Helmut Lauschke

Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens


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„Schicken Sie den Fahrer“, sagte Dr. Witthuhn und legte den Hörer wieder auf. Der Fahrer kam nach zehn Minuten mit einem alten, völlig verbrauchten Ambulanzwagen, der vorn, hinten und an den Seiten verbeult war. Er öffnete die eingedellte Fahrertür von außen, schlug sie ins Schloss zurück und kam ins Haus. Er setzte sich und unterrichtete den Superintendenten, dass er einen Patienten, der nach einer Schädelverletzung noch im Koma liege, mit nach Windhoek zu nehmen habe. Eine Schwester sollte den Patienten auf der Fahrt begleiten. Dr. Witthuhn schrieb die besondere Dringlichkeit der Fahrt auf ein Blatt seines Rezeptblockes. Die großen Schriftzüge füllten mit zwei Sätzen das ganze Blatt. Der Fahrer erwähnte, dass die Fahrzeuge in einem schlechten Zustand seien; von den drei Ambulanzen war nur eine noch einsatzfähig. Er wies mit dem rechten Zeigefinger auf das ramponierte Fahrzeug, das besser verschrottet als gefahren werden sollte. Die anderen lagen mit gebrochenen Achsen, Motorschäden oder als komplette Unfallwracks seit Monaten gebrauchsunfähig auf dem verödeten Parkgelände hinter dem Hospital herum. Neue Fahrzeuge mussten dringend beschafft werden, das war auch der „Administration for Ovambos“ in Ondangwa seit über einem Jahr bekannt. „Warum reagieren die nicht? Sind die taub?“, fragte der Fahrer. Dr. Witthuhn versprach, dieses Problem mit dem „Sekretaris“ zu besprechen und entließ den Fahrer mit dem erforderlichen Dokument. Dr. Ferdinand konnte nur einzelne Worte der in Afrikaans geführten Unterredung verstehen, deshalb bat er Dr. Witthuhn, ihm das noch einmal auf Deutsch zu sagen. In diesem Moment knallte der Fahrer die Wagentür zu und versuchte den Motor zu starten, was ihm beim sechsten Versuch gelang. Er ließ den Motor aufheulen, das Fahrzeug setzte sich in Bewegung, drehte auf der Straße und hinterließ eine schwarze Wolke. Dr. Ferdinand machte sich bei der Übersetzung Notizen auf einem Blatt, die er dann Wort für Wort im Wörterbuch nachschlug, um sein Afrikaans zu verbessern. „Die Hochzeit des Figaro“, die erfreulich und musikalisch immer wieder erstaunlich mit einem Happy End endete, war längst vorüber, als Wolken aufzogen, die, wenn man von den politischen Wolken einmal absah, nach Wochen der unerträglichen Hitze von den Menschen der verschiedenen Hautfarben gleichermaßen herbeigesehnt wurden.

      Eine Rundfahrt durchs Dorf stand auf dem Nachmittagsprogramm, um zu sehen, wo die Granaten in der vergangenen Nacht eingeschlagen waren und was sie angerichtet hatten. Als Dr. Ferdinand zum Außentor ging, sah er, wie der Kollegenfreund und Gönner bei laufendem Motor im Rückspiegel sein Gesicht betrachtete und die Haare mit Sorgfalt kämmte. Das breite Einfahrtstor war geöffnet, und Dr. Ferdinand wartete vor dem rechten Torpfosten auf das Zurücksetzen des Wagens, das erst erfolgte, als der Freund mit Form und Aussehen seines Kopfes und der Anordnung des schwarzen, zurückgekämmten, von grau melierten Strähnen des mittleren Alters durchzogenen, leicht gewellten Haares einverstanden war. Eine dünne kurze Locke hatte dabei schräg über die rechte Stirnseite zu fallen. Die zweite Kopf- und Haarinspektion erfolgte, nachdem er den Wagen aus der Einfahrt heraus auf die Straße zurückgesetzt hatte und auf Dr. Ferdinand wartete, der das Tor zurückschob und den Riegel ins Schloss fallen ließ. Der Wagen unterschied sich von den vorbeifahrenden und in Einfahrten abgestellten Autos weniger durch sein deutsches Markenzeichen, als vielmehr dadurch, dass eine Wagenwäsche seit Langem überfällig war. Dr. Witthuhn stellte das Radio ein, dessen Sender auf Afrikaans gesungene Lieder brachte, deren Vortrag, weil Dr. Ferdinand der Text weitgehend verborgen blieb, ihm wie eine Mischung aus Kirche, Cape und Nederburg vorkam. Der Wagen rollte sonntäglich im Prozessionstempo durchs Dorf, wobei der Fahrer den Schalthebel im zweiten Gang beließ, das Gaspedal leicht antippte und die laufenden Zylinder bis in den unteren Drehzahlbereich hineinwürgte. Sie fuhren in Richtung „Military camp“ und fanden in der Tat zwei riesige Trichter unweit vom Camp mit abgeschlagenen Bäumen in der nächsten Umgebung. Die Zugangsstraße zum Camp war gesperrt, da eine dritte Granate diese mit einem so großen Trichter durchbohrt hatte, dass der Wagen in großem Abstand davon abgestellt werden musste. Sie stiegen aus, um sich den Trichter aus nächster Nähe anzusehen, was ihnen von den Militärs jedoch nicht gestattet wurde. Ein paar uniformierte Männer stiegen in den Trichter herab und suchten nach der Granate. Andere Soldaten kamen aus dem Trichter mit Metallstücken heraus, die offensichtlich Teile der Granate waren. Ein Offizier im Range eines Majors kam auf Dr. Witthuhn zu, sie kannten einander, und sagte, dass es Granaten sowjetischer Herkunft waren, die eine ungewöhnlich hohe Sprengkraft hatten und aus großer Entfernung abgeschossen wurden. Im weiten Umkreis um den Trichter schlugen Soldaten Eisenstäbe in den Boden und verbanden sie am oberen Ende und in Stabmitte mit roten Bändern. Militärfahrzeuge fuhren in weiten Bögen um den Trichter herum. Die Fensterscheiben an den zugewandten Seiten der anliegenden Baracken waren zerschmettert, und die Jüngsten der Wehrdienstleistenden harkten die Scherben zusammen und schaufelten das Bruchglas in große, eiserne Tonnen. Der Major sagte, dass erfreulicherweise keiner der Soldaten ernsthaft verletzt worden war. Einige von ihnen hätten lediglich Schnittwunden erlitten, und die seien hier mit Verbänden versorgt worden, während drei mit Gesichtsverletzungen ins Militärlazarett nach Ondangwa gebracht worden sind. Auf die Frage, wo denn die übrigen Granaten eingeschlagen seien, machte der Major eine Skizze auf einem abgerissenen Stück Papier und beschrieb die Einschusstrichter am gegenüberliegenden Dorfende, wobei ein Geschoss das Postamt, das in unmittelbarer Nähe hinter dem Hospital lag, nur um wenige hundert Meter verfehlt hatte. Er erläuterte anhand der Skizze die Abschussstrategie, indem er die gekreuzten Punkte, wovon jeder einen Einschuss markierte, mit einem durchgezogenen Strich verband, der fast einer Geraden gleichkam, wobei die Außenpunkte an den Dorfenden die ersten Einschüsse und die Innenpunkte zum Dorfzentrum hin die letzten gewesen waren. Wo der siebente Einschuss war, denn sie hatten insgesamt sieben Explosionen gezählt, konnte der Major allerdings nicht auf dem Papier markieren, seiner Schätzung nach war dieses Geschoss mehr nord- oder nordwestwärts niedergegangen. Dr. Witthuhn, der sich in der Gegend auskannte, drückte seine Befürchtung aus, dass die siebente Granate entweder die „Lokasie“, wie die Weißen das Wohngebiet der Schwarzen nannten, getroffen hatte oder in der Nähe der katholischen Mission in Okatana eingeschlagen war. Die Befürchtung wurde vom Major dahingehend entkräftet, dass drei „Casspirs“, jene dickbestahlten und dickbereiften Kolosse, mit aufgesessener Mannschaft das Missionsgelände abgesucht und nichts Auffälliges gefunden hätten, durch die „Lokasie“ waren sie nicht gefahren. Damit wurde Dr. Witthuhns Befürchtung nur zum Teil entkräftet. Die Doktoren dankten dem Major für die ballistische Unterweisung und gingen zum Auto zurück. Auf dem Wege zum Postamt kamen sie an dem Haus vorbei, wo die Druckwelle das Dach abgehoben hatte, das in der Mitte geknickt mit aufgebogenen Rändern wie eine umgekippte Wanne an der nächsten Hauswand lehnte und dort alle Fenster verstellt hatte. Eine Dachkante zog sich an der Hauswand hoch und hatte sich zur Trompete eingerollt, die zum Himmel blies. Sie kamen am Postamt an. Da lagen die Glasscherben über den ganzen Vorplatz verstreut zwischen Gesteinsbrocken unterschiedlicher Größe. Alle Fenster an der Längsseite des Gebäudes waren zertrümmert. Die Wucht des Aufschlags hatte in etwa dreihundert Meter Entfernung zwischen Postamt und dem zweiten Wasserturm einen Krater von fünf Meter Durchmesser und drei Meter Tiefe gebohrt. Durch die enorme Explosion waren Steine und Betonstücke geschossartig gegen die Mauern des Postamts geprallt und hatten tiefe Kerben in die Schmalseite des Gebäudes gerissen. Die Straße vom Postamt bis zum Ortsausgang war mit Gesteinstrümmern übersät. Von hier war die Kontrollstation nur zweihundert Meter entfernt, an der die Wachhabenden an der Sperrschranke die Fahrzeuge anhielten und nach dem Ausweis oder Passierschein verlangten, der dem Fahrer bescheinigte, dass er im Dorf wohnte und ihn berechtigte, das Wohngebiet der Weißen zu betreten. Dr. Ferdinand war bestürzt über das Ausmaß der Verwüstung. Er schwieg, da ihm die Worte fehlten, das Bild des Grauens zu beschreiben, obwohl er aus seiner Kindheit Bilder eines Grauens viel größeren Ausmaßes in Erinnerung hatte.

      Die Farbe seines Gesichts bezeichnete Dr. Witthuhn später als blass. In der Sorge, dass die siebente Granate in der „Lokasie“ eingeschlagen hatte, fuhren sie mit dem Auto weiter. Dr. Witthuhn steuerte es durch ein Trümmermeer von Steinen und Betonbrocken zum Ortsausgang und konnte nach dem Vorzeigen des Ausweises die gehobene Schranke passieren. An der T-Kreuzung mit der strategisch wichtigen, geteerten Verbindungsstraße, die Ruacana im Westen mit Tsumeb im Osten über eine Länge von vierhundertsechzig Kilometern verband, bog er nach links in Richtung Oshikuku und drückte den Fuß aufs Gaspedal. Er wollte die Siedlung der Schwarzen vor Sonnenuntergang durchfahren, wollte wissen, ob hier die Granate eingeschlagen war. Nach einem Kilometer bog er von der Teerstraße nach links ab und fuhr langsam über die engen, von Schlaglöchern durchsetzten Sandstraßen,