Helmut Lauschke

Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens


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Er tat dies so unvermittelt und geradeaus, dass der Eindruck einer morgendlichen Indisposition nicht so einfach wie der Staub vom übergroßen Schreibtisch wegzuwischen war. Von einer Bierfahne war dank der Umwälzung der abgestandenen, muffigen Luft vom letzten Freitagnachmittag durch die quietschende, kleinformatige Klimaanlage über dem Fenster nichts zu riechen, was selbst Dr. Witthuhn bemerkt haben musste, der sich bemühte, Nüchternheit vorzutäuschen und dabei Dr. Ferdinand, der es besser wusste, spitzbübisch ins Gesicht lächelte. Der Raum hatte sich gefüllt; Dr. Nestor betrat ihn verspätet mit gesenktem Gesicht, das als Geste der Entschuldigung gewertet wurde. Doch haftete seinen Augen etwas Melancholisches an, als hätte ihn eine tiefgründige Angst erfasst. Dr. Teopolina kam noch später und trat als Letzte ein. Sie setzte sich mit einer deplatzierten Gleichgültigkeit im Gesicht auf einen Stuhl, als fände sie ihr Zuspätkommen in Ordnung. Das Vorbringen einer Entschuldigung untersagte sie sich mit falschem Stolz, was am ehesten einer Respektlosigkeit entsprach. Das Überziehen von Selbstverständnis und Selbstverständlichkeit war ihr eigen und sollte ihrem Auftreten all die Jahre anhaften, was schließlich in permanents Nichterscheinen übergehen sollte. Dieses Verhalten der Eigensinnigkeit kam keinem zugute, weder ihr, noch Dr. Ruth und den Kollegen, noch den Patienten, um die es an erster Stelle ging. Dr. Ferdinand hielt bei der Morgenbesprechung an seinem Platz fest, der neben dem schwarzen Kollegen und der schwarzen Kollegin mit Blick auf die Fensterfront mit den uniformierten Jungärzten war, die sich die kühle Brise aus der Klimaanlage gefallen ließen, welche ihre Wirkung bis zur fensterlosen Seite verlor. Dr. Hutman und einige andere hatten das rechte Bein über das linke geschlagen, als fänden sie mit überkreuzten Beinen mehr Sicherheit. Dr. van der Merwe saß anders. Er hielt die Beine nebeneinander und hatte einen Schreibblock auf die Schenkel gelegt, in den er seine Notizen schrieb. Dr. Ferdinand betrachtete die uniformierte Reihe genauer und war überrascht, als er feststellte, dass es Offiziere im Leutnantsrang gab, die ihm mit der Unschuld des naiven Kindergesichts entgegenblickten. Dabei fiel ihm zum ersten Mal die Burenphysiognomie mit den häufig abstehenden Ohren und den breiten Nasenrücken auf, die eigentlich nicht den europäischen Normen entsprach. Selbst das Gesicht des Dr. Hutman trug noch kindliche Attribute. Das einzige erwachsene Gesicht unter den Uniformierten war das von Dr. van der Merwe. Und es war ein ernstes Gesicht, weil er offenbar mit seinen Gedanken weiter war als seine uniformierten Kollegen. Die jungen Leutnants und Ärzte unter der Klimaanlage rückten ihre Stühle weiter nach vorn, um vom tropfenden Kühlwasser verschont zu bleiben, das weder auf ihre Köpfe, noch auf ihre Uniformen und erst recht nicht auf die Leutnantsepauletten tropfen durfte. Die Apothekerin und die beiden Matronen hatten an der weiter zurückliegenden, ebenfalls fensterlosen Schmalseite des Raumes ihre Plätze eingenommen und sahen dem nachdenklichen Superintendenten, der gerade den Telefonhörer nach einem längeren Gespräch auflegte, geradeaus ins Gesicht.

      Es ging zur Sache. Die Diensthabenden vom Wochenende berichteten über Patienten, die aufgenommen wurden, über den Stand der Diagnostik und die durchgeführte Behandlung. So berichtete Dr. van der Merwe über drei Operationen an Patienten, die als Notfälle eingewiesen wurden, zwei von Onandjokwe und eine Frau von Oshikuku. Die ältere Frau kam mit einer feuchten Gangrän des rechten Vorfußes, der Unterschenkel musste amputiert werden; von den beiden Männern wurde bei einem nach einer Schussverletzung die rechte Hand versorgt, wobei der Mittel- und Ringfinger abgesetzt werden mussten, bei dem anderen wurde eine klaffende, tief gehende Schnittwunde an der Außenseite des linken Oberschenkels nach Panga-Verletzung mit Ausschneidung und Unterbindung der blutenden Arterie genäht. Ambulant gab es drei Einrenkungen des Handgelenks in lokaler Anästhesie des Bruchspaltes nach gelenknahen Speichenbrüchen, die mit einer Unterarmgipsschiene ruhig gestellt wurden. Dr. Hutman berichtete von zwei Notlaparotomien: ein perforierter Appendix mit großer Eiteransammlung in der Bauchhöhle und ein perforiertes Magengeschwür vor dem Pylorus, das er durch Naht verschlossen und mit einem Netzzipfel gedeckt hatte. Klar und eindrucksvoll hatten bei dem letzteren, etwa fünfundvierzig Jahre alten Patienten die klinischen Symptome mit Druckschmerz unterhalb des Schwertfortsatzes des Brustbeins auf das Magengeschwür hingewiesen und das Röntgenbild durch Luftsicheln unter den Zwerchfellen die Perforation bestätigt. Der betreuende Kollege von der Kinderstation erwähnte zwölf Aufnahmen, von denen die meisten mit durchfallartigen Magen-Darm-Erkrankungen, drei mit zerebraler Malaria und zwei mit Stridor bei Atemwegsinfektionen eingewiesen wurden. Dr. Ruth berichtete für die Frauenstationen von zwölf Entbindungen und vier Kaiserschnitten. Relativ ruhig war es in den Sälen der inneren Medizin; hier berichtete Dr. Nestor von drei Patienten mit Bluthochdruck, einem sechzigjährigen Mann nach Schlaganfall mit Lähmung der rechten Körperseite, zwei Patienten mit Malaria und einem Patienten mit aktiver Tuberkulose. Die Matronen beklagten, dass weder Medikamente gegen Malaria noch zur Tuberkulosebehandlung in der Apotheke seien. Die Apothekerin beteuerte ihre Unschuld und trug zu ihrer Entlastung vor, dass sie die Medikamente vor mehr als zwei Wochen vom Zentrallager in Windhoek angefordert hatte, doch war der „Truck“ nicht eingetroffen, weil er wegen eines Achsenbruches noch in der Werkstatt sei.

      Der Rest der Besprechung brachte altbekannte Themen auf, die bereits von allen Seiten beleuchtet wurden. Das erste Problem wurde von einer Matrone vorgetragen und war der ekelhafte Uringestank des Vorplatzes. Dabei stand ihr die andere Matrone nach Kräften bei und grimassierte, um ihren Ekel sichtbar zu machen, derart entsetzlich, dass alle Teilnehmer, der Superintendent eingeschlossen, auflachten und die Pantomime, die einen sicheren Platz im Gedächtnis verdient hatte, mit witzigen Bemerkungen ergänzten, wie: „Ein Pissoir von solchem Gestank kann doch nur eines sein, das die Veteranen zurückgelassen haben.“ Aus dem Munde von Dr. van der Merwe kam wie ein bedingter Reflex: „Das hält doch keine Sau aus, die gut erzogen ist.“ Alle klatschten der Pantomime ihren Beifall. Der Superintendent versuchte das Thema zu beenden, als er sagte, dass es am Wasserschlauch von der nötigen Länge fehlte, um den Vorplatz urinfrei zu spritzen. Er hätte die Order für den Wasserschlauch vor Monaten unterschrieben und durch einen Fahrer dem zuständigen Mann in Ondangwa vorgelegt, aber der hätte bis jetzt nicht reagiert, worauf Dr. van der Merwe bemerkte, dass die Leute dort wahrscheinlich genügend Toiletten mit guter Spülung hätten und noch beim Rätselraten seien. Dr. Ferdinand versuchte dem Kollegenfreund Schützenhilfe zu geben und meinte, dass die Mühlen der Administration wohl besonders langsam mahlten, was ein schmunzelndes Echo fand. Das zweite Thema, das nach den Verdauungsregeln der Wiederkäuer von Dr. Hutman mit wichtiger Miene angesprochen wurde, waren die miserablen Zustände in den chirurgischen Sälen, wo die Schwestern die ärztlichen Anordnungen nicht befolgten, nicht zur rechten Zeit die Verbände wechselten und die Medikamente austeilten, mit der Folge, dass die Wundinfektionen weiter zugenommen hätten, und wo leer gelaufene Infusionsbeutel so lange an den Tropfständern herumhingen, dass die venösen Zugänge blockiert waren. Er zählte die verschmierten und zerbrochenen Fenster auf, die verstopften und stinkenden Toiletten, die herausgebrochenen Toilettenschüsseln in beiden Sälen, die Eingangstüren, die nicht schlossen, weil Schlösser mit Klinken herausgerissen waren, den völlig verschmutzten Waschraum mit Wasserhähnen, die sich nicht aufdrehen oder schließen ließen, die aufgerissenen Schaumgummimatratzen und schließlich die permanente Überbelegung unter den geschilderten Umständen. Die Darstellung altbekannter Probleme löste dennoch bei allen eine spürbare Nachdenklichkeit aus. Dr. Ferdinand dachte sich, dass ein solches Krankenhaus den Grundregeln der Hygiene so eklatant widerspricht, dass es geschlossen werden müsste. Doch das war Theorie nach europäischen Maßstäben, und er war schließlich in Afrika, wo die Praxis von den dringendsten Notwendigkeiten bestimmt wurde, von den Leiden und Nöten der hiesigen Bevölkerung in einem Gebiet des Krieges, dessen Ende überhaupt nicht abzusehen war. Für die Menschen war dieses Krankenhaus unverzichtbar. Dr. Witthuhn musste einräumen, dass diese Missstände eine lange Vorgeschichte hätten und nicht von heute auf morgen behoben werden könnten. Die weiße Hauptmatrone versicherte, dass die Schwestern trotz permanenter Überlastung ihr Bestes täten, um den Anforderungen gerecht zu werden. Die Ärzte sollten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Aufsicht und Pflege der Patienten unter diesen Bedingungen, die auch für sie zum Himmel schrien, eine physisch wie psychisch schwere Belastung darstellten. Jeder, Ärzte wie Schwestern, müsste einen Beitrag leisten, der über die Grenzen der bloßen Routine hinauszugehen hatte. Sie fuhr fort: „Behalten Sie ständig im Auge, was sie draußen sehen, wenn Sie die Massen Hilfe suchender Menschen, die zum Hospital kommen oder gefahren werden, schon am frühen Morgen auf dem Vorplatz antreffen. Wir alle haben uns bis an die Grenze des physisch Möglichen zu fordern, um diesen Menschen