Herr Thönder

Was wird morgen sein?


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aushielt, sagten ihre Eltern fast gleichzeitig: „Ok. Isst Du heute Abend mit uns, Maria?“

      Die beiden Mädchen waren komplett überrumpelt. Maria stotterte nur: „J-ja, gerne“, und verschwanden in Janas Zimmer – wo sie erst einmal ein heftiger Lachkrampf schüttelte. Die Erleichterung war unermesslich, ihre jeweilige Angst war wie weggeblasen.

      Immer, wenn Jana sich an diesen Moment erinnerte, musste sie unweigerlich lächeln. Kurz darauf wurde ihr immer heiß, denn sie musste auch daran denken, was dann geschah.

      Als sie nicht mehr lachten, nahm Maria Janas Gesicht zärtlich zwischen ihre Hände, hauchte ein: „Danke!“ und küsste sie sanft. Ihre Küsse wurden immer leidenschaftlicher und sie begannen, sich gegenseitig zu erkunden.

      Total natürlich fühlte es sich an, die Haut der jeweils anderen zu streicheln und zu küssen, noch natürlicher, die Nacktheit der anderen zu bewundern. Langsam, still und beinahe ohne Worte leiteten sie sich gegenseitig an. Sie lernten, was der anderen, aber auch was jeder selbst gefiel. Sie wuchsen gemeinsam und ihre Beziehung wurde stetig fester.

      So sahen sie sich den Rest der Ferien so häufig wie möglich. Trotzdem ließen sie sich auch Zeit für ihre alten, zum Teil nicht geteilten Hobbys. Während Maria ein Pferd besaß und regelmäßig ritt, ging Jana zweimal in der Woche zum Hip-Hop-Tanzen. An diesen Tagen hatten sie manchmal nur kurz Zeit für ein Telefonat. Aber auch das fühlte sich gut an.

      Janas Eltern verloren kaum ein Wort darüber, dass ihre Tochter ihnen aller Voraussicht nach niemals Enkelkinder schenken würde. Sie sagten aber auch nicht, dass sie das schrecklich finden und Jana enterben oder sie aus dem Haus jagen würden. Im Gegenteil war ihr Umgang beinahe locker. Sie wirkten erleichtert, endlich zu wissen, was an ihrer Tochter anders war.

      Auch sie hatten die Entfremdung zwischen ihnen und Jana gespürt, wussten aber nicht, woran es lag. Dass es nur war, weil Jana sich zu Frauen hingezogen fühlte, machte es ihnen leichter.

      So erzählte es Janas Vater ihr zumindest, als er sie am letzten Dienstag vom Tanzen abgeholt hatte. Die beiden hatten länger an einem defekten Bahnübergang im Auto gestanden und völlig unvermittelt hatte ein intensives Gespräch begonnen. Janas Vater hatte ihr seine Sicht vom Lissabon-Urlaub erzählt („Ich wäre fast ohnmächtig geworden vor Angst“) und dann hatten sie über Maria und Janas Beziehung zu ihr gesprochen.

      Das Gespräch war so entspannt, dass Jana fast auch ihre Ängste erzählt hätte. Da kam aber die Öffnung des Bahnübergangs dazwischen und Jana verschluckte es.

      Wie immer. Sie schluckte alle Demütigung, alles Mobbing, alle Ängste – bis sie kotzen musste.

      So auch vorhin. Ihre Angst vor dem Schulbeginn war übermächtig.

      Schon vor den Ferien war sie geärgert worden. Alles hatte mit ihren herausragenden Leistungen angefangen. Obwohl ihr diese mehr oder weniger zufielen, wurde sie als Streberin und Schleimerin beschimpft. Das ging jedem so, der in der Schule gut war.

      Im Laufe der Zeit wurde es aber persönlicher. Ihr Eigentum verschwand oder wurde beschmutzt. Sie wurde angerempelt. Manchmal, wenn jemand ganz mutig war, bekam sie Briefchen mit Schimpfworten und Beleidigungen („Freak“, „Du bist häslich“, „Du stingst“) – Jana konnte nach einer Weile nicht einmal mehr über die Rechtschreibfehler lachen.

      Am schlimmsten waren aber die Blicke. Ihre Mitschüler und Mitschülerinnen guckten sie entweder gar nicht an, oder es lag eine so tiefe Abscheu in ihrem Blick, dass Jana oft nur noch weggucken konnte. Die Blicke verfolgten sie bis in ihre Träume, aus denen sie oftmals hochgeschreckt war.

      Durch den Schlafmangel wurde sie unkonzentriert, was ihr diverse Lacher eingebracht hat. Leider keine freundlichen.

      Vor allem die Blicke waren es, vor denen sich Jana jetzt fürchtete.

      Diesmal vor ihren eigenen Blicken.

      Mit Maria hatte sie sich darauf geeinigt, dass sie in der Schule behutsam vorgingen, was ihre Beziehung anging. Sie wollten sich nicht sofort um den Hals fallen und küssen, sondern sich normal, wie normale Freundinnen begegnen.

      Doch Jana wusste, dass sie ihre eigenen Blicke, mit denen sie Maria anschaute, nicht kontrollieren konnte. Sie würde sie verliebt anschauen. Sie würde mehr lächeln. Die würde rot werden.

      Und das würden die anderen sehen. Und darüber reden.

      Und den Druck erhöhen.

      Jana hatte riesige Angst, dass sie wieder einknicken würde. Dass sie Maria wieder verleugnen würde. Dass sie nicht zu ihr stehen würde.

      Dass sie den wichtigsten Menschen in ihrem Leben enttäuschen würde.

      Vor allem, seit sie mit Maria darüber geredet hatte. Auch wenn Maria ihr versichert hatte, dass sie Jana verstehen könne. Auch wenn sie versichert hatte, dass sie wisse, wie sich das alles anfühlte. Auch wenn sie versichert hatte, dass ihre Liebe stärker war.

      Trotzdem hatte Jana diesen kurzen Moment in Marias Blick gesehen. Diesen Moment des Zweifels.

      Ein kurzer Schatten war da durch Marias Blick gehuscht. Ein Schatten, der Jana seitdem verfolgte und ihr die letzte Nacht zur Hölle gemacht hatte. Sie hatte geträumt, dass Maria mit zerschmettertem Gesicht am Fuß einer Brücke gelegen habe. Nur ihre Augen waren noch erkennbar und diese blickten Jana so vorwurfsvoll an, dass diese aus dem Schlaf geschreckt und nicht wieder eingeschlafen war.

      Seitdem hatte Jana fast nur im Bett gelegen und geweint. Wenn sie nicht auf dem Klo gekotzt hatte.

      Ihre Eltern waren weiterhin verständnisvoll und ließen sie in Ruhe. Wer weiß, was sie dachten, doch sie warteten, bis Jana ihnen freiwillig erzählen würde, was Sache war.

      Normalerweise fand Jana das super. Heute hätte sie es anders gebraucht.

      Und morgen? Tja, davor hatte Jana die meiste Angst. Morgen begann die Schule. Die Beobachtung, der Spießroutenlauf. Die Angst, etwas falsch zu machen.

      Die Angst, Maria zu enttäuschen.

      Morgen. Was würde morgen passieren?

      Schnell beugte sich Jana wieder über die Kloschüssel…

Keine Tränen

      Er betrachtete die Leiche. Das war sein Job. Als Bestatter war er einer der ersten, die zu einem toten Menschen gerufen wurden. In seinem Beruf wäre zu viel Sentimentalität nicht hilfreich gewesen.

      Doch auch in seinem Privatleben gab es keine Tränen.

      Vor vier Wochen war seine Großmutter gestorben. Er hatte nicht geweint. Es war alles merkwürdig und verwirrend gewesen. Aber es gab keine Tränen.

      Er war wie immer zu seiner Großmutter gefahren. Regelmäßig besuchte er sie in ihrer Wohnung. Sie war eine sehr wichtige Bezugsperson für ihn. Deshalb besuchte er sie jeden Samstag. Sie redeten, spielten und schwiegen zusammen. Ihre Spaziergänge durch den nahen Wald waren ein absolutes Highlight der Woche. Er genoss die Stille, das Zusammensein und die Vertrautheit.

      Während er im Beruf ständig gefordert wurde, forderte seine Großmutter nichts von ihm. Sie akzeptierte ihn, so wie er war. Sie stellte keine Fragen, sondern hörte ihm nur zu. Sie bewertete nicht, wenn er erschöpft war, sie freute sich mit ihm, wenn er euphorisch war.

      Alle seine Beziehungsversuche mit diversen Frauen waren Thema. Auch sie wurden nicht bewertet. Weder waren die Frauen die Richtige, noch war er selbst schuld, wenn etwas zu Bruch ging, noch war die Frau nicht gut genug für ihn.

      Auch, dass er niemals weinte, wenn eine Beziehung zu Ende ging, war ok. Zumindest für seine Großmutter.

      Er selbst war immer wieder irritiert, aber er gewöhnte sich daran. Es wurde normal, dass keine Tränen flossen.

      An jenem Samstag im Herbst wollte er seine Großmutter wieder besuchen. Er klingelte, aber sie öffnete