Herr Thönder

Was wird morgen sein?


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      Musste hungern.

      Aber ich war schon immer ein Kämpfer.

      Ich tötete weiter.

      Ich überlebte weiter.

      Der Kampf ums Überleben prägte zunehmend mein Leben. Vorbei die Zeiten, in denen ich mich treiben lassen konnte. Vorbei die Zeit, in der ich einmal Pause machen konnte. Vorbei die Zeit, in der ich friedlich mit anderen über längere Zeit zusammen war.

      Ich muss überleben. Töten, um zu überleben. Warten, um zu töten.

      Auch heute.

      Ich sitze schon sehr lange und warte. Wann wird der Schwimmer auftauchen? Irgendwann tauchen sie immer auf. Dann muss ich bereit sein.

      Sonst sterbe ich.

      Vor Hunger oder Erschöpfung. Oder weil ich geschwächt vom Kämpfen bin. Schlägereien sind an der Tagesordnung. Wir sind alle gereizt. Geschwächt, ängstlich, gereizt. Die wenigen Kontakte, die ich habe, sind selten friedlich.

      Wenn ich überhaupt mal jemanden treffe. Es scheint, als hätten die Menschen uns hier ersetzt. Je mehr von ihnen kommen, desto weniger sind wir. Nicht immer enden Begegnungen mit den Menschen tödlich. Immer mehr von uns tragen ähnliche Halsbänder wie ich.

      Der Gestank ist langsam nicht mehr erträglich. Überall stinkt es nach Menschen.

      Auch wenn sie uns nicht direkt töten: Sie machen den Boden kaputt, auf dem wir laufen. Mit immer größeren Geräten, auf denen sie kommen. Sie nutzen den Boden ab. Sie durchlöchern ihn, ohne dort zu jagen.

      Schnell. Laut. Sinnlos.

      Der Rest des Bodens geht einfach so weg. Ich muss schwimmen, wenn ich nicht springen kann. Beides ist unendlich anstrengend, wenn man nicht genug gegessen hat.

      Ich bin schnell erschöpft, wenn ich lange unterwegs bin. Mir wird sehr warm, ich kriege oft kaum noch Luft.

      Und dann brauche ich die Kraft, um zu jagen. Zu jagen und zu überleben.

      Wie lange wird das noch möglich sein?

      Wie lange habe ich noch meinen Raum?

      Heute habe ich einen guten Platz gefunden. Ich bin sicher, dass ich heute überlebe.

      Aber was ist morgen?

Ferienende

      Jana warf sich noch etwas Wasser ins Gesicht und spülte sich erneut den Mund aus. Der Blick in den Spiegel verriet ihr: „Boh, siehst Du scheiße aus…“

      Ein gequältes Lächeln erschien in dem Gesicht, das sie aus dem Spiegel anblickte. Sie sah wirklich schlimm aus: Ihre Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab, ihre geröteten Augen waren von dunklen Ringen umgeben und der Bronzeton ihrer Haut war einem grünen Blass gewichen.

      Dabei war sie so stolz gewesen, dass sie in diesem Sommer endlich einmal ein wenig Farbe bekommen hatte. In Lissabon war das auch kaum möglich gewesen, darum herum zu kommen.

      Lissabon. Wie gerne erinnerte sich Jana im Nachhinein an diese Reise. Nun ja, nicht unbedingt an die Reise selbst. Immerhin war es eine Reise mit ihrer Familie gewesen. Das hieß Zeit mit Menschen zu verbringen, die uncool, nervig und in der Öffentlichkeit meistens peinlich waren. Nach ihren Recherchen war diese Meinung völlig normal für eine 16-jährige. Nicht normal war der Zwang, den ihre Eltern aufbauten, damit sie die Reise antrat.

      Doch immerhin hatte die Reise alles verändert. Obwohl zunächst alles ganz anders aussah.

      Sie hatte eine mittelschwere Krise bekommen, als sie von ihren Eltern zu diesem „Familienurlaub“ gezwungen wurde. Sie hatte alles versucht, nicht mitzumüssen – zwecklos. Selbst Kotzen am Abflugtag führte nicht zum gewünschten Erfolg.

      Sie beschloss, ihr Ding zu machen, das Beste für sich herauszuholen und ihr Schicksal zu ertragen. Lesen, schreiben, am Strand liegen. Was hätte sie auch sonst tun sollen?

      Das lief auch ganz gut, bis Jana die Nachricht von Maria auf ihrem Handy hatte: „Und tschüss…“

      Jana geriet in Panik. Was war da los? Wollte sich Maria etwa umbringen? Als Maria weder auf Rückrufe noch auf Janas Textnachrichten reagierte, brach Jana zusammen.

      Nicht Maria. Nicht nur, weil sie sich gestritten hatten. NICHT MARIA!!!

      Maria war für Jana der wichtigste Mensch in ihrem Leben, das spürte sie in Lissabon endgültig. Maria war ihre Freundin, schon lange. Doch seit einer Weile war es eine sogenannte „Freundschaft +“. Händchenhalten und Küssen inklusive.

      Jana fühlte mit Maria Dinge, die sie bei Jungs nicht fühlte. Was sollte man auch von Menschen erwarten, deren erste sexuelle Erfahrungen mit dem Wort „Fummeln“ umschrieben wurden? Nicht, dass Jana mit Maria schon „so weit“ gegangen wäre. Es war ein langsamer, zarter und gefühlvoller Beginn einer Beziehung.

      Jana fühlte, dass Maria ihre erste echte Liebe war.

      Doch vor den Sommerferien hatten Maria und Jana Probleme bekommen. Das hing vor allem damit zusammen, dass Jana unsicher wurde. Nicht, was ihre Gefühle für Maria anging. Sie war aber noch nicht bereit, sich zu outen. Das verletzte Maria. Sie stritten immer häufiger. Jana war so fertig mit sich und der Welt, dass sie sogar die Schulpsychologin in Anspruch nahm. Hier konnte sie auch die Probleme mit den Mitschülern ansprechen. Diese sahen sie schon immer als Sonderling, als komisch und als Freak. „Mit Mobbing ist nicht zu spaßen“, sagte die Psychologin immer.

      Die Gespräche halfen Jana ein wenig, doch sie konnte den Gedanken, mit ihren Eltern wegzufahren, Maria im Unfrieden zurückzulassen, kaum ertragen.

      Und dann die Nachricht.

      Jana war so außer sich, dass sie zur Ponte 25 de Abril ging. Sie setzte sich auf die Brüstung und schaute sich den Sonnenuntergang an.

      Ob sie springen wollte, wusste sie selbst nicht.

      Jedenfalls kam plötzlich ein deutscher Junge. Einer, den sie zuvor schon am Strand kurz gesehen hatte. Er stellte sich als Lewis vor. Ihre Eltern hatten sich kennengelernt und als alle in Aufruhr waren hatte Lewis als einziger eine echte Idee, wo Jana sein könnte. Kurzerhand ging er auf eigene Faust los und traf Jana tatsächlich auf der Brücke an. Es war der einzige Ort, an dem er suchen wollte.

      „Hier sieht man den Sonnenuntergang am besten“, sagte er lapidar.

      Zu dem Zeitpunkt wusste Jana schon, dass Maria nur sagen wollte, dass sie jetzt auch im Urlaub sei. Sie wollte sich kurz bei Jana verabschieden – aber nur für die Zeit, in der sie mit ihren Eltern weg wäre. Jana war bereits erleichtert, als Lewis sie traf.

      Er war auch ein Außenseiter in seiner Familie, sie verstanden sich schnell. Seitdem schrieben die beiden sich relativ regelmäßig. Einfach mal erzählen.

      Lewis war der erste, dem Jana ihre Gefühle für Maria offenbarte. Die lockere Art, wie er damit umging, freute Jana.

      Ob ihre Eltern auch so locker damit umgehen könnten?

      Überraschenderweise konnten sie das. Zumindest nach einem ersten Zögern.

      „Klar,“ dachte Jana wieder, „sie mussten ja erstmal ihre Vorstellung von Schwiegersohn und Enkeln begraben.“ Ein kurzer Trauerprozess.

      Denn Jana und Maria hatten auch kurzen Prozess gemacht.

      Nach ihren Urlaubsreisen hatten sich Jana und Maria sehr bald wiedergesehen. Maria hatte bei Jana vor der Tür gestanden und sie waren sich um den Hals gefallen. Kurzentschlossen hatte Jana Maria in die Augen geschaut, kurz: „Bereit?“ gefragt, den erfreut-verdatterten Blick von Maria als „ja“ gewertet, sie an der Hand genommen und war mit ihr ins Wohnzimmer zu ihren Eltern gegangen.

      „Mama, Papa, Maria ist meine Freundin, wir lieben uns!“