Marc Brasil

Geschichten vom Dachboden 2


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laut werden. Der Hohn ist an sich eine rohe Gemütserscheinung, wie er denn in den Reihen der Armeen kaum vorkommt. Einzig der Grimm entschuldigt den Hohn. Diese Entschuldigung geht uns ab. Den Jubel über eine triumphierende Nachricht mögen sich die Volksgenossen des Siegers erlauben, im Gefühl der Erlösung aus peinlicher Spannung. Wir bedürfen der Entspannung nicht. Beides, Hohn und Jubel, sind die denkbar lautesten Äußerungen der Parteilichkeit, schon darum auf neutralem Gebiet verwerflich. Überdies säen sie Zwietracht. Wenn zwei vor einer Siegesmeldung stehen und der eine darüber triumphiert, der andere darüber trauert, so schöpft der, der trauert, gegen den, der triumphiert, einen innigen, gründlichen Hass. Ich hatte lange gemeint, der Hohn wäre das Schlimmste. Es gibt aber etwas noch Schlimmeres: die boshaft kichernde Schadenfreude, die sich gelegentlich in hämischen redaktionellen Zwischenbemerkungen und Ausrufen Luft macht. Es gibt Stoßgebete und Stoßseufzer. Das sind Stoßrülpser. Auch der übliche Spott über die lügenhaften Schlachtberichte enthält eigentlich eine Überhebung. Wer lügt in den Schlachtberichten? Nicht diese oder jene Nation, sondern jeweilen der Geschlagene. Der Sieger hat es leicht, bei der Wahrheit zu bleiben. Dass aber der Geschlagene klar und deutlich mit lauter Stimme seine Niederlage im ganzen Umfange ankündige, darf man billigerweise nicht fordern. Denn das geht über Menschenkraft. Auch wir, die Spötter, würden es nicht können.

      Und da wir doch einmal von Bescheidenheit sprechen, eine schüchterne Bitte: Die patriotischen Phantasien von einer vorbildlichen oder schiedsrichterlichen Mission der Schweiz bitte möglichst leise. Ehe wir andern Völkern zum Vorbild dienen könnten, müssten wir erst unsere eigenen Aufgaben mustergültig lösen. Mir scheint aber, das jüngste Einigkeitsexamen haben wir nicht gerade sehr glänzend bestanden.

      Meine Herren und Damen,

      Die richtige Haltung zu bewahren, ist nicht so mühsam, wie sich’s anhört, wenn mans logisch auseinanderlegt. Ja! wenn man’s im Kopf behalten müsste! Aber man braucht es gar nicht im Kopf zu behalten, man kann es aus dem Herzen schöpfen. Wenn ein Leichenzug vorüber geht, was tun Sie da? Sie nehmen den Hut ab. Als Zuschauer im Theater vor einem Trauerspiel, was fühlen Sie da? Erschütterung und Andacht. Und wie verhalten Sie sich dabei? Still, in ergriffenem, demütigem, ernstem Schweigen. Nicht wahr, das brauchen Sie nicht erst zu lernen? Nun wohl: eine Ausnahmegunst des Schicksals hat uns gestattet, bei dem fürchterlichen Trauerspiel, das sich gegenwärtig in Europa abwickelt, im Zuschauerraum zu sitzen. Auf der Szene herrscht die Trauer, hinter der Szene der Mord. Wohin Sie mit dem Herzen horchen, sei es nach links, sei es nach rechts, hören Sie den Jammer schluchzen, und die jammernden Schluchzer tönen in allen Nationen gleich, da gibt es keinen Unterschied der Sprache. Wohlan, füllen wir angesichts dieser Unsumme von internationalem Leid unsere Herzen mit schweigender Ergriffenheit und unsere Seelen mit Andacht, und vor allem nehmen wir den Hut ab.

      Dann stehen wir auf dem richtigen neutralen, dem Schweizer Standpunkt.“

      Eine Stunde hat Carl Spitteler zum Publikum gesprochen, als er seine Rede unter dem Applaus der Zuhörer schließt. Die epochalen Worte werden unter dem Titel „Unser Schweizer Standpunkt“ in die Geschichte eingehen. Carl Friedrich Georg Spitteler – ich muss zugeben, diesen Namen hatte ich vorher noch nie gehört und helfe mir über Wikipedia und Google weiter. Ein Schweizer Dichter, Schriftsteller und Kritiker ist er also und sogar Nobelpreisträger für Literatur im Jahre 1919. Er wurde am 24.April 1845 im schweizerischen Ort Liestal geboren und verstarb am 29.Dezember 1924 in Luzern. 1883 heiratet der deutlich ältere Spitteler seine erst 18-jährige ehemalige Schülerin Maria Op den Hooff, was ihm auch über die Landesgrenzen hinaus Kritik einbringt. In der Schweiz und in Deutschland war er durch seine Werke wie „Prometheus und Epimetheus“ bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein angesehener Schriftsteller. Besonderes Aufsehen erregte im Deutschen Reich seine vorstehende, am 14.Dezember 1914 vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Zürich gehaltene Streitrede „Unser Schweizer Standpunkt“. Spitteler hatte sich in einem politischen Vortrag für die konsequente Neutralität der Schweiz gegenüber den Kriegsparteien eingesetzt, da sich im Lande durch den Kriegsausbruch eine zunehmend gefährlichere Spaltung der Deutschschweiz von der französisch sprechenden Westschweiz bemerkbar machte. In seiner Rede kritisierte Spitteler insbesondere den deutschen Nationalismus, was zu vielen Gegen-Reaktionen in der damaligen deutschen Presselandschaft führte. In einer Dortmunder Zeitung wird Ende Dezember 1914 Spittelers Rede in einem Aufsatz aufgegriffen. Ein in Dortmund-Hörde lebender Professor, der Spitteler als Schriftsteller sehr schätzt und seine bisherigen Werke gut kennt, ist enttäuscht von Spittelers Sichtweise auf das Deutsche Reich. Dessen Streitrede wühlt ihn derart auf, dass er sich veranlasst fühlt, ihm am 30.Dezember 1914 einen Brief in die Schweiz zu schreiben. Der Dortmunder Professor hat eine Abschrift des Briefes aufbewahrt, welche erhalten geblieben ist. Die nicht minder interessante Antwort des Professors auf die veröffentlichte Rede des Schweizers liegt mir vor und hat mich auf die Spur Spittelers geführt:

      Dortmund, 30.Dezember 1914

      Sehr geehrter Herr Spitteler!

      Als Drucksache übersende ich Ihnen einen Aufsatz der Dortmunder Zeitung, der Ihre Rede in Zürich kritisiert. Da wir Deutschen Ihre geistige Bedeutung von je her gewürdigt haben, beschäftigt uns umso lebhafter die Frage, wie ein Mann Ihrer Art sich so schroff auf die Seite der Gegner stellen kann. Für diese Gegner, ihre Zahl und ihre Motive, haben wir nur das Gefühl unsäglicher Verachtung, das heißt für die Drahtzieher ihrer heutigen Politik. Wenn wir untergehen sollten, was ich nicht fürchte, so werden wir mit dem Hohnlachen der primanen Sagen fallen, und der Feuerbrand, in dem die germanische Welt versinkt, soll gewaltiger aufkommen als die Glut der Hölle. Das alte Deutschland der Gefühlsduselei – das so bequeme, das sich die Fetzen vom Leibe reisen ließ – die Schweiz und Burgund und Brabant und Flandern gehören ja, glaube ich auch dazu – das alte, von Frankreich und dem so lyrisch-gemütstiefen England ach! so zärtlich gepriesenen Deutschland ist – Gott sei Dank! – endgültig und für immer vorbei. Und als unsere Regimenter eisenklirrend über die Grenze Belgiens rückten, da jauchzte das junge Deutschland: Endlich, endlich einmal der Mut zur Tat, zu rücksichtsloser Tat – à cortaire cortaire et demi [franz. „Auf einen Schelmen anderthalbe“ oder freier übersetzt: „Eine List ist der andern wert“ – Anm. d. Verf.]. Der kleinen schwachen Schweiz mag unbehaglich zu Mute sein neben dem deutschen Riesen, der jetzt die halbe Welt in Scherben haut – aber zu fürchten hat sie nichts. Der täppische Riese hat immer noch das alte goldene Kinderherz und tut ohne Not niemanden etwas zu Leide. Wir sind auch nicht ohne Verständnis für die Tragik des belgischen Schicksals und wir preisen mit Schillers Worten immer noch Hettors Los: „der für seine Hausaltare kämpfend, ein Beschirmer, fiel; krönt dem Sieger große Ehre, ehrt ihn das schöne Ziel“.

      Aber Belgien ist – dank seiner Lage – nun einmal der Schauplatz aller europäischen Kriege gewesen und wird es bleiben, solange es nicht wieder zum Deutschen Reich gehört. Und gerade heraus: Wenn es für uns um Sein und Nichtsein geht, dann gibt es keine Neutralität – lesen Sie bitte Hugo Grotius, der nicht bloß Dichter, sondern auch ein Meister des Staatsrechts war. Wenn alles, was unseren Geist, unsere Freude, unseren Stolz ausmacht, mit Untergang bedroht wird, dann sollen wir uns geduldig erdrosseln lassen, bloß um ein Stück Papier nicht anzutasten? Wir sind Germanen und Männer und durch eine Meute raubgieriger Hunde, die uns seit Jahren umschleicht, vor die furchtbare Wahl gestellt, Amboss oder Hammer zu sein, wählten wir den Hammer, - und wenn es uns nach Wollen und Wünschen geht, so soll es Thors Hammer, der „Malmer“ sein. Sie haben das treffende Bild von den Haushunden gebraucht, die unbedenklich jeder gegen Einbrecher zu Hilfe ruft. Gestatten Sie mir ein nicht minder treffendes. Ein Mann von 70 Jahren soll kein 20-jähriges Mädchen heiraten – das ist dumm, und wenn er nachher gar selber die Hausfreunde einlädt, so ist es verächtlich. So verächtlich haben sich für alle Zeiten die Franzosen prostituiert, trotzdem sie mit uns ehelichen und dauernden Frieden haben könnten. Trotz all unserer Barbarei haben wir, sehr geehrter Herr Spitteler, immer noch so viel Gemüt, uns in die Seele eines Dichters zu versenken, und so bitte ich Sie: Schreiben Sie mir ein paar Zeilen der Aufklärung. Vielleicht waltet nur ein Missverständnis, und wenn nicht: wir Deutschen lassen uns zwar nicht gern besiegen, aber desto lieber überzeugen.

      Mit dem Ausdruck meiner Hochschätzung,

      Ihr sehr ergebener Professor

      Ob