Ursula Reinhold

Gemütlichkeit


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      Ursula Reinhold

      Gemütlichkeit

      Erinnerungen an eine Kindheit

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Herkommen

       Frühe Eindrücke

       Tages- und Nachtangriffe

       Stadt- und Landausflüge

       "Die Russen kommen"

       "Feindberührung"

       Vom Organisieren und Verteilen

       Auf dem Schulweg

       Weihnachten 1946

       Viehzeug

       Heinerle kehrt heim

       Doris und ich

       Badefreuden

       Wie bekommen wir nur dieses Geld

       Meine Mutter als Bauherrin

       Stiftungsfest

       Familientreffen

       Neue Horizonte

       Hohe Schule oder wohin mit mir

       Verschiedene Stadtansichten

       Alte Freundinnen, neue Freundinnen

       Liebe oder so ähnlich

       Späte Referenz an einen Lehrer

       Abiturjahrgang 1956

       Impressum neobooks

      Herkommen

      1938, zwölf Jahre nach meinem Bruder kam ich auf die Welt. Zu dieser Zeit war die Lage meiner Eltern so, dass sie sich ein zweites Kind leisten wollten. Mein Vater hatte seit 1934 Arbeit, seit 1935 baute er als gelernter Klempner in den Henschel-Werken in Schönefeld an Flugzeugen. Die Wohnlaube auf der Kolonie "Gemütlichkeit" im Südosten Berlins war leidlich winterfest. Wohnzimmerschrank, Schlaguhr, Kachelofen machten die um 1925 als Sommerlaube gebaute Behausung beinahe behaglich. Nach meinem Bruder, der nicht unbedingt gewollt zur Welt gekommen war, hatte meine Mutter mehrere Abtreibungen, was für sie ziemlich schlimm gewesen sein muss. Meist musste sie sich selber helfen, wenn kein Geld da war. Der Arzt, den sie aufsuchte deshalb, sagte ihr, dass sie erster, zweiter oder dritter Klasse fahren könne. Er war Jude, in Neukölln ansässig. Aber meine Eltern wurden deshalb keineswegs Antisemiten. Sie hatten damals schon ihre Überzeugungen. Hitler hatte die Abtreiberei entschiedener noch unter Strafe gestellt. Es gab nicht einmal mehr einen Arzt, bei dem man dritter Klasse fahren konnte. Für den bevorstehenden Krieg wurden Soldaten und Heldenmütter gebraucht.

      So war ich also willkommen. Für meine Eltern, nicht mehr ganz jung, eine durchdringende Freude! Sie hatten nichts Besonderes vor mit mir, ließen mich einfach wachsen. Meine Mutter wollte mich zwar zu Fleiß, Ordnung, Ehrlichkeit und Sparsamkeit erziehen, aber das stellte sich erst etwas später heraus. Sie hatte da schon ihre Ziele. Mein Vater dagegen wollte nicht gestört sein, wenn er las. Er verbot mir wenig, kontrollierte mich kaum, bewunderte meine körperliche Geschicklichkeit und strafte nur in seltenen Fällen. Aber dann ungerecht. Es hatte gar nichts mit mir zu tun. Er war Choleriker. Das war ein Erbteil seiner Mutter, die polnische Vorfahren hatte und aus dem Oberschlesischen kam. So wie ihre Mutter schon, war auch sie eine Dienstmagd. Die Mitteilungen meines Vaters darüber waren spärlich. Er wusste nichts Genaues über ihr Herkommen, weil die Mutter nicht viel darüber sprach. Vielleicht gab es auch keine Gelegenheit mehr, denn mein Vater sah sie nach der eigenen Familiengründung nur selten.

      Die Großmutter muss sich einfach unmöglich aufgeführt haben, als mein Vater mit 26 Jahren meine Mutter geschwängert hatte. Vorehelich, wie es ihr selbst auch passiert war, in der Zeit, als sie in Berlin als Dienstmagd arbeitete. Hier hatte sie meinen Großvater kennengelernt, einen Klempner, wie später mein Vater. Er kam aus einer Hugenottenfamilie, die seit Generationen in der Altmark ansässig war. In Stendal besuchte er eine Mittelschule, für die er eine Freistelle bekommen hatte. Dann kam aber doch nur eine Klempnerlehre infrage. Mit einer Anstellung bei den Gaswerken in Rixdorf muss er für meine Großmutter als eine gute Partie gegolten haben, kurz vor der Jahrhundertwende. Er hat dort gearbeitet, als der Kaiser abdanken musste, als die Weimarer Republik in die Brüche ging und als es mit Hitler vorbei war, auch noch. Bis 1950, dann bekam er eine ansehnliche Pension. Ich glaube, er war dort unkündbar.

      Um meinen Vater zu entbinden, fuhr meine Großmutter im November 1899 zurück ins Oberschlesische, wo sie Anhang hatte, wen weiß ich nicht. Überhaupt weiß ich wenig von ihr. In einem Medaillon, einer handwerklichen Arbeit meines Großvaters, gibt es ein Jugendbild von ihr. Das habe ich oft betrachtet. Mit einem aufgezwirbelten, wilden, schwarzen Haarschopf sieht man sie dort, darunter ein schmales, ebenmäßiges Gesicht, in dem etwas dicke, sinnliche Lippen auffallen. Weil ich aus den Erzählungen meines Vaters entnommen habe, dass sie jähzornig, wild und unberechenbar war, fand ich, dass man ihr solches Temperament ansah auf dem Foto. Dann gibt es noch ein zweites Bild, auf dem sie, schon eine alte Frau, vor einem Vogelkäfig am Fenster sitzt. Die wenigen Male, die ich sie sah, verschmelzen in meiner Erinnerung mit diesem Foto. Immer sitzt sie vor diesem Vogelkäfig. Ansonsten ist mir nur das überliefert, was mein Vater erzählte und was meine Mutter beisteuern konnte.

      Die Schwiegermutter hatte meine Mutter mit Stinkbomben verfolgt, als sie von meinem Vater ein Kind erwartete. Das klingt übertrieben, soll aber wirklich so gewesen sein. Sie war der Meinung, dass sie meinem Vater nicht umsonst eine Klempnerlehre ermöglicht haben konnte. Sie wollte, dass er zurückzahlte. Nicht nur Kostgeld, sondern überhaupt. Er war der Älteste von vier Kindern, die in großen Abständen geboren worden waren. Das Letzte kam zwanzig Jahre nach dem Ersten zur Welt. Wahrscheinlich war man in dieser Ehe nur in großen Abständen zusammengekommen. Das kommt manchmal bei einer guten