entfernt liegt. Als im Oktober 1914 die ersten deutschen Truppen auf ihrem Vormarsch Dixmuiden erreichen, wird von den Belgiern durch Öffnen der Schleusen des Flusses Yser die Region komplett geflutet. Die ganze Ebene, welche bei Flut unter dem Meeresspiegel liegt, verschlammt völlig. Der deutsche Vormarsch kommt in der „Schlacht an der Yser“ zum stehen und der Bewegungskrieg entwickelt sich zum Grabenkrieg. Ende April 1915 werden durch deutsche Batterien zum ersten Mal in großer Anzahl Giftgasgranaten verschossen, um den Widerstand des Gegners vor der Stadt Ypern zu brechen. Tausende Engländer und Franzosen verlieren Ihr Leben oder werden durch die umherziehenden Giftgasschwaden schwer verletzt. Zu einem entscheidenden Durchbruch kommt es aber nicht und der Frontverlauf stabilisiert sich wieder. Gut zwei Monate später, im Juli 1915, ist St. Pierre Kapelle Sitz einer Batterie-Stellung der schweren Korpsartillerie des deutschen Marinekorps.

      Der Absender der zitierten Feldpostkarte, der sich „Wolf“ nennt, ist Kanonier in seiner Batterie und bittet seine Eltern um Zusendung von Kriminalromanen. Der Stellungskrieg bietet in den Erdbunkern zu den dienstfreien Zeiten oder im Ruhequartier weiter hinter der Front hin und wieder die Möglichkeit bei teilweise elektrischem Licht oder Kerzenschein ein gutes Buch zu lesen. Dabei bevorzugt „Wolf“ ausdrücklich die Werke des englischen Arztes und Schriftstellers Arthur Conan Doyle. Sicher ein Name, der durch die weltweit erfolgreiche Kriminalserie des Sherlock Holmes jedem geläufig ist. Der Name des englischen Schriftstellers steht also vor mehr als 100 Jahren auf einer in Belgien abgeschickten Feldpostkarte eines deutschen Soldaten. Eine seltsame Kombination, wie ich finde und möchte die näheren Umstände verstehen.

      Arthur Conan Doyle, der am 22.Mai 1859 in Edinburgh geboren wurde, veröffentlicht ab 1887 die Geschichten des Detektivs Sherlock Holmes und seines Freundes Dr. Watson. 1903 erscheint sein größter Erfolg aus der Detektivserie, „Der Hund von Baskerville“. 1912 erschafft er mit dem Roman „Professor Challenger – Die vergessene Welt“ neben der Sherlock Holmes-Serie einen weiteren großen Erfolgsroman. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt und erfreuen sich auch in Deutschland großer Beliebtheit. Im Deutschen Reich wird England während des Krieges als Hauptschuldiger für den Ausbruch des Weltkrieges angesehen. Die deutsche Propaganda mit Parolen wie „Gott strafe England“ oder auf englischer Seite veröffentlichte „Greueltaten der deutschen Hunnen“, schüren den Haß der beiden Völker aufeinander. Romane englischer Schriftsteller sind zwar während des Krieges im Deutschen Reich und an der Front nicht verboten, aber zumindest unstatthaft. Sicher ein Grund, weshalb der Kanonier seine Eltern mehrfach auffordern mußte, doch endlich Conan Doyle-Romane zu besorgen, was aus seiner Wortwahl „Wenn er auch von Conan Doyle ist…“ entnommen werden kann. Ob er sie wohl erhalten hat?

      Arthur Conan Doyle, der bei Ausbruch des Krieges mit 55 Jahren zu alt für das Militär ist, versucht sich dennoch aktiv für England einzubringen. Ab 2.September 1914 wird er mit weiteren englischen Schriftstellern für das neu geschaffene englische Propaganda-Büro tätig und veröffentlicht mehrere Texte, die sich kritisch mit dem Kriegsgegner Deutschland auseinandersetzen, als sein Schwager Malcolm Leckie an der Westfront fällt. Doyle besucht im Mai und Juni 1916 erstmals die Fronten in Frankreich und Italien und trifft dort mehrere französische Generäle und höhere englische Offiziere. An der Westfront besucht er dabei seinen Bruder John Francis Innes Doyle und seinen Sohn Kingsley, welcher an der Somme steht. Einen Monat später wird Kingsley Doyle durch einen Schrappnellsplitter am Nacken verletzt und zur Genesung nach England zurück gebracht. Arthur Conan Doyle schreibt nach seiner Rückkehr nach England den Roman „His Last Bow“, welcher im September 1917 veröffentlicht wird und indem seine Hauptfigur Sherlock Holmes, einen deutschen Spion enttarnt. Im Januar 1918 wird Kingsley Doyle nach seiner Genesung an die Westfront nach Frankreich zurückversetzt. Sein Vater Arthur Conan Doyle besucht von September bis Anfang Oktober 1918 ein weiteres Mal die Westfront. Am 28.Oktober 1918 stirbt Kingsley Doyle in einem Lazarett an den Folgen der „Spanischen Grippe“, einer Epidemie, die ab Mai 1918 drei Mal mehr Menschen das Leben kostet, als die 15 Milionen Weltkriegsopfer. Vier Monate nach Kingsleys Tod, bereits nach Kriegsende, fällt am 19.Februar 1919 auch Arthur Conan Doyles Bruder Innes in einem belgischen Lazarett der Spanischen Grippe zum Opfer. Der Tod seines Sohnes und enger Verwandter zeichnen Doyle. Er widmet sich nach dem Krieg verstärkt dem Spiritismus und Mystizismus und stirbt in seiner Heimat England am 7.Juli 1930 infolge eines Herzinfarktes.

      E:\FP\Buch_Verkaufte Geschichte\Buch_Bilder_Alfred_Schlenker\Fotos_JPG\Foto102Kommentare.jpgEs ist Montagabend, der 14.Dezember 1914 als Carl Spitteler im Zunfthaus „zur Zimmerleuten“ in Zürich an das Rednerpult tritt. Der Erste Weltkrieg tobt im vierten Monat in Europa und den Kolonien, aber die neutrale Schweiz ist bisher nicht in den Völkerkrieg verwickelt. Widerwillig hat der Schweizer nach mehrfacher Aufforderung des Vereins „Neue Helvetische Gesellschaft“ der Bitte nachgegeben und sich bereit erklärt, mit einem Vortrag an die Öffentlichkeit zu treten. Eigentlich steht er lieber im Hintergrund. Er ist kein Mann