Ursula Reinhold

Gemütlichkeit


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Schwesternheim unter. Dort lernten Hebammen an ihr das Entbinden, und sie musste sauber machen und konnte unentgeltlich ihr Kind zur Welt bringen. Sie war's zufrieden. Es hätte schlimmer kommen können. Nachdem mein Bruder ein viertel Jahr alt war, musste sie dort weg, sie wohnte wieder in der Kellerwohnung. Karl, der Vater ihres Kindes war inzwischen wiedergekommen. Er hatte ihr vorher einen Brief geschrieben, in dem er eine Zeile aus einer damals bekannten Operette zitierte. Da ist von den Schwalben die Rede, die sich ein Nest bauen wollen. Ich habe diesen Brief später entdeckt und mir so meinen Vers darauf gemacht. Aus dem Ruhrgebiet war er zurückgekehrt, weil es auch dort nur Aushilfsarbeit gab. Außerdem gab es Wanzen, die er von dem Schlafburschen übernommen hatte, der das gleiche Bett benutzte, wenn Karl seine Schicht machte. Die Arbeit, wenn es sie gab, war schwer und die Arbeiter ohne Klassenbewusstsein. Da kam mein Vater lieber zurück in die Reichshauptstadt. Hier bekam er sogar vorübergehend Arbeit, bis 1928 etwa. Dann war Schluss, dann gab' s nur noch den Nachweis, wie die Berliner damals die Arbeitsämter nannten. Mein Vater musste immer zum Arbeitsamt an der Sonnenallee, wo er stempeln ging, um seine Arbeitslosenunterstützung zu bekommen. 14 Reichsmark bekam er für die Woche. Damit musste gewirtschaftet werden. Wie kann ich nicht so leicht sagen. Aber es gehörte zu den Kunstfertigkeiten meiner Mutter, das zu können. Sie hat einen großen Teil ihrer Energie darauf konzentriert, das zu erlernen. Darüber verging ihr das Leben.

      Ohne Geld bekam man auch keine Wohnung. So ging es meinen Eltern. Bei einem Spaziergang am Britzer Zweigkanal, an dem damals noch die Treidelbahnen die Lastkähne entlang zogen, entdeckten sie an einem Alleebaum einen Anschlagzettel, auf dem ein gewisser Bartoldi eine Laube zum Verkauf anbot. Sie befand sich auf der Kolonie "Gemütlichkeit'', nahe dem Vereinsheim und dem Spielplatz. Hiermit nun ist der zentrale Schauplatz meiner kindlichen Welt genannt. Das Universum meines damaligen Lebens. Bis 1959 blieb die Familie hier wohnen, dann bekamen die Eltern die erste Wohnung ihres Lebens. Damals, 1927, war an mich noch nicht zu denken, und ich kann mich nicht auf die eigene Erinnerung, sondern nur auf die familiäre Überlieferung stützen. Ich schöpfe aus dem Fundus von Geschichten, die in meiner Familie erzählt wurden. Inwieweit sie zutreffen, kann ich nicht entscheiden. Da meine Eltern glaubwürdige Leute waren, die es strikt mit der Wahrheit hielten, nehme ich an, dass alles so war, wie es erzählt wurde.

      1927, als meine Eltern die Laube kauften, war schon mein Bruder da. Sie hatten 650,-- RM zu bezahlen, die hatte ihnen der Vater meiner Mutter vorgeschossen. Das war viel Geld und auch für ihn nicht leicht aufzubringen. Sie vereinbarten einen Rückzahlungsmodus, aber er erlebte die letzte Ratenzahlung nicht mehr. Bei dem Kauf hatten sie großes Glück, denn üblicherweise wurden die Lauben und Parzellen nur durch den Vorstand vergeben. Und die wussten, wen sie haben wollten und wen nicht. Es waren Bedingungen zu erfüllen. "Gemütlichkeit“ war in der Hand von SPD-Leuten, die sich der Idee von Dr. Schreber verpflichtet fühlten. Das Vereinsleben war strikt geregelt, die Art und Weise, wie die kleine Parzelle von 200 m² zu bebauen war, vorgegeben. Zwar unterlag die Entscheidung, welche Blumen gepflanzt wurden, dem individuellen Geschmack, aber dass nicht nur Blumen, sondern Bäume, Sträucher, Gemüse und anderes Nützliche in den Garten gehörte, war unzweifelhaft. Es gab Verpflichtungen innerhalb des Vereins. Jeder musste sich an den gemeinschaftlichen Arbeiten beteiligen. Einige schwarze Schafe, die zu viel Ziersträucher hatten und den Wildwuchs nicht durch regelmäßigen Schnitt regulierten, wurden auf den Versammlungen öffentlich gerügt. Der Vorgänger war wohl ein solches schwarzes Schaf. Er hatte sich nicht in die geltenden Normen gefügt, sich nicht den Verkaufsregeln des Vereinsvorstandes unterworfen. Daher die Annonce und ein eigener Preis, der ziemlich hoch war.

      So also kamen meine Eltern zu ihrem Nest. Es lag an einer historisch interessanten Nahtstelle, wie sich später herausstellte. Nordöstlich ist das Gebiet vom Britzer Zweigkanal begrenzt, einem verbreiterten Flüsschen, das in Baumschulenweg in der Höhe der Köpenicker Landstraße die Spree verlässt, von mehreren Brücken überquert, an der Britzer Grenzallee mit dem Teltowkanal zusammenfließt und dort einen Industriehafen bildet. Mit dem Teltowkanal zusammen verkürzt das Flüsschen den Schifffahrtsweg durch Berlin zwischen Spree/Dame im Südosten und Havel im Westen erheblich.

      Dieser Britzer Zweigkanal wurde der Mississippi meiner Kindheit, mit dem sich viele Abenteuer verbinden.

      Der Zufall, der meine Eltern in den Besitz einer Laube gebracht hatte, erwies sich als historisch folgenreich. Erstmals wurde ein erklärter Kritiker der Sozialdemokraten auf ''Gemütlichkeit“ ansässig. 1925 war Paul von Hindenburg an die Stelle des verstorbenen sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert getreten. Auch die Phase der großen Koalitionen mit bürgerlichen Regierungsvertretern hatten die Sozialdemokraten bereits hinter sich. Im Gegensatz dazu bestimmten sie auf "Gemütlichkeit” noch, was zu geschehen hatte. Die regierende Prominenz dort war erbost über das Ei, das ihnen Herr Bartoldi, der nur kurz zu ihrer Vereinsgemeinschaft gehörte, gelegt hatte. Denn mein Vater war Fichte-Sportler, stand der KPD nahe, war in der Kommunistischen Partei Opposition. Jedenfalls war er politisch recht radikal und hatte vor allem eine völlig andere Vorstellung vom Garten. Er gedachte ihn auf seine Art zu nutzen. Oder gar nicht. Das entspräche ihm noch besser. Er sonnte sich an seinen langen Arbeitslosentagen, spielte Schach mit seinen Freunden, die, auch arbeitslos, von Neukölln aus kamen, politisierte mit ihnen und las. Und das erstaunlich viel. Von diesen Büchern machte auch ich später Gebrauch. Dass er viel gelesen hat, besagt auch die Erinnerung an ihn aus meinen Kindertagen. Mein Bruder muss das auch schon so erlebt haben. Er las Balzac und Dostojewski, Tolstoi und Swift, Panait Istrati und Rolland, Barbusse und Gorki, Pilnjak und Scholochow, Nietzsche und Bakunin, Lenin und Bucharin. Er las Bücher aus der Büchergilde Gutenberg, aus dem Arbeiterverlag Wien und vom Malik-Verlag, später aus der Reihe „Der rote 1-Mark-Roman“. So war mein Vater ein leibhaftiges Beispiel der kulturellen Arbeiteremanzipation. Seine politischen Vorstellungen radikalisierten sich in der Weltwirtschaftskrise. Ernst Busch und Erich Weinert drückten die Stimmung meines Vaters in dieser Zeit aus. Tucholsky und Ossietzky waren ihm schon zu bürgerlich. Obwohl er die "Weltbühne'' immer gelesen hat. Auch nach 1945. Vollständige Jahrgänge von 1945 bis 1948 finden sich im Familiennachlass. Vieles sahen seine Vereinskollegen in "Gemütlichkeit” Ende der zwanziger Jahre vielleicht gar nicht so anders. Denn sie machten die gleichen Erfahrungen, waren auch arbeitslos. Dennoch begegneten sich die Sozis und die Kommunisten mit strengem Vorbehalt. Die Sozis hatten die Vereinsgewalt und tadelten meinen Vater wegen seiner ungeschnittenen Hecken. Auch ließ er es zu, dass ein Freund von ihm ein Paddelboot auf der Parzelle abstellte. Die Gärten waren so winzig, dass aber auch gar nichts verborgen blieb. "Der will wohl einen Fichte-Sportverein hier aufmachen”, hieß es dann. Mein Vater tat nicht, was erwartet wurde: den Garten ordentlich zu bebauen und am Wochenende auf ein Bier in die Vereinslaube zu kommen, um mit den Kollegen zu klönen.

      Also mein Vater, als Choleriker und Kommunist, war ein ziemlicher Einzelgänger auf "Gemütlichkeit". Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass er das wie eine Fahne vor sich her trug. Das würde nicht zu ihm passen. Den Choleriker merkte man ohnehin erst bei längerem Umgang mit ihm. Im Allgemeinen war er freundlich und witzig. Und Kommunist, das wollte er erst werden. So hat er das jedenfalls später immer gesagt. Vielleicht aus Protest. Ich habe früh mitbekommen, dass es nicht so einfach war zwischen meinen Eltern und den Leuten dort.

      Zu der Zeit, als meine Eltern die Laube kauften, war ein Mann namens Pascheka Vereinsvorsitzender. Freidenker seit vor dem Weltkrieg, SPD-Genosse und Großvater meiner Freundin Doris, die ihn aber nicht mehr kennengelernt hat. Richard Pascheka war der Mann, der die Tadel gegen meinen Vater öffentlich aussprach. Das gefiel meinem Vater verständlicherweise nicht, und er war wütend auf diesen Mann. Dass der aber auch vor seinen eigenen SPD-Genossen nicht haltmachte, beeindruckte meinen Vater, und er behielt ihn auch in späteren Zeiten achtungsvoll in Erinnerung. Eine gewisse Ordnung hielt auch er für nötig, aber sie widersprach seinem Temperament. Den bestehenden Zustand hielt mein Vater sowieso für provisorisch. Das betraf sowohl das Wohnen in der Laube als auch die Verhältnisse in der Weimarer Republik, die ihn in einen Wartezustand versetzten. Er wartete auf Arbeit. Wie ernst ihm dieses Warten war, weiß ich nicht, denn er bildete keine Ausnahme. Sechs Millionen warteten auch. Die kurzen Arbeitsphasen in seinem Leben bis 1933 verliefen höchst unbefriedigend. Darüber hat er mehrfach berichtet. Einmal meinte der Meister, sich nicht um ausreichend Werkzeuge kümmern zu müssen, sodass sich die Arbeiter morgens um die wenigen Lötkolben schlugen. Das machte mein Vater natürlich