Heinz-Joachim Simon

Aufstand in Berlin


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ihm unbekannte Gesichter und Jonas stellte sie ihm vor.

      „Das hier ist Robert. Unser Anarchist. Er war in seiner Jugend Mitglied der Kommune, die den amerikanischen Vize–präsidenten mit Backpulver beworfen hat. Er ist immer noch ein treuer Anhänger Bakunins, dem großen Verneiner.“

      Robert sah unwillig hoch. Ein missbilligender Blick auf Singers Kleidung. Der Mann war so alt wie Singer und wirkte dennoch jugendlich und immer noch nicht ganz ausgebacken. Lange schwarze Haare wie in den guten alten Zeiten der Apo, ein bleiches, pickliges Gesicht und dunkle, sich ständig bewegende Augen.

      „Aber abgesehen davon, dass er dauernd die Weltrevolution ausruft, ist er ganz in Ordnung“, erklärte Jonas, als befürchte er, dass die Anwesenheit des Anarchisten Singer unangenehm sein könne.

      „Er ist auch nur einer der Verzweifelten. Bei dem einen äußert sich dies in Tränen und Resignation, bei ihm eben in Wut und Zorn über die Zustände auf das System, das es zulässt, dass man schon mit Fünfzig weggeworfen wird. Du kennst doch den Spruch von damals? Macht kaputt, was euch kaputt macht! Genau so fühlt er immer noch. Einmal Revolutionär, immer Revolutionär. Mit solcher Einstellung ist man heute ganz schön allein.“

      „Für solch ein Gelaber sollte man dich an die Wand stellen!“ sagte Robert und knallte mit scheelem Blick sein Bierglas auf den Tisch.

      „So ist er nun einmal“, entschuldigte ihn Jonas. „Er gibt vor, die ganze Menschheit zu lieben und redet doch nur von Bomben, dem großen Knall und vom Knattern der Maschinenpistolen.“

      „Bourgeoises Geschwätz“, brummte Robert verächtlich.

      „Und das hier ist Giulio“, fuhr Jonas ungerührt fort. „Ein Florentiner. Hauptberuflich ist er im Sommer Kellner in Positano oder Amalfi. Nebenberuflich ist er der letzte Rotgardist. Manchmal, wenn er nicht gerade mal wieder hoffnungslos verliebt ist.“

      Der Italiener schien dem Gemälde des Piero de la Francesco entstiegen zu sein. Er sah aus wie einer der Renaissancefürsten, die Macchiavelli beschrieb und die den großen Leonardo abends zur Tafel baten. Der Italiener reichte Singer über den Tisch die Hand. Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm er Singer für sich ein.

      „Jonas muss immer übertreiben. Rote Garden findet man nicht mehr, weder in Mailand noch in Bologna, und Fetrinelli ist schon lange tot.“

      „Ein wenig. Zugegeben“, gab Jonas unumwunden zu.

      Es lag viel Wärme und Zuneigung in seiner Stimme, so dass sich Singer ihm wieder zuwandte. Was hatte den Alten wohl dazu gebracht, ein Berber zu werden? Er wirkte dabei nicht unglücklich. Im Gegenteil. Nie zuvor war Singer jemandem begegnet, der so viel Verständnis und Liebe und Würde ausstrahlte. Er schien Singer wie ein Mensch aus einer vergangenen Welt. Aus einer Zeit, in der Ehre, Anstand und Würde wichtig waren. Und natürlich die Freundschaft.

      In das Gesicht des Alten traten nun Freude und Stolz. Als Singer sich umdrehte, verstand er dies. Auch er hatte den Eindruck, dass er etwas Außergewöhnliches, etwas Kostbares sah. Wenn er noch Jahre später an diesen unwiederbringlichen Augenblick ihrer ersten Begegnung zurück dachte, hatte er stets Mühe mit Worten den Grad der Betroffenheit zu beschreiben, den er empfand, als er Maja das erste Mal sah. Er glaubte, ihr schon einmal begegnet zu sein. In einem früheren Leben, und sie ließ in ihm Gefühle wach werden, die er längst abgeschlossen zu haben glaubte. Lange, glatte schwarze Haare, die bis in den Rücken reichten, eine klassische, etwas zu lange Nase und große geheimnisvolle dunkle Augen. Ein Lächeln, das traurig und lockend und wissend zugleich war, als wäre sie die Hüterin eines großen Geheimnisses.

      Maja umarmte den Alten und der Weißbärtige drückte sie wie ein liebender stolzer Vater an sich. Sie lehnte einen Augenblick ihren Kopf an seine Schulter und sah Singer dabei an. Ihr fein geschwungener Mund war leicht geöffnet, als wolle sie ihn ansprechen. Sie war so schön, dass Singer krampfhaft schlucken musste.

      Als sie ihm die Hand reichte, zitterte seine eigene und sie berührte, von den anderen unbemerkt, seinen Arm. Sie hatte also registriert, welchen Eindruck sie auf ihn gemacht hatte und schien sich darüber zu freuen. Er war sich dessen sofort sicher.

      Jonas beobachtete sie zustimmend und strich ihr über das Haar, als wollte er damit ausdrücken, dass er Singer verstand und dessen offen gezeigte Verwirrung gut hieß.

      „Maja studiert Kunst. Sie malt uns manchmal. Zeig doch einmal, was du heute gemalt hast“, bat der Alte und seine Stimme ließ erkennen, dass Singer nun etwas Außergewöhnliches sehen würde. Das Mädchen nickte und entnahm ihrer Umhängetasche einen Block. Ohne sich zu zieren, reichte sie ihn Singer, als habe er ein Anrecht darauf. Obwohl Singer nicht viel von Malerei verstand, erkannte er, dass sie Talent hatte.

      Es waren Skizzen von Straßenszenen, nur mit wenigen flüchtigen Strichen hingeworfen, und doch wurde der Charakter der Menschen sichtbar. Gesichter, die satt aussahen und doch ängstliche Augen zeigten oder von Gleichgültigkeit und Selbstzufriedenheit entstellt waren. Er blätterte weiter und fand schließlich Jonas und seine Freunde. Auch sie waren treffend gezeichnet. Besonders Jonas fand er sehr beeindruckend. Ein Leuchten war in dessen Gesicht, genau so wie er es selbst schon festgestellt hatte. Er sah Skizzen von Friedel, Hermann, Fränzchen und Giulio. Auch von Luischen. wie sie mit ihrem Kosmetikköfferchen an einer Straßenecke stand und auf Freier wartete. Aber es war nichts Rohes oder Gemeines in dem Bild. Sie stand mit frohem Gesicht an der Ecke und vielleicht auch mit ein wenig Ungeduld, weil sie Liebe zu vergeben hatte und niemand kam. Liebe für Geld, gewiss, aber immerhin war es Liebe. Dann kam ein Bild von Robert. Seine Hände hatte sie wie gichtige Klauen gezeichnet, als würde er sie vor Schmerzen krümmen.

      „Sie zeigt uns unsere kleinen Geheimnisse“, flüsterte Jonas ehrfürchtig. „Doch sie geht dabei recht liebevoll mit uns um.“

      „Sie ist eine große Künstlerin“, bestätigte Hermann.

      Maja zuckte mit den Achseln. „Ach was. Ich habe euch schon tausendmal gesagt, dass ich nur durchschnittlich bin. Ich möchte so zeichnen können wie Goya oder so zärtlich–traurig wie Janssen oder wie Picasso, wenn er die Menschen als Götter zeichnete. Aber mir fehlt der Zorn oder das Selbstbewusstsein.“

      Singer fiel Goyas nackte und bekleidete Maja ein. Lag in der Namensgleichheit ein Zusammenhang, etwas Bedeutsames, eine Verbindung, die etwas erklärte?

      „Jeder große Künstler zweifelt an sich selbst“, widersprach Jonas begütigend.

      „Picasso hat nie gezweifelt“, sagte sie und nahm Singer den Block aus der Hand und steckte ihn in ihre Umhängetasche.

      „Was hätte er erst leisten können, wenn er es getan hätte“, erwiderte Jonas, als wäre er auch ein Schüler der Kunstakademie, mehr noch, einer der Professoren.

      „Er hat viel geleistet“, verteidigte ihn Maja.

      „Zweifellos“, stimmte ihr Jonas zu. „Doch ich glaube, er war manchmal zu schnell mit sich zufrieden. Aber ich gebe gern zu, dass wir nichts wissen von der Verzweiflung und der Einsamkeit anderer Menschen.“

      Es gab wohl niemanden, für den Jonas kein Verständnis hatte.

      „Kunst ist zum Produkt verkommen. Beliebige Ware“, warf Giulio ein und lächelte so kummervoll, wie Leonardo im Palast der Medici gelächelt haben mochte.

      „Kunst entsteht oft auf dem Misthaufen. Letztendlich geht es ums Geld.“

      „Seht doch nur an, was aus Dalí geworden ist! Das größte Talent unseres Jahrhunderts hat sich für Geld und Ruhm ruiniert“, stimmte ihm Maja zu.

      „Eines Tages verkaufen sich alle“, polterte Hermann plötzlich los. „Keiner entgeht dem Geld. Die ganze Gesellschaft hat sich verkauft.“

      „Sind wir anders?“, beschwichtigte ihn Jonas. „Gut, wir sind darüber hinweg. Jedenfalls meistens. Aber auch jeder von uns ist schon einmal rückfällig geworden. Zumal wenn der Bauch knurrt.“

      „Die Versuchung ist einfach zu groß“, sagte Singer, der sich an das Gespräch mit Schanek und der Preminger erinnerte. „Für die